Postsowjetisches Mittelalter

Alexander Wolodarsky 11.06.2012 09:15 Themen: Gender Repression Soziale Kämpfe Weltweit
Nach dreimonatiger Haft im Untersuchungsgefängnis wurde den Mitgliedern der feministischen Punkband Pussy Riot, Nadezhda Tolokonnikova, Ekaterina Samutsevitch und Marija Alechina, die offizielle Anklage vorgelegt. Ihnen wird „Rowdytum, begangen aus religiösen Motiven“ vorgeworfen, für diesen Paragraphen kann man in Russland bis zu sieben Jahren Gefängnis erhalten. Das Rowdytum bestand in dem symbolischen „Punk-Gebet“ in der Christi-Erlöser-Kathedrale, in dessen Verlauf die Frauen die Gottesmutter gebeten hatten „Putin zu vertreiben“. Tatsächlich wird Pussy Riot für Medienkunst strafrechtlich verfolgt, der eigentliche „Auftritt“ in der Kathedrale dauerte nur ein paar Minuten, die Musik wurde erst später dem Video hinzugefügt.
Wenn wir über Zensur, Pressefreiheit und Demokratie auf dem Gebiet der ehemaligen Sowjetunion sprechen, dann verstehen wir darunter in der Regel eine politische Diktatur, die auf die Macht von Polizeiknüppeln gegründet ist. Aber hinter dem Autoritarismus verbirgt sich nicht nur physische Gewalt. Die religiöse Wiedergeburt, die liberale Politiker Ende der achtziger, Anfang der neunziger Jahre so sehr ergriffen hatte, wurde in einer Klerikalisierung der Gesellschaft vollendet. Wir werden versuchen, diese Tendenzen an Beispielen aus Russland und der Ukraine zu analysieren.

Mehr als mustergültig ist das Beispiel Pussy Riot. Ihnen wird kein politischer Extremismus vorgeworfen, keine Beleidigung der Machthaber, keine gegen den Staat gerichtete Tätigkeit (was in der Sowjetunion möglich gewesen wäre). Die Anklage stützt sich gerade auf „die Beleidigung der Gefühle der Gläubigen“. Kirill selbst, Patriarch der russisch-orthodoxen Kirche, konnte bei einem Auftritt im Staatsfernsehen kaum die Tränen der Empörung zurückhalten, als er erzählte, welchen schweren Schlag die gesamte religiöse Gemeinschaft erfahren habe. Auch wenn er selbst nicht direkt zu einer Abrechnung aufgerufen hatte, taten das dann andere Kirchensprecher für ihn. Der Hetze schlossen sich Massenmedien an, die der orthodoxen Geistigkeit fern stehen. Talkshow-Moderatoren und Journalisten entdeckten plötzlich ihre beleidigten religiösen Gefühle und erzeugten zielgerichtet über einige Wochen eine Atmosphäre des Hasses und steckten damit die vom Fernsehen abhängige Gesellschaft an. Im Ergebnis – so paradox das auch sein mag – empfanden viele nicht gläubige Menschen in einem atheistischen Land Schmerz über die erniedrigte Orthodoxie. Weil ihnen alle Mittel der Agitationspropaganda wochenlang einredeten, dass sie diesen Schmerz empfinden müssten. Die Empörung der Gläubigen erreichte ihren Höhepunkt nicht etwa, als der Videoclip der Aktion im Internet veröffentlicht wurde, sondern erst längere Zeit später, nachdem kirchliche Meinungsmacher sich dazu geäußert hatten. Die Situation wird noch absurder und paradoxer, wenn man weiß, dass die Christi-Erlöser-Kathedrale kein kirchliches, sondern eine städtisches Bauwerk ist, das nicht nur für religiöse Belange genutzt wird. Zum Beispiel gibt es hier Präsentationen und Firmenfeiern, hier treten Pop-Musiker auf. Pussy Riot haben nicht den unantastbaren sakralen Raum der Kathedrale gestört, seine Heiligkeit wurde erst post factum erklärt, als das politische Interesse das forderte.

Auf genau dieses Prinzip gründet sich die Beziehung zwischen Kirche und Gesellschaft in den postsowjetischen Republiken. 70 Jahre staatlichen Atheismusses haben religiöse Traditionen praktisch vollständig zerstört. Die kirchliche Restaurierung, die wir jetzt sehen, ist nicht die Wiedergeburt des Verlorenen, sondern eher der Versuch, von Null an eine Kirche nach dem Modell des Anfanges des 20.Jahrhunderts zu erschaffen. Und das Angebot kommt der Nachfrage zuvor – nicht das Volk bittet nach Religion, sondern die Religion wird dem Volk aufgedrängt dank einer klerikalen Lobby, die in allen politischen Parteien existiert. Das Ideenvakuum wird mit Weihrauch gefüllt. Das jahrelange Aufdrängen einer religiösen Identität führt dazu, dass die Menschen nach und nach die äußerlichen Attribute einer Religiosität annehmen, aber dieser Glaube kommt nicht von innen, sondern von außen. Es ist inzwischen fast unanständig, nicht gläubig zu sein, wer gestern noch Lehrer für wissenschaftlichen Atheismus war, bekreuzigt sich inbrünstig, frühere KPdSU-Funktionäre erzählen von orthodoxer Geistigkeit.

