Medical Group zum Hungerstreik in München

Mitglieder der Medical Group 20.07.2013 20:35 Themen: Antirassismus Repression Soziale Kämpfe
Stellungnahme der „Medical Group“ zu den Ereignissen im Protestcamp der Non-Citizens vom 22.-30.06.2013 am Rindermarkt in München
Wir sind Vertreter_innen der Medical Group, die aus unterschiedlichen heilberuflichen Professionen zusammengesetzt ist. Unter uns befinden sich Ärzt_innen, Krankenpfleger_innen, Hebammen, Rettungssanitäter_innen sowie Medizinstudierende.
Unsere politischen Ansichten, Alter, Herkunft etc. mögen unterschiedlich sein, sind jedoch in diesem Kontext und wegen unserer Solidarität mit den Streikenden am Rindermarkt irrelevant gewesen.

Auf Grund der teilweise unrichtigen und polemischen Berichterstattung der vergangenen Wochen möchten wir eine Stellungnahme abgeben, um die von uns wahrgenommenen Falschaussagen in den Medien richtigzustellen.

Die Behauptung, es hätte von Seiten der Protestierenden keine Kooperation mit Ärzt_innen
gegeben, ist schlicht unwahr. Es gab von Beginn des Camps an keinerlei Abschottung gegenüber medizinischem Personal. Im Gegenteil: Von Beginn an war die allein zu diesem Protestcamp gegründete Medical Group anwesend. Rund um die Uhr waren Mediziner_innen vor Ort, denen von den Non-Citizens großes Vertrauen entgegengebracht wurde. Zu keiner Zeit wurde uns der Zutritt zum Camp verwehrt.

Am Anfang des Protestcamps wurde die Medical Group in ein Plenum der Streikenden eingeladen, um über die Folgen von Hunger- und Durststreik aufzuklären. Dies taten wir gewissenhaft und umfassend. Die Personen, die sich in diesen Streik begaben, wurden über alle uns bekannten möglichen Folgen einer Nahrungs- und Flüssigkeitskarenz informiert und traten dennoch in vollem Bewusstsein über die Konsequenzen und aus eigenem Antrieb in den Hunger- und Durststreik.

Es war im Laufe des Protests immer eine Person der Medical Group innerhalb oder nahe an der Absperrung (Camp), um Vitalparameter zu erheben und sich des aktuellen Gesundheitszustands einer jeden protestierenden Person zu versichern.
Darüber hinaus überwachten sich die Streikenden gegenseitig in kleinen Gruppen und alarmierten uns sofort bei auffälligem Verhalten ihrer Mitstreikenden.
Es war Konsens der Protestierenden, dass bei Bewusstlosigkeit sofort Notärzt_innen und
Sanitäter_innen ins Camp gerufen werden. Diese wurden in ihrer Arbeit zu keinem Zeitpunkt
behindert.
Nachts gab es in unserer Gruppe die Routine des viertelstündlichen Weckens, um sicherzugehen, dass alle Personen bei Bewusstsein waren. War eine Person nicht weckbar, wurde dies sofort weitergegeben und binnen weniger Sekunden waren die Sanitäter_innen/Notärzt_innen vor Ort und die Person konnte in ein Krankenhaus gebracht werden.

Die Zuverlässigkeit der Zusammenarbeit zwischen Protestierenden, Medical Group und
Sanitäter_innen/Notärzt_innen war auch der Stadt hinreichend bekannt. Wir hatten uns darauf
verständigt, ein regelmäßiges Update der aktuellen Situation an die Einsatzkräfte vor Ort
weiterzugeben.
Am Mittwochvormittag fand ein Treffen zwischen der Verantwortlichen des Sozialreferats, des
Einsatzleiters der Feuerwehr, dem diensthabenden Notarzt und drei Verantwortlichen der Medical Group statt.
In diesem Treffen wurde die Struktur und Funktionsweise der Medical Group erklärt und die gute Kooperation mit den Einsatzkräften vor Ort, sowohl von notärztlicher, als auch von städtischer Seite ausdrücklich begrüßt.
Das Sozialreferat sah nach diesem Treffen keinen Anlass zur Intervention mehr, da sich die
Organisation der Medical Group, sowie die Zusammenarbeit mit von der Stadt gestelltem
medizinischem Notfallpersonal auch in den darauffolgenden Tagen als reibungslos erwies.
Dies änderte sich schlagartig am Samstagnachmittag. Den Botschafter der Protestierenden erreichte ein Bescheid, umgehend drei von der Stadt gewählte Ärzt_innen in das Camp vorzulassen.
Dieser Bescheid erreichte uns ohne Vorwarnung und wurde von den Non-Citizens zurückgewiesen, da diese keine Notwendigkeit für weitere Ärzt_innen im Camp sahen, zumal sie diese nicht selbst ausgewählt hatten und sie somit für die Streikenden keine Vertrauensärzt_innen darstellten. Der Anwalt der Protestierenden legte Rechtsmittel ein.
Umgehend wurde der eingeforderte 24-Stunden-Schichtplan der Medical Group an den Einsatzleiter der Feuerwehr weitergegeben, um zu beweisen, dass ärztliche Hilfe stets gewährleistet war.

