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Zur Situation Indigener Völker in Brasilien

ArDaga C. Widor 02.04.2012 13:45 Themen: Antirassismus Globalisierung Kultur Repression Soziale Kämpfe Ökologie
Wir werden es nicht erlauben, dass das was wir bis heute durch Jahrtausende beschützt und bewahrt haben – nämlich die Mutter Erde – und wodurch wir zur ökologischen und sozialen Nachhaltigkeit in Brasilien und der Welt beigetragen haben, uns noch einmal aus den Händen gerissen und irrational zerstört wird.
Etwas zu be-urteilen fällt mir schon prinzipiell schwer. Steckt da doch, und zwar nicht bloss semantisch, ein Urteil drin. Die Hürde ist (also) das Nicht-Wollen. Weil mir eine Welt, Eine Welt, ohne Richten und Richter, eine bessere Alternative zu unserer derzeit globalisierten okzidentalen, der Disziplinierung und Kontrolle, scheint. Und da bin ich ganz konform mit den Indigenen Gesellschaften (nicht nur) auf brasilianischem Staatsgebiet. Die über Jahrtausende ohne Richter, noch Polizei, Schulinstitutionen, Gefängnisse, Altenabschiebeheime, Psychiatriegettos, An- oder Verordnungen etc., auskamen. Und (also) lebensfrohe Gesellschaften gestützt auf sich erfüllen könnende und glückliche Individuen hervor brachten.

Weiters ist ausser dem Nicht-Wollen noch das Nicht-Können. Ich kann auch die Situation der Indigenen auf Brasilianischem Staatsgebiet nicht be-urteilen. Denn da leben noch immer rund 230 (Rest-) Völker. Und ich habe in den vergangenen zwanzig Jahren Kontakt gerade mal mit drei Dutzend Völkern gehabt. Der grosse Teil davon in Brasilien. Aber auch in Kolumbien, Ekuador, Peru, Paraguay und Uruguay.

Foto 1) „Vor dem Elend am Land ins Elend der Stadt geflüchtete Guaranies in Luque (Paraguay)“

Wenn ich nun weder ein Urteil abgeben will, noch kann, ist das Naheliegendste die Betroffenen selbt zu Wort kommen zu lassen. Allerdings würden 230 Stellungnahmen wahrscheinlich auch den Aufmerksamkeitsrahmen der Lesefreudigsten und Interessiertesten sprengen. Und ausserdem sind auch kontemporäre Índios häufig der Schriftkultur, und dem Selber-Schreiben im Besonderen, nicht so zugeneigt, wie jene, die es von kleinauf lernten, weil lernen mussten, und also (darauf abgerichtet) sind.
Den Kern dieser Einschätzung möchte ich jedenfalls jenen über lassen, die für sich selbst sprechen. Und so kommen nun drei (übersetzte) Erklärungen von Indigenen dreier verschiedener Ethnien aus drei verschiedenen Gebieten Brasiliens.


Offener Brief zu den Problemen der Tupinambá de Olivenca, im Bundesstaat Bahia, Nordostregion Brasiliens:

Wir, die Eingeborenen der Ethnie Tupinambá, leben Jahrzehnt für Jahrzehnt in der Anonymität ohne das Recht unser Gesicht zeigen, oder unsere Stimme erheben zu dürfen. Wir leben im Süden Bahia´s, in einer Region, wo der Coronelismo der Kakaobarone seine Macht gegenüber den staatlichen Machtsphären behauptet. Im Jahr 2002 wurden wir von der damaligen Bundesregierung offiziell als Volk namens Tupinambá de Olivença anerkannt.
Oftmals und über Jahrhunderte haben wir versucht unser Existenzrecht durchzusetzen, aber immer wurde dies mit Gewalt verhindert, und das gilt auch heute noch, wo subtilere Mittel zum Einsatz kommen, unterstützt durch das Nichthandeln und die Teilnahmslosigkeit und das Desinteresse seitens der Regierungen. Es geschehen Verfolgung, Verhaftungen und Folter, gedeckt durch ein Rechtssystem das bekanntlich die Interessen der Mächtigen bevorteilt, die während der letzten Jahre des zweiten Lulamandates begonnen haben und nun, zu Anfang der Dilmaregierung, noch intensiver geschehen.
Die Regierungen zeigen überhaupt kein Interesse die Problematik der Eingeborenen zu lösen, im Gegenteil, deren Vorgangsweisen kommen aus der Werkzeugkiste des Völkermordes. Für uns besteht kein Zweifel: Die Tatsache, dass wir uns der kapitalistischen Kultur des Westens entgegen stellen, ist die Mutter des Bestrebens uns zu akulturieren, so dass mit dem hier im 16.Jahrhundert implantierten Projekt ungestört fortgefahren werden kann.
Wir sind mehr als 240 Ethnien (Nationen) auf brasilianischem Territorium, sprechen über 180 Sprachen und werden trotzdem seitens der Machthaber behandelt, als wären wir eine "Indianer-Monotonie". Die brasilianische Gesellschaft weiss nichts von unserer Geschichte und dieser Ignoranz wird vom System noch nachgeholfen. Wir werden also systematisch abqualifiziert und verunglimpft. Noch heute werden wir als Tiere "wahr" genommen.
Wir sind zu dem Schluss gekommen, dass wenn die brasilianische Schulbildung tatsächlich ein Werkzeug der Befreiung und der Stimulierung kritischen Bewusstseins wäre, wir vielleicht schon unser Existenzrecht und das Recht auf Würde hätten, allein, wir beobachten, dass die brasilianische Regierung nur darauf aus ist, Nummern zu zeigen, ganz egal ob diese der Wahrheit entsprechen oder nicht. Ein Nummernspiel über welches versucht wird, so schnell wie möglich in die Kategorie der Weltmächte aufzusteigen.
Mit Blick auf die UreinwohnerInnen, die weiter verfolgt, gefoltert, umgebracht, auf Fazendas versklavt, in "Reservaten" (Kriegskonzentrationslagern) eingepfercht werden, und die auch mittels Vernachlässigung und Unterernährung zum Sterben verurteilt werden, sind wir am Überlegen, was uns eigentlich noch daran hindert Brasilien wegen Verbrechen gegen die Menschlichkeit vor den Internationalen Gerichtshof zu bringen.
Unser Unantastbares Land ist weiter in den Händen von Eindringlingen, der Demarkierungsprozess stecken geblieben im Stillstand der FUNAI (= Brasilianische Bundesbehörde zum Indianerschutz - bzw. ein Euphemismus für staatlich geförderte Elendsverlängerung unter UreinwohnerInnen, Anm. des Schreibers), während unsere FührerInnen systematisch kriminalisiert werden, unsere Kinder an Mangelkrankheiten und unsere Alten aus Resignation sterben, und Alkohol, andere Drogen und Prostitution unser Volk zerfressen.
Ich möchte noch hervorheben, dass dies nicht ausschliesslich die Realität der Tupinambá de Olivença ist, sondern die Realität der grossen Mehrheit der Eingeborenen Völker Brasiliens, und zwar ganz besonders in der Nordost-Region.
Wir ersuchen um Mithilfe der Internationalen Organismen bei unsrem Bemühen unser Recht auf LEBEN zu garantieren!

