Ukraine? 10.000 Leute an die Wand!

Mitteldaumen 13.04.2012 12:55 Themen: Antirassismus Blogwire Freiräume Repression Soziale Kämpfe Weltweit
Im Zusammenhang mit der EM ist gerade viel von den korrupten Verhältnissen in der Ukraine zu hören und zu lesen. Dieser Artikel beleuchtet das Thema aus einer anderen Perspektive, sozusagen "von unten" -- er ist das Ergebnis einer mehrjährigen Feldstudie.
"Was dieses Land braucht? 10.000 Leute an die Wand stellen!" Ich bin einen Augenblick sprachlos; von diesem freundlichen, gemütlichen Herrn mittleren Alters, der von Beruf vielleicht Lehrer an irgendeiner höheren Schule sein könnte, hätte ich so eine heftige Aussage nicht erwartet. Er hat mich gerade beim Stoppen über die Grenze in die Ukraine mitgenommen und regt sich über die Korruption auf, konkret über das gierige Grenzpersonal. "Nach dieser orangenen Revolution haben die sich eine Weile nichts mehr getraut, waren korrekt und anständig, weil sie Angst hatten und nicht wussten, was jetzt passiert, aber nach sechs Wochen war schon wieder alles beim Alten." Kein Wunder, dass hier wegen der Inhaftierung der ehemaligen "orangenen" Regierungschefin Julia Timoschenko kein Volksaufstand mehr ausbricht! Ich wende von meinem anarchistischen Standpunkt aus ein, dass es eben nichts bringt, das Führungspersonal auszuwechseln, sondern dass die Strukturen geändert werden müssen, weil sonst auch die neuen Leute bald wieder genauso weitermachen wie die, die man gerade abgewählt oder erschossen hat. Aber mein Oberlehrer ist nicht zu bremsen. "Ach was. 10.000 Leute an die Wand stellen, das würden die sich merken! Bei 1000 vielleicht nicht, aber bei 10.000 würde sich bestimmt was ändern."
Die nächsten Geier warten bereits, keine drei Kilometer hinter der Grenze zieht uns die Verkehrspolizei raus. Was haben wir denn da im Kofferraum, einen Ofen? Der wiegt doch auf jeden Fall mehr als die erlaubten 50 Kilo. Haben Sie dafür Zollpapiere? Mein Oberlehrer hat keine Zollpapiere, er hat mit den Zöllnern "geredet" und fertig. Aber jetzt ist er so in Fahrt, dass er den Verkehrsbullen nur zusammenschnauzt, Zollfragen fielen gar nicht in seine Zuständigkeit und er solle sich das abschminken, hier nochmal zu kassieren. Funktioniert sogar, wir fahren weiter.

