Proteste nach Ermordung von Bootsflüchtlingen

Kosmopolit 03.02.2013 22:51 Themen: Antirassismus Repression Soziale Kämpfe
Ein Patrouillenschiff der Guarda Civil hat am 13.12. 2012 ein Flüchtlingsboot aus Sidi Ifni (Marokko) nahe der Küste von Lanzarote absichtlich gerammt und überfahren, 7 Bewohner Sidi Ifnis wurden dabei ermordet - ich spreche hier von Mord, denn so wie sich die Ereignisse darstellen, ist es nichts anderes. Einen Monat später gab es eine Demonstration im Bereich der Polizeiwache im Zentrum des südwestmarokkanischen Küstenstädtchens; nach deren Auflösung durch die Polizei kam es zu stundenlangen, heftigen Straßenschlachten mit Verletzten auf beiden Seiten.
Ich war zu dieser Zeit in Sidi Ifni und wurde Augenzeuge der Geschehnisse. Mehrere Bewohner, mit denen ich mich am Rande der Prosteste und später unterhalten habe, äußerten den Wunsch, daß auch in Europa Leute davon erfahren. Wieder zu Hause, habe ich noch einige Videos und andere Artikel im Netz gefunden, die ich unten aufgelistet habe.

Sidi Ifni ist ein malerisches Städtchen mit 20000 Einwohnern in einer besonders verarmten Region etwa 3 Autostunden südlich von Agadier und ein beliebtes Reiseziel für Rucksacktouristen, Surfer und Camper, meist aus Westeuropa. Von den Geschehnissen am Abend und in der Nacht des 13.1. und den Hintergründen dürften nur die wenigsten von ihnen etwas mitbekommen haben. Grund für die Proteste war einerseits der Monatstag des Mordes an den Flüchtlingen, anderseits gab es schon früher zahlreiche Proteste in Sidi Ifni und anderen Regionen Marokkos wegen hoher Arbeitslosigkeit, fehlenden Sozialleistungen und steigenden Lebenshaltungskosten. Selbstverständlich hängt ersteres mit den den letzten beiden Problemen zusammen. Die Grenzwachen der EU benutzen die Eliminierung von Flüchtlingen als politisches Mittel, um weitere Flüchtlinge abzuschrecken bzw. das Elend von Europa fernzuhalten.

Am Abend sah ich eine größere, laute Menschenmenge - gelgentlich hörte ich auch Aufprallgeräusche - auf der Straße oberhalb der Polizeiwache,die im Bereich der Polizeistation durch Polizeifahrzeuge abgesperrt war. Vor der Absperrung beobachteten außer mir auch zahlreiche Einheimische, was auf der anderen Seite vor sich ging.
Eine Straße weiter sagte ein Bewohner zu mir, wie zuvor schon viele andere:" willkommen in Sidi Ifni, diesem wunderschönen Ort." Er fügte dann hinzu, daß die meisten Touristen aber nicht wirklich begreifen würden, daß viele hier trotz der Idylle unter dem Existenzminimmum leben, ohne Perspektive, ohne Job und ohne Geld und dabei würden auch noch die Lebensmittelpreise ansteigen. Ein anderer sagte, "die Leute protestieren vor der Polizei, weil es uns so schlecht geht und sich niemand für unsere berechtigten Forderungen interessiert ( etwa letzten Winter gab es Camps u.a. vor der Provinzverwaltung wegen der Armut). Die Polizei wird sich nicht trauen, die Demonstration aufzulösen, weil sie weiß, daß es dann eskalieren wird." Das ist dann doch geschehen: Nachdem ich einige Zeit weg gewesen war, ging ich - es muß so gegen 24 Uhr gewesen sein - noch einmal richtung der Absperrung und sah, daß die Demonstration aufgelöst war. Über die Straße verstreute Protestler warfen Steine auf die Polizei. Als ich nahe der Absperrung stand, sah ich eine größere Anzahl (20-30) behelmte und beschilderte Polizisten, die Steine aufhoben, losliefen und auf die flüchtenden Aktivisten warfen. Krankenwagen waren im Einsatz, häufiger noch, als es schon am Abend der Fall war. Am nächsten Tag erzählte mir jemand, daß diese Konfrontationen noch bis spät in die Nacht so weiter gingen. Zahlreiche Demonstranten seien durch Schlagstockeinsätze erheblich verletzt und in Krankenhäusern behandelt worden, darunter auch einer seiner Freunde."