Ich, Yakuy Tupinambá, vom Volk der Tupinambá de Olivenca, bestätige, dass all die in diesem Offenen Brief gemachten Angaben Fakten und wahrheitsgetreu sind, und auch veröffentlicht werden dürfen.


Offener Brief zu den Problemen der Makuxi, im Bundesstaat Roraima, Nordregion Brasiliens:

Im Falle der Makuxi, im äussersten Norden Brasiliens, war das Hauptproblem die Landfrage. Wir hatten keines. Erst 2010 haben wir unser Land, einen Teil davon, wieder bekommen. Doch jetzt tut sich die Frage auf: Was machen wir mit einem vom Reisanbau zerstörten Land? Wo kaum noch Wild ist, und kaum noch native Pflanzen wachsen können? Ich denke also, dass wir zuerst wieder aufforsten müssen, mit einheimischen Bäumen, und diesem Stück Erde das Leben zurück geben. Ein anderes Problem ist unsere Muttersprache. Sie stirbt langsam aus. Auch unsere Gesänge und Tänze geraten immer weiter in Vergessenheit. Werden durch das Fernsehen von nicht-eingeborenen Inhalten und Betrachtungsweisen ersetzt.
Es wäre essentiell für uns über Mittel zu verfügen, um zur Lösung dieser beiden Problemkreise schreiten zu können.
Als während der Regelungsphase der Landfrage Einheiten von Bundespolizei und der Nationalen Sicherheit hier waren, war das Problem der Einfuhr alkoholischer Getränke weitgehend unter Kontrolle. Nun aber sind diese Beamten wieder weg und es kommt erneut häufig zu Alkoholeinfuhr in unseren Gemeinden.
Die Tatsache, dass unser Land entlang von Staatsgrenzen verläuft und dass sich Militärs hier befinden, stellt auch eine permanente Gefahr für unsere Mädchen und jungen Frauen dar. Der Bundesstaat Roraima ist Teil der internationalen Menschenhandelsrouten. Professionelle Mädchenscouts erschleichen sich das Vertrauen unserer Familien (und auch das der Familien anderer Ethnien, all die hier genannten Probleme betreffen auch, z.B., die Wapichanas, die Ye´Kuanas, die Yanomamis, und letztere haben noch zusätzliche Probleme, wie massive Anwesenheit illegaler Holzfällerkartelle und Edelmetallschürfer!), indem sie kleine Gefälligkeiten erweisen, wie Mitfahrmöglichkeiten in die umliegenden Städte. Sie versprechen in der Regel gute und gut bezahlte Jobs in Manaus, oder in den Nachbarländern Venezuela, Guyana und Surinam. Bevor die Nicht-Indigenen hier ankamen, erfreuten wir uns unseres Lebens in unberührter Natur, an klaren Wasserfällen, in reinen Flüssen, ohne uns Sorgen bezüglich Ausbeutung von und durch Personen zu machen. Aber heute überfluten uns die Invasoren mit falschen Träumen. Unterstützt von den TV-Kanälen, die uns glauben machen, dass ein glückliches Leben ein Leben mit viel Geld sein muss. Oft weit von Familie und angestammten Land. Mit Geschick und Schläue gewinnen diese Scouts die Sympathie ihrer Zielpersonen und deren Familien. Und obwohl die fast immer minderjährigen Mädchen dann gleich in der schlimmsten, brutalsten und unmenschlichsten Form aller Sexsklaverei landen, wird dieses Problem von den staatlichen Stellen nicht wie eine Priorität behandelt. Wenn überhaupt.

Alex Makuxi


Offener Brief zu den Problemen der Fulni-ô, im Bundesstaat Pernambuco, Nordostregion Brasiliens:

Wir Indios des Fulni-ô Stammes aus dem Landkreis Águas Belas im Bundesstaat Pernambuco, schreiben diesen Offenen Brief, weil wir von unserer Zweisprachigen Schule Antônio José Moreira erzählen und an Nichtregierungsorganisationen, Institute und andere Organisationen appellieren wollen, auf dass uns Unterstützung zuteil werde, beim Versuch unsere Traditionen, die vom Verschwinden gefährdet sind, zu erhalten.
Unsere Gemeinde umfasst ungefähr sechstausend Menschen von denen etwa 05% in Städten leben, um dort ihren Lebensunterhalt bestreiten zu können. Wir sind heute die einzigen und letzten Indios in der gesamten Nordost-Region, die noch ihre eigene Sprache, das Yaathe, beherrschen und gebrauchen. Trotzdem sind Bräuche und Kultur, die über 500 Jahre standgehalten haben, gefährdet.
Seit 1970 wird Druck auf uns ausgeübt, unsere Kinder wie Weisse zu erziehen. Eine Erziehung die wir nicht nötig haben, da wir unsere eigene Erziehungsmuster und, von den Vorfahren überlieferte, Bildungsinhalte besitzen. Bildungsinhalte übrigens, die eigentlich den Weissen "aufgedrängt" werden sollten, denn wer weiss, ob die Welt auf diese Art nicht eine bessere wäre.
Selbstverständlich wissen wir, dass auch die Erziehungsform der Weissen Vorteile hat: lesen, schreiben, sich fremdes Wissen verständlich machen, sich in andere Kulturen integrieren können, u.s.w. Aber unser kleines Territorium liegt unmittelbar an der Stadt der Weissen Águas Belas. Und das bedeutet ständigen Druck und Zwang zur "Aufgabe" unserer Kultur auch durch "erzieherische Auflagen" seitens der Weissen. Es handelt sich zwar um friedliche Auflagen. Die sind aber um nichts weniger gefährlich für unser Überleben.
Also gründete die Indigene Lehrerin Marilena Araújo de Sá die Escola Bilíngue Antônio José Moreira (Sekeinise Tuni-Xise, in unserer Sprache), mit dem Ziel unsere Kultur aufzuzeichnen und den jüngeren und nachkommenden Generationen zu unterrichten. Die Sprache, die Tänze, das Handwerk, die Religion, schlicht: unsere genuine Erziehung, die ins Vergessen geraten war. Unsere Schule wird jedoch seit ihrem Anbeginn abqualifiziert und verfolgt, während im ganzen Land Werbesendungen des Unterrichtsministeriums laufen, die von der positiven Entwicklung im Bildungswesen sprechen. Alles Täuschung, alles erfunden.
Zuerst stand unsere Schule unter "Verwaltung" der FUNAI. Das stand für: keine Auszahlung der LehrerInnengehälter, keinerlei Unterrichtsmaterial, keine Möbel, noch Geräte und auch keinerlei Mittel zur Instandhaltung des Schulgebäudes. Wir selbst, mit der Hilfe einiger sensibilisierter Nicht-Índios, mussten tun was möglich war, um den Betrieb aufrecht zu erhalten.
Im Jahr 2003 wurde unsere Schule dem Bundesstaat unterstellt. Was bedeutete, dass alles noch schlimmer wurde. Denn dieser mischte sich nun andauernd in alles ein, selbst unter Missachtung unserer eigenen kulturellen und schulischen Normen. Diese Aggressivität ging so weit, dass der Staat schliesslich drei unserer wichtigsten Mitarbeiter von der Schule ausschloss. Darunter Marilena Araújo de Sá, die Gründerin.
Wir sind uns im Klaren, dass unsere Schule weder FUNAI noch dem Staat irgendetwas bedeutet. Wahr ist, dass Indigene Kultur für alle staatlichen Instanzen Synonym für Zeit- und Geldverschwendung ist.
Auch nach 512 Jahren der "Entdeckung" Brasiliens, geht das Bemühen unsere Kultur auszulöschen weiter. Im Stillen, aber umso konkreter.


Siato Fulni-ô (für das Volk Fulni-ô)


Nun wieder zurück zu meinem, relativ bescheidenen, empirischen Gesamtblickfeld. Als Ergänzung dieser drei authentischen Stimmen. (Bezüglich der Kritik an der Bildung im Land, von zweien der drei angesprochen, möchte ich auf einen Link zum besseren Verständnis der transsäkulär und regimeunabhängig verwalteten Bildungsmisere Brasiliens hinweisen:  http://ch.indymedia.org/de/2011/01/79471.shtml).

So weit ich mir eine generelle Einschätzung zutraue, kann mensch sagen, dass die Situation der Indigenen Völker genau so heterogän ist, wie ihr Universum selbst. Es aber dennoch Gemeinsamkeiten gibt. Immer noch sterben Sprachen aus. In der riesigen Region des Sertão (im Nordosten Brasiliens) spricht (s. den Offenen Bief weiter oben) nur noch das Fulni-ô-Volk (auch) die ursprüngliche Sprache. (Obschon das sogenannte „Aussterben“ einer Sprache nicht unbedingt das letzte Wort sein muss. Siehe die gelungene Wiederbelebungsarbeit von Jessie Little Doe Baird mit Hilfe ihrer dreijährigen Tochter  http://subdiversity.com/2011/12/04/we_still_live_here/ bzw.
 http://www.boston.com/news/globe/magazine/articles/2007/10/28/gambling_with_their_future/?page=full).

Auch Völker sterben weiter aus. Wie z.B. die Avá-Canoeiro, deren letzte VertreterInnen ich bei ihren ehemals traditionellen Feinden, den Javaé, wohin sie 1973 aus Gioás zwangsverfrachtet worden waren, 2008 im Grenzgebiet zwischen Tocantins und Mato Grosso, traf. Ich weiss nicht, ob die beiden heute noch am Leben sind. Oder die extrem bedrohten Awá-Guajá im Norden Maranhão’s. Denen von den gedungenen Mordbuben der Edelholzkartelle in ihren Papier-Reservaten nach dem Leben getrachtet wird.
Die meisten Völker haben sich zuletzt aber quantitativ erholt. Von etwa fünf Millionen Indigenen zum Zeitpunkt des Invasionsbeginns (gegenüber nicht einmal einer Million Portugiesen in dieser Phase der Geschichte), um 1800 auf etwa eine Million, und in der ersten Hälfte des 20.Jahrhunderts auf etwa 100.000 reduziert, sind es heute wieder 817.000 die sich bei der letzten Volkszählung anno 2010 als Indigene deklariert haben. Also etwas mehr als 0,4% der Gesamtbevölkerung und gegenüber der Volkszählung anno 2000 (734.000) ein Anstieg von 11%.