Das Spiel an der ukrainischen Grenze kenne ich nun schon eine Weile. Fünf Hriwna (dem Wechselkurs keine 40 Cent, aber für die Leute hier ist das unter Berücksichtigung von Kaufkraft und Einkommensverhältnissen ungefähr soviel wie für unsereins fünf Euro, oder sogar noch mehr) legen die Einheimischen in ihren Pass, wenn sie ihn am Grenzhäuschen durch den Schlitz schieben, über dem ein Schild mit dem mehrsprachigen Hinweis prangt, dass Pässe beim Vorweisen keine Objekte enthalten dürfen. Die irrtümlich enthaltenen Fünfer werden deswegen hinter dem Schlitz gewissenhaft entfernt. Wenn man was im Kofferraum hat und wünscht, dass da niemand hineinschaut, sind es 20 Hriwna. Für höhere Tarife kommt man auch ein bisschen schneller an der Warteschlange vorbei, und wer sich völlig weigert zu zahlen, darf richtig lange warten. Meine KollegInnen, die mit dem Bus unterwegs waren, haben offenbar den Wessitarif bekommen -- der Busfahrer, der die Pässe einsammelte, riet ihnen, pro Nase fünf Euro reinzulegen, "damit's bei der Kontrolle schneller geht".
Bei meiner ersten Einreise in die Ukraine war ich mit einem slowakischen Spritschmuggler unterwegs. In der Slowakei kostet Treibstoff ungefähr soviel wie in Deutschland, in der Ukraine nicht mal die Hälfte. Es gibt Leute, die davon leben, täglich ein- bis zweimal hin- und herzufahren. Teilweise haben sie dafür extra große Tanks eingebaut. Der Treibstoff wird in der Slowakei literweise in Kanistern weiterverkauft. An der Tanke liegen neben den Zapfsäulen Holzkeile bereit, der Schmuggler rangiert gekonnt das Hinterrad neben der Tanköffnung darauf, damit das Auto schräg steht und vielleicht ein halber Liter mehr reinpasst, auch wenn ich mir sagen lassen habe, dass das eigentlich nichts bringt, weil der halbe Liter dann beim Weiterfahren einfach zur Tankentlüftung rausläuft.
Ich steige um, denn der Benzinhändler fährt natürlich gleich wieder zurück. Eine Familie mit deutschem Kennzeichen nimmt mich mit. Es handelt sich um UkrainerInnen, die in Bayern wohnen und zu Omas Geburtstag nach Kiew wollen. Nun, das mit dem Geburtstag können sie vergessen, sie sind viel zu spät dran. Der Vater ist fix und fertig. Das hatten sie sich wohl so gedacht, dass sie hier zu den Bedingungen für Einheimische rüberkommen! Die Grenzer waren mit den fünf Hriwna pro Nase ganz und gar nicht einverstanden, haben sie nach Strich und Faden auseinandergenommen, sie ewig hingehalten und ihnen letztlich insgesamt 50 Euro abgeknöpft. Du kommst hier mit ner Westkarre an und bildest dir ein, du könntest uns mit nem Trinkgeld abspeisen...

Im Land selber sind wir meistens mit öffentlichen Verkehrsmitteln unterwegs, denn die Tickets sind spottbillig. Den ersten Bus haben wir wegen eines Familienstreits verpasst, der zweite hat keinen direkten Anschluss mehr, wir sitzen sechs Stunden auf einem Kleinstadtbahnhof fest. Ich vertrete mir ein bisschen die Beine und spaziere über die Bahnsteige. Das da drüben könnte unser Zug sein, der schon bereitsteht. Ich frage einen Mann auf dem Bahnsteig, er bestätigt mir, dass das der Zug nach W. ist. "Haben Sie schon Fahrkarten gekauft?" fragt er plötzlich. Ich verneine. "Sie brauchen keine Fahrkarten, ich bin der Kontrolleur." Er sperrt uns sogar den Zug auf, damit wir nicht mit dem ganzen Gepäck draußen im Nieselregen warten müssen. Als der Zug schließlich abfährt, redet er mit einer jungen Ukrainerin aus unserer Gruppe. Sie einigen sich auf zwanzig Hriwna für uns alle. Regulär hätte die Fahrt siebzig gekostet.

