Aus „Alle für Kalle“ wird „Kalle für Alle“

Interview der renitenten Mietervereinigung 08.03.2014 17:37 Themen: Freiräume Soziale Kämpfe
Am 18. März steht Kalle Gerigk in Köln der zweite Zwangsräumungsversuch bevor.
Interview mit Peter Berendt, einem Aktivisten der Kölner Gruppe „Wohnraum für Alle!“
FRAGE: Kalle Gerigk ist weit über Köln hinaus zur Symbolfigur für Widerstand gegen Gentrifizierung geworden. Sein neuer Vermieter, ein Immobilienmakler, hat Eigenbedarf geltend gemacht und die Wohnung im Internet gleichzeitig – saniert – zum Verkauf angeboten. Das hat viele empört. Die Verhinderung der ersten Zwangsräumung im Februar hat ja überregional für ziemlich viel Aufmerksamkeit gesorgt – Glaubt Ihr das am 18. März nochmal „toppen“ zu können ?


Ich denke, da geht’s nicht ums toppen, da geht es um die schlichte Notwendigkeit, Widerstand zu leisten gegen Zwangsräumungen als eine der gewaltförmigsten Auswüchse der weiter voran schreitenden Verdrängungspolitik – Punkt.

Ich weiß nicht ob die Frage in Richtung „Immer erfolgreich sein“ zielt, aber diese Unart, sich nur dann in den Weg zu stellen, wenn mensch kalkulierbar als „Sieger*in“ vom Platz gehen könnte, kann ich überhaupt nicht nachvollziehen. Jede Form von Reibung, jedes Knirschen hilft, diese Politik als unsozial bloßzustellen, zu delegitimieren und an ihrer selbstgerechten Arroganz der vorgeblichen Alternativlosigkeit zu kratzen.

Wir waren natürlich begeistert, dass rund 300 Anwohner*innen und Unterstützer*innen es tatsächlich geschafft haben, den Gerichtsvollzieher samt seinen Amtshelfer*innen mit drei Hundertschaften Bereitschaftspolizei wieder nach Hause zu schicken. Insbesondere Kalle war völlig von den Socken.

Die überraschende Qualität dieses Protests war tatsächlich dessen Breite: das Problem geht einfach (fast) alle an. Deswegen hat z.B. eine ältere Anwohnerin aktiv mitgeholfen – selbst ein Blockadetraining als Trockenübeung war ihr nicht zu blöd. Ihr droht mitunter das gleiche wie Kalle, denn ihre (noch bezahlbare) Miete von 320,- Euro für ihre 27 qm-Wohnung sind alles andere als sicher. Als Zeitungszustellerin hätte sie keine Chance, in Innenstadtnähe zu verbleiben.

Uns ist klar, dass wir für unsere zweite Blockade am 18. März noch mehr Leute benötigen, denn die Polizei bereitet sich auf einen Großeinsatz vor. Aber selbst wenn es Kalle und seinen Unterstüzer*innen nicht noch einmal gelänge, den „Vollzug“ abzuwenden, die gemachten Widerstandserfahrungen sind jede Mühe „wert“. Der Widerstand von Familie Gülbol in Berlin hat trotz erfolgter Zwangsräumung im zweiten Anlauf zu einer richtigen (kleinen) Bewegung gegen diese Praxis geführt und die Stadt sogar zur zeitweoligen Aussetzung von Zwangsräumungen gezwungen.



FRAGE: Ihr kündigt noch vor dem nächsten Räumungsversuch einen Besuch beim SPD-Fraktionschef an – Was erwartet Ihr von solch einem „Gespräch“?


Nichts, was irgendwie nach Hinterzimmer-Deal aussehen könnte! Im Gegenteil, Martin Börschel hatte unmittelbar vor dem ersten Zwangsräumungs­termin versucht, Kalle „moralisch“ unter Druck zu setzen. Er kam persönlich bei Kalle vorbei und hatte öffentlich vorgeschlagen, dass Kalle die Wohnung lieber freiwillg verlassen solle und man dann eine spontane Demonstration gegen Wohnungsnot und Luxussanierungen organisiert. Darauf hat sich Kalle konsequenter Weise nicht eingelassen.