Foto 2) „E-Kommunikationszentrum der Iny (Karajá-Nord) im Westen Tocantins'“

Dieser Anstieg ist durch das Abnehmen und schliesslich Erliegen offener Kriegszüge seitens der brasilianischen Makrogesellschaft zu erklären. Aber auch durch Selbst-Wiederentdeckungen bzw. –definierungen als Indigene. Viele Índios hatten zuvor die planquadratischen Ausrottungsinitiativen durch lokale Grundherren und Politchefs, auch bis tief in die zweite Hälfte des 20.Jahrhunderts hinein, lediglich durch Flucht, oder Verstecken bzw. permanenter Verleugnung ihrer Ethnizität überlebt. Viele Sprachen und andere Kulturmerkmale gingen verloren. Denn wer erwischt wurde, in seiner Sprache kommunizierend oder Riten praktizierend, wurde umgehend ermordet.
Die physische Gefährdung ist dennoch nicht gänzlich gebannt. In Staaten wie Mato Grosso do Sul, Bahia, Maranhão, Rondônia und Roraima, z.B., werden UreinwohnerInnen, nach wie vor gejagt. Von Grossgrundbesitzern und deren Revolvergangs, von (meist mit ersteren identen) Lokalpolitikern und –justiz, von Agrobusinesskoalitionen (Soja, Baumwolle), von Monokulturfirmen (Eukalyptus, Kokos), von Edelstein- und –metallschürfergruppen, von Holzmafien, bis hin selbst zur, sonst so brasilienregelbrechend aktiven und unbestechlichen, Bundespolizei. Die im Süden Bahia’s selektiv und oft unter Anwendung illegaler Methoden gegen militante Indigene AnführerInnen vorgeht. Deren „Verbrechen“ es ist, gegen das permanente Nichtstun der Justiz gegenüber illegalen, Jahrzehnte andauernden, Landbesetzungen und –verwüstungen in den (vermeintlichen) Reservaten (Terras Indígenas) zu protestieren, und Landrücknahmen (Retomadas) zu organisieren. Die, schon der waffentechnischen Übermacht der Besetzer wegen, stets mit friedlichen Mitteln durchgeführt werden.

Dann gibt es „natürlich wachsende“ Gefährdungen. Viele, vor allem unorganisierte, landlose Bauern sehen ihre Chance auf Land schon lange nicht mehr über, stets unerfüllt gebliebene, Regierungsversprecher. Denn selbst jene Partei, die „Landreform“ seit Anbeginn in der Illegalität der Diktatur auf ihre Fahnen geschrieben hatte, die PT (Arbeiterpartei), und die nunmehr seit bald einer Dekade die Präsidenten des Landes stellt, hat nichts in dieser Richtung unternommen, seit sie an die Macht gekommen ist. Und solange die wahren Machthaber im Land die Ruralisten sind (siehe  http://switzerland.indymedia.org/de/2011/02/79989.shtml), wird sich in dieser Richtung auch zukünftig nichts tun, und Landraub an und Verdrängung bzw. Ermordung von Klein- und Kleinstbauern, Sklavenarbeit und „mildere“ Formen mittelalterlich anmutender Ausbeutung im Hinterland die Regel bleiben. Somit erkennen viele schlaue Habenichtse ihre einzige Chance im „Indianerwerden“. Das heisst, sie nehmen sich, so in der Nähe schwach organisierter, oder vom Alkohol und Verblödungs-TV geschwächter und/oder darauf unvorbereiteter Aldeias (Índio-Dörfer) indigene Frauen zu Lebensgefährtinnen und „werden Índios“, mit Anrecht auf Leben im Reservat und Bebauung von indigenem Land. Oftmals sind unter solchen „Neu-Indianern“ Agitatoren, selbst Drogenhändler, in eigener (Macht-) Sache. Denn auf Terras Indígenas kann die Lokalpolizei nicht eingreifen. Nur die Bundespolizei. Und die ist, in den meisten Fällen vor allem im noch waldreichen hohen Norden, weit, weil permanent mit der „normalen“ brasilianischen Korruptionsepidemie beschäftigt.

Foto 3) „Aldeia der Tupinambá im Süden Bahia's“

Auch indirekte Kollektivangriffe auf Leib und Leben existieren weiter. Ich selbst habe zwei davon mit erlebt. Kaum ein Indianerreservat wurde so angelegt, dass die Quellen der Wasserläufe innerhalb seiner Grenzen liegen. Somit ist es für angrenzende Fazendeiros ein leichtes, Gift in den Wasserlauf der Reservate zu bringen und Fisch- und Vogelsterben auszulösen (= Anschläge auf die natürliche Nahrungsmittelversorgung der Indigenen durch zu führen). Da verscharren Bulldozer und Riesentraktoren schon mal im Morgengrauen ein paar tausend grosse Vögel zwecks Spurenverwischung (wie ich es sah, auf der Ilha do Bananal, der grössten Flussinsel der Welt, auf dem Papier auch ein Naturschutzgebiet).
Häufig wird die Kraft des Feuers angewendet. Beim (an sich bereits illegalen) Abbrennen ihrer Ländereien nach Ernte warten Farmer schon mal auf „günstigen Wind“, auf dass das Feuer dann „unbeabsichtigter Weise“ rein in die benachbarte Terra Indígena zieht. Auch dies zielt auf die Nahrungsmittelversorgung der unerwünschten indigenen Nachbarn und den Nachschub an Material für das Kunsthandwerk, welches oft die einzige Einnahmequelle ist.

Die effektivsten Angriffe wider das Indigene Universum auf Brasilianischem Staatsgebiet geschehen heute aber nicht mehr qua traditionellen Angriffen auf Leib und Leben. Die Vorgangsweise der Endlösungsliebäugler – die ihre Vision mit „Integrieren“ und dem Wortfetisch „Fortschritt“ euphemisieren – ist subtiler und (also) perfider geworden. Alkohol, Fernsehen und religiöse Invasionen sind heute, neben der Zweckchauvinismusschürerei in Senat und Abgeordnetenhaus der Bundeshauptstadt sowie den zutiefst korrupten und offensiv korrumpierenden Bundesbehörden FUNAI und FUNASA, die unmittelbarsten ethnozidären Waffen, die gegen die Indigenen Völker zum Dauereinsatz kommen.
Über Jahrhunderte mussten brasilianische Indianerjäger (erst die Mamelucos bzw. Bandeirantes, später Revolvermänner in Grossgrunddiensten) mit der Waffe in der Hand ihren Menschenopfern hinterher. Und – zumindest das! ¬– auch ihr Leben dabei riskieren. Heute gehen zigtausende Indigene aller Ethnien zu ihren Häschern und kaufen aus deren Händen die Waffe, die sie anschliessend gegen sich selbst, ihre Familie und die Aldeia richten: Zerstörungskönig Alkohol. Den Verkäufern (aber bisweilen auch Gratis-„Spendern“) werden dabei Arbeit und Gefahren erspart, und oft genug verdienen sie sich noch krumm daran. Dass dabei auch immer wieder gepanschter Alkohol zum Einsatz kommt, ist ein zielbewusst logisches Phänomen. Dem Alkohol verfallene indigene Männer sind wieder die bevorzugten „Handelspartner“ von Mädchenhändlern. In der verzerrten Optik des Rausches, ist so manchem Vater das nächste Glas mehr wert, als die Tochter. Wenn nun solche gehandelte Töchter, nach Sklavenarbeit in der Prostitution (in brasilianischen Strassen und Puffs oder solchen der Amazonas-Nachbarstaaten) wieder zum Volk zurück kehren, bringen sie die nächste Zeitbombe Richtung Auslöschung mit: sexuelle Krankheiten, für die die Pajés (HeilerInnen) keine Kurmittel kennen.
Es gibt aber auch solche Aldeias, wo Alkohol nicht (mehr) geduldet wird. Zumindest dessen (Weiter-) Verkauf und/oder Konsum ausserhalb der eigenen vier Wände. Und oftmals sind die MotivatorInnen hiezu entweder die Frauen (und indirekten Hauptopfer des geschürten Alkoholismus‘), oder missionierende evangelikale Prediger, die „dafür“ andere Abhängigkeiten mit bringen (dazu aber später).