Nichtsdestotrotz nutzte ein von der Stadt angewiesener Arzt der Kassenärztlichen Vereinigung Bayerns (KVB) während eines Notfalls am Samstagabend die Gelegenheit, in das Camp einzudringen, obwohl sich ein Vertrauensarzt der Medical Group in Zusammenarbeit mit den Notärzt_innen und Sanitäter_innen bereits um den Streikenden kümmerten. Der KVB-Arzt wollte auch nach der Aufforderung, das Camp zu verlassen, nicht gehen und verletzte somit die Privatsphäre der Streikenden und die Organisationsstruktur der Medical Group.
Zur Presse sagte er später, es hätten „40-45 Menschen ohnmächtig/apathisch auf dem Boden gelegen“. Die Aussage dieses Arztes begründete laut Politik in derselben Nacht die Räumung. Im Camp befanden sich zu diesem Zeitpunkt 47 Personen, einige der Streikenden waren (noch) im Krankenhaus.
Das Camp bestand aus verschiedenen Zelten und einzelnen abgetrennten Bereichen. Niemals hätte der Arzt einen Überblick über alle sich im Camp befindenden Personen erlangen können, als er einen dieser Bereiche mit max. 12 Schlafplätzen betrat, von denen wiederum nur ca. die Hälfte von liegenden Menschen genutzt wurden (welche das Geschehen sehr wach verfolgten!). Außerdem standen oder saßen ca. 15 Streikende zu diesem Zeitpunkt vor den Zelten, u.a. wegen des Notfalls.
Angesichts der Unwahrheiten des KV-Arztes und der daraus resultierenden, für die Streikenden furchtbaren Konsequenz der Räumung mutet es sehr befremdlich an, dass nun der damals anwesende Vertrauensarzt der Medical Group rechtliche Konsequenzen zu befürchten hat – zumal es zu dem Vorfall etliche Augenzeug_innen gibt.

Im Endeffekt konnte jegliche Transparenz von Seiten der Medical Group im Auftrag der
Protestierenden eine brutale Räumung des Camps aus angeblich humanitären Gründen nicht
verhindern. Die Anführung von humanitären Gründen kann für die Räumung niemals ausschlaggebend gewesen sein, da sie die gesundheitlich beeinträchtigten Hunger- und Durststreikenden bewusst in akute Lebensgefahr brachte.
Außerdem wurde Streikenden, die bei der Polizei noch bis zu sieben Stunden nach der Räumung festgehalten wurden, keine ärztliche Hilfe angeboten.

Zur besonderen Situation der Kinder und der Schwangeren:
Bereits am Samstag, den 22.06.2013, befand sich ein Kinderarzt im Camp und überprüfte den
Gesundheitszustand der drei anwesenden Kinder. Am Dienstag, den 25.06.2013, konsultierten wir aufgrund niedriger Außentemperaturen erneut eine Kinderärztin, die an diesem Tag den 16-Monate alten Jungen untersuchte. Am Freitag, den 28.06.2013, wurde auf Anordnung des Jugendamtes eine Untersuchung der acht- und neunjährigen Kinder in einer Kinderarztpraxis in Anwesenheit von Mitarbeiter_innen des Jugendamtes durchgeführt.
Die Schwangere wurde während der Zeit des Camps von einem Gynäkologen und einer Hebamme betreut. Sie hat einige Tage nach der Räumung geboren. Mutter und Kinder sind gesund und wohlauf.
Sowohl die Schwangere, als auch die Kinder waren gesundheitlich vollkommen uneingeschränkt und befanden sich zu keiner Zeit des Camps im Hunger- oder Durststreik.
Für alle Beteiligten, aber auch für die jungen Kinder war die Räumung ein extrem belastendes, wenn nicht sogar (re-)traumatisierendes Ereignis. Die angewendete Gewalt an ihren Eltern und deren Mitstreikenden hätte unbedingt vermieden werden müssen.
Die schwangere Streikende wurde gegen ihren Willen und unter Zwang von mehreren
Polizist_innen gewaltsam abgeführt, wobei sie zu Boden fiel und weitergezogen wurde. Dabei hielt sie die ganze Zeit ihr 16-Monate altes Kind auf dem Arm.

Wir verurteilen vehement die Diffamierung des Camps in der Öffentlichkeit, in der den Streikenden jegliche Meinungs- und Entscheidungsbildung abgesprochen wurde, sowie auch die Räumung friedlich streikender Menschen, vor allem die ausgeübte Gewalt an den Hunger- und Durststreikenden sowie den Kindern und der Schwangeren.

Mitglieder der Medical Group

Kontakt:  medicalgroup.refugeeprotest@gmail.com

München, 20. Juli 2013


Infos der streikenden Non-Citizens auf:
www.refugeetentaction.net
www.facebook.com/Refugeemarch?ref=hl

Bildquellen: www.flickr.com/photos/koernerfresser/sets/
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Ergänzungen

Notfälle und hypothetische Einwilligung

Entscheidungen des Bundesgerichtshofs 22.07.2013 - 13:24
In Ausnahmefällen kann eine ausdrückliche Genehmigung fehlen; eine Rechtfertigung existiert bei der zutreffenden Annahme eines hypothetischen Patientenwillens. Eine derartige mutmaßliche Einwilligung ist auf Notfälle beschränkt. Sie setzt zum einen Situa- tionen voraus, in denen eine tatsächliche Willenserklärung nicht mehr einholbar ist, weil der Patient bewusstlos, komatös oder aus anderen Gründen nicht mehr entscheidungs- fähig ist. Der ärztliche Eingriff muss unaufschiebbar sein, so dass auch ein Betreuer nicht mehr rechtzeitig für den Patienten handeln könnte. Darüber hinaus muss die ärztliche Maßnahme vital indiziert sein. Die Situation ist durch eine erhebliche Gefahr für das Leben und die Gesundheit des Patienten gekennzeichnet (BGHSt 45, 219, 223).

Schwierige Kiste...

Korbi 23.07.2013 - 09:08

Zum Verhältnis ''Non-Citizen/Citizen''

Hotte 26.07.2013 - 09:50

Gute Diskussion über Unterstützer_innen-Kreis

Maus 26.07.2013 - 12:29