Herr Börschel sollte lieber konkrete Lösungen für das akute Wohnungsproblem zehntausender Menschen in Köln präsentieren, statt dem (Un-)“Recht auf Verwertung des Eigentums" auch noch den Weg zu ebnen. Jetzt rühmt er sich übrigens auf facebook, er habe die Proteste „mitorganisiert“ und eine „gewaltsame Eskalation verhindert“. Nun ja, in digitalen Protest-Welten, wo alle alles lediglich "liken" können, sind natürlich auch nur Erfolge zu verbuchen. Sogar für diejenigen, gegen die sich der Protest u.a. richtet. Das ist wirklich modern, aber reichen wird Herrn Börschel das als Nebelkerze vor den Kommunalwahlen nicht. Die Politik ist sichtlich nervös angesichts des gigantischen Medienechos auf die Protestaktionen gegen die Praxis der Zwangsräumungen.

Wir sehen die Politik in der Verantwortung, denn die setzt immerhin die Rahmenbedingungen für die Verdrängung von Mieter*innen mittleren und niedrigen Einkommens. Der soziale Wohnungsbau liegt bundesweit vollständig brach. 2007 ging die Aufgabe der Wohnraumförderung vom Bund an die Länder über. Doch die nutzten die jährlichen Ausgleichszahlungen nur zu einem verschwindend geringen Teil für den sozialen Wohnungsbau. Vielmehr wurde das Geld in Haushaltslücken bzw. in den Aufbau privater Wohnungsbaugesellschaften gesteckt. Diese haben naturgemäß kein Interesse an Vermietung nach sozialen Gesichtspunkten. Die Kommunen haben ebenfalls große Bestände städtischer Wohnungen verkauft. Hier haben Kommunal- und Landtagspolitiker wie Martin Börschel gleich zweifach versagt.



FRAGE: Ihr habt kurz nach der Verhinderung des ersten Räumungsversuches mitgeteilt, dass ihr Euer Bündnis nun umbenennen solltet in „Kalle für Alle“ - was meint das genau?


Kalle steht eigentlich für immer mehr Menschen in dieser Stadt – das ist übrigens genau seine Motivation, warum er nun auch ein zweites Mal an den Start geht. Motiviert durch Kalles Widerstand melden sich immer mehr Menschen bei der Initiative „Recht auf Stadt“ und der Gruppe „Wohnraum für alle“ in Nachfolge unserer „Sozialen Kampfbaustelle“ vom letzten Herbst:

Mieter*innen, die nach einer Mieterhöhung zwischen Armut und Auszug wählen müssen. Menschen, die durch Abriss, Luxussanierung oder Anmeldung von angeblichem Eigenbedarf aus der Wohnung gedrängt werden. Menschen mit Durchschnittseinkommen, die in der Stadt trotz langem Suchen keine bezahlbare Wohnung finden. Studierende, die nicht zum studieren kommen, weil sie für Wuchermieten arbeiten müssen. Menschen, die keine Chance bekommen, aus der Obdachlosigkeit auszubrechen. Besonders Migrant_innen haben kaum Möglichkeiten, bezahlbaren Wohnraum zu erhalten und sind der Willkür von Miethaien ausgesetzt.