Alleine trampe ich weiter Richtung Moskau. An einer Tankstelle treffe ich drei Trucker, die Fensterscheiben transportieren. Von Kiew nach Moskau gibt es eine nagelneue pfennigganze Autobahn, kein Vergleich zu der Buckelpiste von Lemberg nach Kiew. Aber nun fahren wir mit den drei Lastern wieder über richtige Dorfstraßen. Bei dem Sauwetter haben sie sich in eine einzige große Pfütze verwandelt. Der Fahrer hat keine Chance, die Schlaglöcher zu erkennen oder ihnen gar auszuweichen. Manche scheinen 20 Zentimeter oder tiefer zu sein, die Plörre spritzt über die ganze Seitenscheibe, wenn wir hineinfallen. Ich reite Rodeo auf dem Beifahrersitz und frage mich, wie die Ladung das wohl überstehen wird und ob wir nicht einfach irgendwo in diesem Sumpf steckenbleiben.
An einer Brücke auf der Autobahn hatten wir plötzlich gewendet, waren 15 Kilometer zurückgefahren und müssen jetzt laut Karte mindestens 45 Kilometer über Land, plus Umleitungen, weil immer irgendwo etwas gesperrt ist. Wir brauchen fast drei Stunden. Der Fahrer flucht, seine beiden Kollegen beteiligen sich per CB-Funk. "Der Typ wird einfach zu gierig", erklärt er mir. "Der Typ", das ist der Mensch an der Kontrollstelle vor der Autobahnbrücke, wo wir umgedreht haben. Die Brücke ist nämlich gesperrt und "der Typ" hat die Aufgabe, aufzupassen, dass niemand hinüberfährt. Also muss ihm jeder, der rüberwill (und das sind eigentlich alle, denn wer fährt schon drei Stunden Umweg?), ein bisschen was zahlen, damit er mal kurz nicht aufpasst. Es wäre wahrscheinlich weniger gewesen als was sie jetzt zusätzlich an Sprit brauchen, meint mein Fahrer, aber man kann sich nicht alles bieten lassen.
Die Brücke ist genauso neu und einwandfrei wie die ganze Autobahn, aber die Regierungskommission, die die Bauabnahme macht, war noch nicht da, also ist sie noch nicht freigegeben, obwohl die Strecke schon vor über einem halben Jahr eingeweiht wurde. Und die Kommission wird wohl noch ein Weilchen auf sich warten lassen. Denn "der Typ" hat seinen Posten ja auch nicht einfach so bekommen. Der hat einen Chef in der Verwaltung, der ihn da hingesetzt hat, der kriegt seinen Anteil und hat ein entsprechendes Interesse, dass die Kommission sich Zeit lässt.

Das System hat auch eine gewisse soziale Komponente. Also nicht dass es da irgendwas geschenkt gäbe, aber als Stopper lassen sie mich wenigstens in Ruhe, weil da ja eh nichts zu holen ist. Auf dem Rückweg von Moskau überquere ich die Grenze zu Fuß. Reisezweck? Na halt nach Hause, ich schreibe "Transit" in die "Migrationskarte", diesen nervigen Zettel, in den man an der Grenze immer seine ganzen Passdaten übertragen muss. Und in dem Pass, den ich vorlege, liegt wirklich kein Objekt. Zu Fuß willst du nach Polen? Tja, muss wohl. "Oj, arme kleine Jude", sagt der Grenzer mitleidig auf Deutsch, fragt noch pro forma mit einem Blick auf meinen Rucksack nach Waffen und Drogen, ohne auch nur die geringste Regung zu machen, wirklich hineinzuschauen, während er Migrationskarte und Pass abstempelt, und lässt mich rüber.

Die Einreise in die Ukraine erlebe ich dann auch noch mal ganz anders. Ich halte an einer polnischen Landstraße kurz vor der Grenze meinen Daumen raus, es ist nichts los, aber dann taucht plötzlich ein richtig fetter schwarzer Schlitten mit ukrainischer Nummer auf und nimmt mich mit. Der Typ am Steuer kann Deutsch, genauer gesagt, er hat sogar ein paar Monate in einem deutschen Knast verbracht. Sympathischer macht ihn das nicht, zumal er im Gespräch dann auch noch den Rassisten raushängen lässt. Genauer gesagt regt er sich darüber auf, dass Deutschland nicht rassistisch genug sei. Nein, schwarz ist schlecht, wenn er Afrikaner sieht, kriegt er einen Hass. In der Ukraine leider keine seltene Einstellung, ich erinnere mich an verschiedene Meldungen über die Behandlung von Flüchtlingen dort und an einige derartige Gespräche; die meisten Leute kommen dann wenigstens ein bisschen ins Grübeln, wenn ich frage: "Also war Bush ein besserer Präsident als Obama?" Meinem Mafiaboss versuche ich zu erklären, dass er als Slawe bei den Nürnberger Gesetzen auch nicht gerade gut weggekommen wäre, aber das will er nicht kapieren.
Stattdessen wechselt er das Thema und kommt richtig in Fahrt, gibt mit seinen Kumpels in der Regierung an, er kennt da irgendeinen General in Kiew, und schließlich behauptet er sogar, der Chef der Mafia an diesem Grenzübergang zu sein. Ich bin erst mal skeptisch, aber nicht lange. Die Ausreise am polnischen Zoll ist unproblematisch, dann dreht er jedoch richtig auf, fährt an dem ersten ukrainischen Posten mit einem fröhlichen "Heil Hitler!" vorbei, gibt bei dem zweiten einen dicken Umschlag ab und erteilt ein paar Anweisungen, irgendwas wegen "morgen abend", ehe er die ganze wartende Autoschlange links überholt und an einem leeren Abfertigungsschalter hält, der eilig für uns geöffnet wird. Die GrenzerInnen kennen ihn offenbar alle. Er übergibt mich der Zollbeamtin am Schalter, während er selber mit ein paar von den Grenzern verschwindet. Zum ersten und einzigen Mal muss ich bei dieser Einreise die Migrationskarte nicht selber ausfüllen, das macht die Beamtin für mich. Offenbar reise ich gerade als VIP. "Vom Staat kriegen die ja nichts", erklärt mir der Pate, als wir weiterfahren. "Bei uns machen die ein paar tausend Euro im Monat, das ist wirklich fair. Und ohne uns würde in diesem Land doch überhaupt nichts funktionieren."