Die omnipotenteste Waffe, wenn auch nicht physisch verheerende, wider die Indigenen, ist das allgegenwärtige Fernsehgerät. Ich kann mich nur an einen Fall erinnern je in eine Aldeia gekommen zu sein, wo es kein Fernsehgerät gehabt hätte. Und das war eigentlich mehr ein Nomadenlager, als ein Dorf. So es also Apparat und Strom hat, laufen die Dinger unaufhörlich. Und zwar ausschliesslich jene Kanäle die in ganz Brasilien, unabhängig von Ethnien, Klassen oder Regionen, Denkkahlschlag leisten. Globo (80% der BrasilianerInnen beziehen ihre „Information“ und „Bildung“ von diesem Quasi-Monopol, eine Allmacht, von der Figuren wie Murdoch oder Berlusconi nur träumen können), Bandeirantes (dem direkten Sprachrohr der Ruralisten), SBT, Record, Rede TV (...). Diese Medien-Netzwerke haben eines gemeinsam: Verglichen mit den dort transportierten Sendungen ist RTL ein Bildungsfernsehen.

Foto 4) „Aldeia der Krikati im äussersten Nordwesten Maranhão's“

In vielen Terras Indígenas befinden sich, permanent oder zeitweilig, christliche Missionare unterschiedlichster Kirchen. Deren Anwesenheit ist eine vielschichtige Angelegenheit. Sie können einen, oder spalten. Stärken, oder schwächen. Unterrichten, oder ungeschminkte Gehirnwäsche treiben. Und bisweilen sind diese scheinbaren Dualismen gar keine. Ich kann, wie bereits weiter oben, bestätigen, dass solche Religionsvertreter bei einigen Völkern massgeblich daran beteiligt waren, den Alkoholismus einzudämmen. Auch habe ich solche kennen gelernt (und an der Arbeit gesehen), die sich für Organisation und Stärkung der Indigenen gegenüber staatlichen und wirtschaftlichen Antagonisten einsetzen. Ich kann aber auch bestätigen, dass solche Missionare sehr oft die Widerstandskraft der Indigenen Gemeinschaften aushöhlen. Mit frommen Versprechungen und Tröstungen „auf später“. Und dass ihr Einfluss rapide jahrtausende lang gewachsene Natürlichkeit im sozialen Umgang beschneidet und fremd-regelmentiert. Dieser regulative und paralisiernde Einfluss geht so weit, in kürzester Zeit, dass die „Evangelikalen Índios“ sich – aus „religiösen Gründen“ – weigern, an Retomadas (s. oben) teilzunehmen und somit direkt den Grossgrundbesitzern, die illegal Land in Reservaten besetzt halten und ausbeuten, in die Hände spielen. Auch die in Brasilien immer stärker werdenden „Evangelikalen Parteien und PolitikerInnen“, präsent in Dilma Rousseff’s Koalition, profitieren von solch zunehmender Missionierung. „Bekehrung“ bringt auch neue, und völlig unkritische!, „Wahl“stimmen.

Die Ruralisten quer in und durch alle „Parteien“, essentiell pure und ideologiefreie Eigeninteressenklubs, im Parlament zu Brasília, lassen keine Debatte aus, um nicht vor den Gefahren der Unterwanderung „von aussen“ zu warnen, und „urgente Gegenmassnahmen“ zu fordern. Genau so, wie sie den Papier-Waldkodex bekämpfen und immer mehr aufweichen, bis er zum Agrobusiness-Kodex geworden sein wird, und Umweltverbrechen gesetzlich unbestraft lassen, bekämpfen sie die Terras Indígenas. Bevorzugtes und mantramässig wiederholtes „Argument“ ist die „Bedrohung der Nationalen Sicherheit“. Da Reservate im Norden (Amazonasgebiet) an Staatsgrenzen liegen, wird gefordert diese Terras Indígenas zu beschneiden, um „Sicherheitskorridore“ für das Militär einzurichten. (Die aber ohnehin in den Grenzgebietreservaten patrouillieren.) Frei erfundene Zweckgeschichten von Reservaten, die von „Ausländern“ und „ausländischen Tarn-NGOs“ kontrolliert werden „um die brasilianische Souveränität zu unterminieren“, zirkulieren im Internet und der Ruralistenpresse, wie dem Wochenmagazin „Veja“, und werden gerne von Ruralistablock-Senatoren und –Abgeordneten aufgegriffen. Selbst vor Krokodilstränen um „unsre Índios“ schrecken manche dieser perfiden Schausteller dabei nicht zurück. Es geht schlicht um die schrittweise Verkleinerung, Reduzierung und schlussendlich Auflösung der grösseren Reservate. Um diese, wie den nicht-urbanen Rest des Riesenstaates insgesamt dem Agrobusiness zuzuführen. Und justament um die Stahlfraktion dieser Ruralisten, geführt von Grossgrundbesitzerin, Senatorin und Umweltverbrecherin Kátia Abreu, wirbt z.Z. Präsidentin Dilma. Auch um „den neuen“ Waldkodex durch zu bringen... (Im absoluten Gegensatz zu ihren Versprechen während des Wahlkampfes.)