So kann und darf es nicht weitergehen! Und deswegen sind alle aufgerufen, mit uns am 18.März um 7 Uhr eine fette Blockade bei Straßenfest und Frühstücksbuffet auf die Beine zu stellen.
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Ergänzungen

Widerstandsfahrplan - zweiter Räumungsversuch

Alle für Kalle 11.03.2014 - 11:57
Mi 12. März | Besuch bei SPD Farktionschef Martin Börschel
um 16 Uhr | SPD-Zentrale, Magnusstr. 18 b

Martin Börschel hatte unmittelbar vor dem ersten Zwangsräumungs­termin versucht, Kalle „moralisch“ unter Druck zu setzen. Er kam persönlich bei Kalle vorbei und hatte öffentlich vorgeschlagen, dass Kalle die Wohnung lieber freiwillg verlassen solle und man dann eine spontane Demonstration gegen Wohnungsnot und Luxussanierungen organisiert. Darauf hat sich Kalle konsequenter Weise nicht eingelassen.

Herr Börschel sollte lieber konkrete Lösungen für das akute Wohnungsproblem zehntausender Menschen in Köln präsentieren, statt dem (Un-)“Recht auf Verwertung des Eigentums" auch noch den Weg zu ebnen. Jetzt rühmt er sich übrigens auf facebook, er habe die Proteste „mitorganisiert“ und eine „gewaltsame Eskalation verhindert“. Nun ja, in digitalen Protest-Welten, wo alle alles lediglich "liken" können, sind natürlich auch nur Erfolge zu verbuchen. Sogar für diejenigen, gegen die sich der Protest u.a. richtet. Das ist wirklich modern, aber reichen wird Herrn Börschel das als Nebelkerze vor den Kommunalwahlen nicht. Die Politik ist sichtlich nervös angesichts des beträchtlichen Medienechos auf die Protestaktionen gegen Zwangsräumungen.

Wir sehen die Politik in der Verantwortung, denn die setzt immerhin die Rahmenbedingungen für die Verdrängung von Mieter*innen mittleren und niedrigen Einkommens. Der soziale Wohnungsbau liegt bundesweit vollständig brach. 2007 ging die Aufgabe der Wohnraumförderung vom Bund an die Länder über. Doch die nutzten die jährlichen Ausgleichszahlungen nur zu einem verschwindend geringen Teil für den sozialen Wohnungsbau. Vielmehr wurde das Geld in Haushaltslücken bzw. in den Aufbau privater Wohnungsbaugesellschaften gesteckt. Diese haben naturgemäß kein Interesse an Vermietung nach sozialen Gesichtspunkten. Die Kommunen haben ebenfalls große Bestände städtischer Wohnungen verkauft. Hier haben Kommunal- und Landespolitiker wie Martin Börschel gleich zweifach versagt.


Fr. 14. März | Infocafé und Pressetermin zur zweiten Blockade „Kalle für Alle“
um 17 Uhr | Alte Feuerwache, Projektraum

Das Bündnis „Alle für Kalle“ informiert zum aktuellen Stand der Kampagne gegen Zwangsräumungen, zum unmittelbar bevorstehenden zweiten Räumungsversuch gegen Kalle Gerigk und zeigt auf, warum die Verdrängung von Kalle kein Einzelfall ist. Wir informieren bei Kaffee und Kuchen. Alle Interessierte, Anwohner*innen und Pressevertreter*innen sind herzlich eingeladen.


Mo 17. März | Warm-Up „Kalle für Alle“ in der Robertstr. in Kalk
um 17 Uhr | Kundgebung vor dem bedrohten Haus Robertsstr. 12 (U-Bahnhalt Kalk-Post)

Kalle selbst betont immer wieder, dass es nicht nur um ihn allein geht. Kalle steht mittlerweile für zehntausende Menschen in dieser Stadt. Die Bewohner*innen der Robertstr. 12 haben in den letzten Jahren die Verwaltung ihres Hauses selbst in die Hand genommen, um es vor dem Verfall zu schützen. Nun ist ihre gewachsenen Hausgemeinschaft aufgrund einer (für den 26. März angesetzten) Zwangsversteigerung akut bedroht. Für den heutigen Montag Abend haben sich verschiedene Investoren zur Besichtigung angekündigt. Mit unserer Kundgebung „Wir können auch weniger nett, wir können auch laut, wenn man uns die Häuser klaut“ wollen wir die Robertstr. bei ihren Bemühungen unterstützen, das Haus durch Kauf als Verein dauerhaft zu sichern und „dem spekulativen Wohnungsmarkt zu entziehen“. Bringt Zeugs mit, dass Druck auf die Öhrchen macht.