Wiederholt sind hier Ärzte tätig geworden, in welchem Zusammenhang erläutere ich im folgenden:

Armut und Hunger sind, wie auch alle anderen Krankheiten, durch den Kapitalismus verursacht. Ärzte kommen aber erst dann zum Einsatz, wenn es gilt, die Symptome zu behandeln, die sich in dem Umschlagen von Wert(verhältnissen) in Gewalt äußern; sei es durch direkte Konfrontation wie oben oder durch die Ausbildung von Symptomen in Form von Hunger, Armuts – und Zivilisationskrankheiten. Ärzte verschleiern die Ursachen, profitieren davon und ihre Therapien unterdrücken das Protestmoment von Krankheit. Ihr "wissenschaftlich" materialistischer Ansatz mit seinen chemischen und technischen Werkzeugen, man könnte auch sagen Waffen, ist inakzeptabel und sorgt für den weiteren Verschleiß der Patienten. Im Sinne der Wertlogik zählt für sie nur das, was messbar ist. Indem sie Krankheit von den Lebensbedingungen bzw. den Produktionsverhältnissen abstraktifizieren, machen sie Patienten zu Objekten ihrer auf mathemathischen Berechnungen beruhenden Eingriffe.


Videos zu den Unruhen vom 13.1.

 http://berthoalain.com/2013/01/15/emeute-a-%D8%B3%D9%8A%D8%AF%D9%8A-%D8%A5%D9%81%D9%86%D9%8A-sidi-ifni-14-janvier-2013-videos/

Berichte auf Deutsch

 http://ffm-online.org/?s=Sidi+Ifni

Texte auf französisch und englisch

 http://www.emarrakech.info/Heurts-et-violences-a-Sidi-Ifni-entre-manifestants-et-forces-de-police_a66120.html

 http://ww.moroccomirror.com/index.php/society-news/item/129-clashes-between-protesters-and-security-forces-in-sidi-ifni

Video von Schlagzeugeinsatz bei Protesten in Sidi Ifni aus dem Jahr 2008

 http://onehumportwo.blogspot.de/2008/09/moroccan-police-brutalize-protester-in.html

Artikel der New York times von Oktober 2012 zur Situation in Marokko

 http://latitude.blogs.nytimes.com/2012/10/31/moroccos-citizen-subjects/

Sozialistisches Patientenkollektiv/ Patientenfront (H)

 http://www.spkpfh.de/
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Ergänzungen

wer weiss genaueres

mo 04.02.2013 - 20:23
 http://digitalresist.blogspot.com/2013/01/wieder-proteste-in-marokko-soliaktion.html


es ist einfach, mit "schwachsinn" meinung anderer zu diskreditieren - bringt aber nichts und ähnelt eher der herrschenden politik der betroffenen regierungen (Marokko und Spanien)


weitere Quellen und Anmerkungen

Kosmopolit 05.02.2013 - 13:59
In meinen Links stand schon etwas zu dem Hergang der Ereignisse vor Lanzarote drin. Unten noch zwei weitere Quellen, die genauer darüber Berichten. Wie in solchen Fällen üblich widersprechen sich die Versionen der Geschädigten und der Polizisten völlig (wobei sich die Guarda Civil – auch nicht unüblich - hier selbst noch mal widerspricht).

Staaten oder deren Zusammenschluss wie die EU haben das Gewalt und Mordmonopol, um die herrschenden Verhältnisse, d.h. die Anhäufung von Mehrwert durch eine Minderheit, zu sichern. Wie wir wissen, kommt es nur sehr selten (oder nie?) zur Verurteilung von Polizeibeamten wegen Mord, bestenfalls zu symbolischen Verurteilungen (siehe Oury Jalloh). Sie sollen darin bestärkt werden, diese Wertordnung mit aller Gewalt und ohne Kompromisse durchzusetzen.

In diesem Zusammenhang sehe ich auch die Ermittlungen zu dem Vorfall vom 13.12.. Eine Chance ist, daß es hier viele Augenzeugen gibt, und umso schwieriger wird es für die Behörden, solch ein Verbrechen zu vertuschen.

 http://www.wochenblatt.es/1000009/1000013/0/28733/article.html

 http://www.wochenblatt.es/1000003/1000013/0/28815/article.html


@Lieselotte: Armut und Hunger sind gleichbedeutend mit Stress, Verzweiflung, Frust, Angst, Not, Leid usw., was sind diese Zustände, wenn nicht Ausdrücke von Krankheit? - oder brauchst du dafür jedes mal eine ärztliche Diagnose? Es geht ja grade darum, die gesellschaftlichen Verhältnisse als krank zu erkennen, anstatt die Symptome abgetrennt von ihren Zusammenhängen zu betrachten und zu therapieren. Gemeinsam aus Krankheit, aus Unzufriedenheit heraus aktiv zu werden bedeutet die Verhältnisse zu verändern und ist der Anfang jeder Revolution.

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