FUNAI steht für Fundação Nacional do Índio. FUNASA für Fundação Nacional de Saúde. Ersteres ist die dem Bundesjustizministerium untergestellte Behörde für den Schutz und die Erhaltung der Terras Indígenas und verantwortlich für die Ausarbeitung und Ausführung Indigene betreffender politischer Massnahmen, zweiteres eine Behörde zur Armuts- und Kindersterblichkeitsbekämpfung qua Krankheitskontrollen und medizinischer Fürsorge auch für Indigene Gemeinschaften, dem Bundesgesundheitsministerium unterstellt. Das ist (auszugsweise) was auf dem Papier steht. FUNAI-papier also, und FUNASA-papier.

Die InderInnen haben das Pantschatantra, die ItalienerInnen Straparola und Basile, die DänInnen Hans Christian Anderson, und der deutsche Sprachraum die Grimms bis Michael Ende. Wir BrasilianerInnen haben unsere Märchentradition in den (Gesetzes-) Papieren. Wer unsere erstklassige und moderne Verfassung aus dem Jahr 1988 liest, weiss, dass sie/er de facto in einem anderen, ja diametralem, Staat lebt.

Somit verwundert es (uns) überhaupt nicht, dass die FUNAI-real eine weitere Geissel für die Indigenen ist, die ein eigenlebenerhaltendes Interesse an der Kontinuität der generell desaströsen sozialen Situation der UreinwohnerInnen hat. (Würden die Indigenen tatsächlich emanzipiert, die FUNAI wäre überflüssig. Da sind also den BeamtInnen joberhaltende Menschen, die im „unmündigen Kinder“-Status gehalten und verwaltet werden, schon lieber.) Bundesmittel, die an die FUNAI für Projekte fliessen, werden immer wieder illegal und eigennützig verwendet und (also) die Indigenen Dörfer massiv bestohlen. Diese „Indianerbehörde“ korrumpiert auch aktiv, indem einigen ausgesuchten Índios Beamtenstatus und also Einkommen gewährt wird, die „mitspielen“ und sich auf Kosten der Allgemeinheit in der Aldeia bereichern und diese „ruhig halten“. Und sogar in die Lokalpolitik des jeweiligen Bezirks einsteigen und mit gebündelten Índio-Stimmen in den Stadtrat kommen, wo sie noch weiter korrumpiert werden und korrumpieren. Der ursprünglichen Egalität in den Aldeias ist das der Garaus. Aus genuinen Kaziken (Häuptlingen, ursprünglich ohne jedwede wirtschaftliche oder materielle Vergünstigung) werden so schnell lokale Politchefs brasilianischen Musters (der Coronel), die alle und alles kontrollieren. Da werden sogar Indigene Lehrer aus den Indigenen Schulen ausgebootet und durch Nicht-Indigene ersetzt, weil der Häuptlingssohn mit einer Brasilianerin verbandelt ist, und der Schuldirektorposten ein schönes Einkommen bringt. Diese Nicht-Indigene ekelt wieder die Indigenen LehrerInnen raus und „ersetzt“ diese durch ihre nicht-indigenen Vertrauten. Das ist alles völlig ungesetzlich. Klar. Aber keine Behörde schert sich darum. Ist doch der ämterkumulierende Coronel-Häuptling längst auch lokaler FUNAI-Chef und somit selbst auch die brasilianische Behörde vor Ort.

Was das dann für die Indigene Kultur bedeutet, wenn an der (Ex-) Indigenen Schule überhaupt keine Indigenen Inhalte mehr vermittelt werden, kann sich auch ein ethnologisch und/oder pädagogisch nicht Vorgebildeter ausdenken.

FUNASA-real ist eine Behörde zur Beschleunigung des Genozids. Bundesmittel für Medikamente und Ambulanzwagen werden (fast) ausschliesslich für den „Eigenbedarf“ der BeamtInnen verwendet. Ich habe es dutzendfach gesehen, im ganzen Bundesgebiet. Während Indigene an Lappalien sterben, weil kein Rettungswagen zur Verfügung steht, fahren FUNASA-Beamte ihre Freundinnen mit dem Rettungswagen spazieren und zu Schrott. Während Índios am Gesundheitsposten bis zu ihrem Tod auf Behandlung oder ein Medikament warten, werden die BeamtInnen märchenhaft (s.oben) reicher. Weil sie diese verkaufen. An lokale Apotheken und Spitäler, oder an LokalpolitikerInnen, die damit Stimmenkauf treiben. Alles keine grosse Sachen in Brasilien. Alles im normalen Paradigma der generellen Gesetzes-Nichtrespektierung und Selbstbedienung an öffentlichem Gut. Und wenn dabei ein paar Índios drauf gehen, na prima, gleich mehrere Fliegen auf einen Streich.

Solche „Behörden“, durch und durch korrupt, unabhängig einzelner heroischer Ausnahmen, können nicht (mehr) reformiert werden. Sie leiden nicht an Krebs. Sie sind der Krebs. Es gibt auch gar keine Initiative seitens irgendeiner Regierung zur „Reform“ oder Auflösung dieser „Behörden“. Und die Ruralisten sinds zufrieden.
(Wer, übrigens, eine Terra Indígena legal besuchen will, muss bei der FUNAI um Erlaubnis ansuchen. Das kommt etwa dem gleich, dass mensch erst bei Stefan Ackermann und Kurt Krenn-Typen um Erlaubnis bitten müsste, um in katholischen Organisationen nach Opfern und Wahrheit zu sehn.)