Mo 17. März | Convergence Center „Kalle für Alle“ in der Alten Feuerwache
20-22 Uhr | Ankunft, letzte Infos und Unterbringung der auswärtigen Unterstützer*innen für die am nächsten Morgen anstehende Blockade



Di 18. März | Blockade + Straßenfest „Kalle für Alle“ in der Fontanestr.
um 7 Uhr | Zwangsräumung verhindern

Wir waren begeistert, dass rund 300 Anwohner*innen und Unterstützer*innen es im Februar tatsächlich geschafft haben, den Gerichtsvollzieher samt seinen Amtshelfer*innen mit drei Hundertschaften Bereitschaftspolizei wieder nach Hause zu schicken. Nun steht der zweite Räumungsversuch an und selbstverständlich blockieren wir erneut. Für Kaffee und Frühstück ist gesorgt. Über weitere Unterstützung freuen wir uns natürlich.
Wichtig: Auch wenn Ihr „nur“ kurz vorbei kommen könnt, weil Ihr Euch für den Tag nicht frei nehmen könnt und auch wenn ihr erst später könnt, weil z.B. die Kinder erst in die Schule gebracht werden müssen, KOMMT VORBEI! Wir werden unter Umständen wieder über den gesamten Vormittag ausharren müssen, bis der Gerichtsvollzieher hoffentlich auch diesmal wieder die Räumung abbläst. Selbst wenn es uns nicht noch einmal gelänge, den „Vollzug“ abzuwenden, eine eindrucksvolle Blockade als Zusammenkunft gegen die Praxis der Zwangsräumungen ist dringend notwendig und in Zeiten bevorstehender Kommunalwahlen äußerst wirkungsvoll! Daher kommt mit noch mehr Leuten zur zweiten Blockade!



Mo 24. März | Treffen der Initiative Recht auf Stadt inder Alten Feuerwache
um 19 Uhr im Offenen Treff | Weiter geht’s – „Kalle für Alle“ als Motto ernst nehmen

Buch zum Widerstand gegen Zwangsräumungen

leser 19.03.2014 - 01:55
Zwangsräumungen verhindern


Widerstand gegen Zwangsräumungen – Vorbilder, Geschichte und Perspektive.

Peter Nowak (Hg.)
Zwangsräumungen verhindern
Ob Nuriye ob Kalle, wir bleiben alle
Reihe Systemfehler Bd. 5
farbig, TB, 12 Abbildungen, 110×180 mm
96 Seiten, 7.80 Euro
ISBN 978-3-942885-52-2 | WG 973
Neuerscheinung März 2014

Seit Jahren werden in Deutschland tausende Menschen zwangsweise aus ihren Wohnungen geräumt, weil sie die Miete nicht zahlen können oder aus anderen Gründen gekündigt wurden. Doch seit einigen Monaten lassen sich Mieter*innen nicht mehr still vertreiben. Die Berliner Kampagne „Zwangsräumungen verhindern“ mobilisiert mittlerweile wöchentlich gegen Räumungen. Das Buch geht auf ihre Vorläufer in der Weimarer Republik ein, und wirft einen Blick auf Spanien, wo die Bewegung gegen Wohnungs- und Häuserräumungen ein innenpolitischer Faktor ist.

Ein Interview mit der SozioIogin Ceren Türkmen widmet sich der Frage, warum sich viele Menschen mit migrantischen Hintergrund gegen Zwangsräumungen wehren. Ein Kapitel behandelt den Widerstand von Senior*innen und die öffentlichen Reaktionen darauf. In einem Interview mit Aktivist*innen geht es um die Perspektiven und Grenzen des Widerstands gegen die Zwangsräumu