Symbolisch für die heutige Kirche sind Neubauten. Sowohl in Russland als auch der Ukraine werden überall neue Kathedralen und Kirchen errichtet. Oft geschehen diese Bauten illegal, auf den Geländen von Parks oder Kinderspielplätzen. Dabei werden die Baugenehmigungen von den Beamten im nachhinein erteilt, man kann ja kein Kultgebäude abreißen. Es ist die Regel, dass ein größeres Gelände als für die Errichtung der Kirche notwendig in Beschlag genommen wird, deswegen gibt es daneben immer Platz für ein kleines Geschäft oder einen Parkplatz. Kommerz unter dem Deckmantel des Sakralen – das ist ein untrennbares Attribut der zeitgenössischen, postsowjetischen Religiosität auf allen Ebenen. Wahrscheinlich genau deshalb wurden die Werke der Ausstellung „Vorsicht, Religion!“ so empfindlich aufgenommen, ihre Veranstalter wurden auch dem Gericht übergeben. Ein Werk, auf dem Jesus Christus mit einer Cola-Flasche sagt „Das ist mein Blut“, eine mit schwarzem Kaviar gefüllte Silhouette einer Muttergottes-Ikone, die Erscheinung von Mickey Mouse vor dem Volke – das ist keine Blasphemie, sondern die maximal genaue Darstellung des Wertesystems der russisch-orthodoxen Kirche.

Das zweite Attribut der religiösen Wiedergeburt ist ein radikaler, kriegerischer Konservatismus, der oft an Neonazismus grenzt. Kirchliche Institutionen werden zu einem Deckmantel für Rechtsradikale, die Ausstellungen unliebsamer Künstler auseinandernehmen, LGBT-Aktivisten zusammenschlagen, Menschenrechtsaktionen angreifen. Unter der Ägide der Kirche wird massenhaft Xenophobie propagiert, zum Beispiel wurde vor nicht allzu langer Zeit der Sammelband „Erbarmungslose Toleranz“ herausgegeben, der die Schrecken der zukünftigen Welt der Toleranz und Multikulturalität zeigt. Auf der Buchvorstellung unterhielt der ordentlich angetrunkene Geistliche Vater Nikon die Anwesenden mit einer Darstellung von Horst Wessel. Daran ist nichts verwunderliches, Patriarch Kirill selbst hat die „Menschenrechte“ offiziell für der orthodoxen Mentalität fremd und schädlich erklärt und in seiner Eigenschaft als Metropolit direkt dazu aufgerufen, Gay-Paraden auseinanderzujagen. Recht häufig decken kirchliche Lobbyisten nicht nur aggressive konservative Randalierer, sondern auch offen nazistische Mörder, die ihr Unwesen auf den Straßen treiben. Zwischen offiziellen kirchlichen Würdenträgern und „rechten politischen Gefangenen“ (Menschen, die wegen Mordes aus rassistischen oder politischen Gründen verurteilt sind) liegt oft nicht mehr als ein Händedruck. Ein Beispiel dafür ist Nikita Tichonov, der für den Mord an dem linken Anwalt und Menschenrechtler Stanislav Markelov und der Journalistin Anastasija Baburova verurteilt ist. Er war eng mit der Organisation „Russische Erscheinung“ verbunden, die ihrerseits nicht nur mit der Kirche zusammenarbeitete sondern auch mit pro-Kreml-orientierten Jungendorganisationen.

Kirche, Machthaber und Straßen-Nazis in der Russischen Föderation arbeiten organisiert in einem gemeinsamen Verbund. Klerus und Beamte unterstützen sich gegenseitig und wo ihre Macht durch das Gesetz eingeschränkt wird, treten die ultrarechten Radikalen von der Straße in Aktion. Ideen, die noch vor kurzem für marginal gehalten wurden, dringen in den politischen Mainstream vor. Einer klerikalen Zensur werden nicht nur zeitgenössische Autoren unterworfen, sondern auch Klassiker: Viele Äußerungen von Lev Tolstoj sind heute offiziell als extremistisch anerkannt, es werden Erzählungen von Alexander Puschkin umgeschrieben, die sich über die Dummheit und Gier von Kirchendienern lustig machen. Heute, nach mehr als zwanzig Jahren, kann man sagen, dass die religiöse Wiedergeburt in der Praxis zu einem menschlichen und politischen Verfall der Gesellschaft geführt hat.

Übersetzung: Martina Steis

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pius der 6 ste — paul