Alkohol, Fernsehen, religiöse Invasionen, ständig geschürter Nationalchauvinismus und die Präsenz durch und durch korrupter und korrumpierender „Behörden“ tragen alle zur kulturellen Pervertierung und Verarmung der Völker bei. Zerstören die kulturelle Identität = das Mark des Indigen-Seins, die sozialen Strukturen und das egalitär-horizontale Gefüge. Schon heute lebt etwa ein Drittel (manche behaupten sogar die Hälfte) aller Indigenen auf Brasilianischem Staatsgebiet in Städten. Genauer, in Favelas. Das betrifft Grossstädte wie z.B. São Paulo und Porto Alegre (Rio Grande do Sul), aber auch kleine und mittlere Städte wie z.B. Gurupi (Tocantins), oder São Gabriel da Chachoeira (Amazonas). Wo das Festhalten an der autochthonen Kultur meist innerhalb einer Generation so geschwächt wird, dass kaum noch Spuren davon im Tagesablauf der Urbanindigenen Gruppen zu bemerken sind.
In São Paulo leben rund 60.000 Indigene verschiedenster Völker (Pankararu, Pankararé, Atikun, Guarani Mbyá, Guarani Nhandeva, Tupi-Guarani , Kaingang, Pataxó, Potiguara, Fulni-ô, Xukuru, Xukuru-Kariri, Terena, Kariri-Xocó, Kaimbé, Xavante, Tupinambá, Kapinawá, Kaxinawá, Karajá...). Die Pankararu sind in São Paulo-Stadt, in „ihrer Favela“ Real Parque zusammen mit anderen, fast so zahlreich wie in ihrem Stammland im Sertão Pernabuco’s. In Porto Alegre haben sich bei der letzten Volkzählung rund 13.000 Menschen als Indigene deklariert. Und in São Gabriel da Cachoeira rund zehntausend, was einem Viertel der dortigen Stadtbevölkerung gleichkommt.
In einer Studie für die Stadt Gurupi wurden unlängst drei Hauptgründe für die Migration Indigener aus dem Reservat in die Stadt erhoben. (1) Der Wunsch in (mittleren und höheren) Schulen bzw. an einer Universität zu studieren; (2) Die Suche nach Lohnarbeit; (3) Die Suche nach ärztlicher Versorgung. Bei vielen ist es eine Kombination dieser Gründe. Laut CIMI (Conselho Indigenista Missionário, der katholische und einigermassen kämpferische sogenannte „Indianermissionsrat“) kommt es selbst bei jenen Völkern, die ihr Reservat gesetzlich abgesichert und es mit keinen Invasionen zu tun haben, zu diesem Migrationsphänomen, weil die Indigenen keine Chance auf ein menschenwürdiges Leben bzw. Zukunft mehr in ihrem Reservat wegen der chronischen Unterlassungen der Behörden (FUNAI und FUNASA, s.oben) sehen.

Foto 5) „FUNASA-Posten Santa Fé do Araguaia voller verottender Fahrzeuge“

Was bis hier in dieser Aufzählung noch unerwähnt geblieben ist, ist die planerische Unfähigkeit brasilianischer Regierungen. Obschon das Riesenland beste Vorraussetzungen für den Ausbau der Stromgewinnung aus alternativen und unerschöpflichen Quellen wie Wind und Sonne hat, wird nichts, oder fast nichts, in diese Richtung getan. (Und wenn ja, dann wieder auf dem Rücken der Índios! Ausgerechnet im winzigen Territorium der Tremebé im Bundesstaat Ceará, z.B., soll ein Windkraftpark deren Strand einnehmen. Im Hinterland ihres Papier-Reservates können sie nicht anbauen oder Kleinwild jagen, weil eine in politisch starken Händen befindliche Kokos-Monopol-Firma in den langsamsten Gerichten der Welt, den brasilianischen, alle Instanzen und Tricks ausnützt, um ihre illegale Anwesenheit im Reservat zu perpetuieren, und in Bälde werden sie auch nicht mehr fischen und Muscheln sammeln können, so der Windkraftpark tatsächlich auf ihrem Gebiet angelegt wird.)
Mit jedem Jahr wächst der Energiebedarf eines auf Wachstum-über-alles ausgerichteten Wirtschaftssystems, einige Totalblackouts haben wir bereits hinter uns, und um fünf vor oder nach zwölf wird dann mit Monsterzerstörungsprojekten reagiert. Mit Mega-Wasserkraftwerken a la Belo Monte und lukrativer Zerstörungs-Beteiligung auch der Firmen Voith, Andritz, Siemens. Und wie gewohnt und immer, auf Kosten in erster Linie der Indigenen. Von denen zigtausend ihren traditionellen Lebensraum am Verlieren sind. (Und von der Mega-Absurdität der geplanten 26 AKWs im Land, und deutscher Regierungs-Anschiebhilfe dazu, ganz zu schweigen...)