Dieses System sehe ich bei der nächsten Ausreise funktionieren, als ich mitten in der Nacht an die Grenze komme. Weiße Lieferwagen stauen sich vor dem Übergang, Dutzende, Hunderte. Sie sehen alle ziemlich neu aus. Ich frage herum, wer mich mitnehmen kann, am liebsten natürlich gleich bis Dresden, aber die fahren alle bloß bis ins nächste oder übernächste Dorf hinter der Grenze, ausladen oder laden, und dann gleich wieder zurück, solange auf der polnischen Seite noch die richtigen Leute Schicht haben. Ich gehe also wieder zurück zu den Jungs, die mich hergebracht haben, denn die wollen immerhin ein Stück weiter nach Polen rein. Die beiden haben inzwischen die Lage gecheckt. Der Grenzübergang ist gesperrt, sie fertigen heute nacht nur diese Lieferwagen ab. Für 300 Hriwna oder 30 Euro dürften wir uns einreihen, aber wir müssten uns hinten anstellen. Ein Blick auf die Kolonne sagt uns, dass sich das wohl nicht lohnt.
Na gut, wozu hat man GPS? Wir gurken 50 Kilometer parallel zur Grenze durch den Wald bis zum nächsten Übergang. Da ist absolut nichts los, wie auch, um zwei Uhr nachts. Auf der polnischen Seite nehmen sie uns auseinander und finden zwei Stangen Zigaretten im Auto. Tja, tut uns leid, Leute, das Gesetz wurde geändert, es ist nicht mehr eine Stange pro Person erlaubt, sondern nur noch zwei Schachteln. Das macht jetzt 30 Euro. Meine Fahrer sind richtig sauer, am Nachbargrenzübergang wird die Schmuggelware kolonnenweise rübergeschleust und uns packen sie hier wegen ein paar Kippen! Aber es hilft nichts, sie müssen zahlen.

In Deutschland, sagen mir die Leute in der Ukraine oft, da ist es besser, da gibt es keine Korruption. Ich erkläre ihnen meistens, dass deutsche PolizistInnen tatsächlich viel zu verlieren haben, wenn sie dabei erwischt werden, und sich das ukrainische System (Bußgeld ohne Quittung bar auf die Hand kostet ungefähr 1/3 des Listenpreises) für sie deswegen bei normalen Verkehrsdelikten nicht rechnet. Und dann erzähle ich noch, wie's bei uns im städtischen Bauamt zugeht, warum mein Kumpel P. trotz 4,5 Promille seinen Führerschein behalten konnte, wo mein Kumpel R. das weiße Pulver für seine Nase kauft, was Bimbes mit Kohl zu tun hat und wie es kam, dass ausgerechnet bei der konservativen Partei ausgerechnet die Quoten-Ossi-Frau erst Parteichefin und dann Bundeskanzlerin wurde... und dann schau ich den Illusionen beim Platzen zu.
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