Schlussendlich soll ein weiterer Feind nicht verschwiegen werden, der zwar auch bisweilen von aussen gesteuert und instrumentiert wird, aber im Grunde den Indigenen Gesellschaften schon präkolumbianisch inhärent gewesen ist: der Hang zum Spalten und Gespaltensein. Von Nation zu Nation, von Ethnie zu Ethnie, von Clan zu Clan.
Das ganze Indigene Universum Südamerikas ist ja vielfach auf eine endlose Kette an Spaltungen zurück zu führen. Anstelle Brüder und Schwestern umzubringen, oder einzusperren, bei unüberbrückbaren Rissen, spaltete sich die vom Streit betroffene Gruppe (Familie, Clan, Volk) eben. An Land und (also) Platz war kein Mangel. Und die abgespaltene Gruppe entwickelte mit der Zeit und dem neuen Habitat und den neuen Nachbarn und (Handels-) Partnern eigenständige sprachliche und kulturelle Formen. Streitbeendigung qua Sich-ultimativ-aus-dem-Weg-sein. Dieses Muster ist auch heute noch stark am Wirken. Bloss gibt es für die meisten Indigenen Völker keinen Platz mehr, um irgendwo anders hinzugehn. Also bleiben die Zerstrittenen zwar auf einem Fleck, gehen sich aber tunlichst aus dem Weg. Sprechen nicht mehr miteinander. Ein Umstand, der organisiertes Zusammenarbeiten angesichts omnipotenter Feinde rundum so gut wie verunmöglicht. Und nur Führungsfiguren mit aussergewöhnlichem Charisma können solche selbst geschaffenen internen Trennungsgräben bisweilen für geeintes Vorgehen überwinden. Denn „befehlen“ gibt es nicht. Zumindest nach wie vor nicht bei jenen Indigenen Gesellschaften, deren Kultur noch nicht von der makrobrasilianischen unterwandert (und zersetzt) worden ist. Ein Indigener Mensch in einem autochthonen Kulturkreis durchläuft sein Leben ohne ein einziges Mal einen Befehl erhalten, noch gegeben zu haben. Das ist zugleich die Stärke, mental und emotional, der Individuen, die niemals zerschnitten, noch gebrochen wurden. Im diametralen Gegensatz zu okzidentalen von klein auf obrigkeitsgefügig aber eben auch psychisch krank machenden Verbiegungs-, Beschneidungs- und Verbotskultur. Das ist aber auch die Ursache der Schwäche der Índios gegenüber der praktischen Skrupellosigkeit der monopolisierten Zivilisationsgesellschaft. Die durchaus imstande ist, selbst Todfeindschaften für den Augenblick zu begraben, um Koalitionen einzugehen, die es ermöglichen einen gemeinsamen dritten Feind auszuschalten, oder die Macht zu erlangen. (Heutzutage wird diese praktische Rückgratweiche auch gern qua „Realpolitik“ euphemisiert.)
Es ist im Grunde egal, ob es sich um ein Fussballteam oder eine Arbeitsgruppe handelt. Ich kann mich nicht erinnern je ein Team nach einem Jahr noch beisammen gesehen zu haben. Das ist, angesichts ihrer höchst organisierten Gegner, die auf das Indigene Land, seine Arbeitskraft, seine Schätze lauern und hin arbeiten, eine mehr als unvorteilhafte Begebenheit.
Die korrosierende Kraft des okzidentalen Klassen- und Ellenbogensystems „will“ ich hier nur anhand eines Beispiels demonstrieren. Das Gavião-Volk lebt, mitten in der Indigenen Diaspora nach über einem Halbjahrtausend Verfolgungen, noch einmal in sich selbst gespalten. Ein Teil im Bundesstaat Maranhão (Gavião-Pýkobcatejê), der andere in Pará (Gavião Kýikatëjë). Während die Schwestern und Brüder in der Terra Indígena Mãe Maria in Pará im buchstäblichen Überfluss leben, Dienstmädchen aus den benachbarten brasilianischen Dörfern anstellen, air-condition, Markenuhren und flotte Wagen ostentieren mit dem Geld, das sie von dem Brasilomulti Vale do Rio Doce und dem teilverstaatlichten Energieriesen Eletronorte für die Nutzung ihres Gebietes erhalten, leben die Gavião- Pýkobcatejê im eine Tagesreise entfernten Maranhão in bitterster Armut. (Zur Eletronorte ist anzumerken, dass sie sich, nicht offiziell, aber de facto, in Händen des allmächtigen „Paten“ des brasilianischen Nordens, Senatspräsident José Sarney befindet. Dieser ist ein, von Lula und Dilma noch gestärkter, Restposten aus der Schmiede der Militärdiktatur, der sich nach dem „Übergang“ zur „Demokratie“ u.a. auch dafür einsetzte, dass die brutale Vorgangsweise wider Indigene der Militärs fortgesetzt würde und – ein Unikum selbst in unserer Realpolitik – eine Terra Indígena, die der Wamiri-Atroari und wohl um die an diesem Volk zuvor verübten Massaker zu vertuschen, der Verwaltung seiner Eletronorte unterstellte.)
Wer nun glaubt es flössen solidarische umverteilende Mittel von Gavião-A nach Gavião-B, irrt. Ganz im Gegenteil. Das Klassen- und Ellenbogensystem „von aussen“ hat sich inseriert – kein Wunder, wenn „Pate“ José Sarney das Spiel bestimmt – und durchgesetzt.

Zusammenfassend: Die vielschichtige Gefährdung des Weiterbestehens bzw. Wiedererstarkens des Indigenen Universums auf brasilianischem Staatsgebiet, ist nicht von Rassismus getragen. Im Gegenteil, die Mehrheit der BrasilianerInnen ist trotz häufiger manipulativer Appelle wider (ihre im Grundgesetz festgelegten Rechte einfordernden) Índios im, vom Agrobusiness mit-finanzierten, TV den Índios gegenüber interessiert, oft sogar empathisch eingestellt. Vor allem in den bildungsstärkeren Schichten der grossen Städte. Obschon es auch dort immer wieder zu vereinzelten rassistisch motivierten Übergriffen kommt.
Allein, die Macht im Land ist, völlig unabhängig von der jeweiligen Regierung ( http://switzerland.indymedia.org/de/2011/02/79989.shtml) in den Händen der Ruralisten. Und für diese ist jedes Reservat, jede/r Indigene, jeder natürlich gewachsene Wald, jede Alternative zu ihrem Monopol-„Entwicklungs“-Modell, ein Stein im Weg des Fortschritts, wie sie ihn interpretieren und realisieren: die totale Transformation aller natürlicher Habitate in neoliberal-feudalistisch organisierten Grossgrundbesitz und/oder agrotoxische Maximalausbeutung.
Foto 6) „Eine Indigene Schule“

Im von 700 Indigenen FührerInnen in Brasília unterzeichneten Manifest “DOCUMENTO FINAL DO ACAMPAMENTO TERRA LIVRE 2011” vom Mai 2011, steht (auszugsweise) zu lesen:

Angesichts des Angriffs auf unsere natürlichen Reichtümer (Land, Wasser, Mineralien, Biodiversität) seitens der Lobbys des Agrobusiness, des Grossgrundbesitzes, der Geschäftsgesellschaften, der Multis und anderer wirtschaftlicher und politischer Mächte mit ihrem Projekt des Todes, erklären wir unseren Willen unsere Rechte zu verteidigen. Vor allem das Recht auf Leben und Land werden wir, so notwendig, mit unserem Leben verteidigen.

Wir werden es nicht erlauben, dass das was wir bis heute durch Jahrtausende beschützt und bewahrt haben – nämlich die Mutter Erde – und wodurch wir zur ökologischen und sozialen Nachhaltigkeit in Brasilien und der Welt beigetragen haben, uns noch einmal aus den Händen gerissen und irrational zerstört wird, wie es schon einmal, vor 511 Jahren durch die europäischen Kolonisatoren, geschehen ist. Zum Schaden des Überlebens unserer Völker und der zukünftigen Generationen.

Wir können nicht zulassen, dass wir weiterhin die Opfer der Gefrässigkeit des neoliberalen Kapitalismus sind, eines Raubtierentwicklungsmodells das die Welt unterworfen hat, unser Land eingeschlossen, und dessen Wirken unsere derzeitige Regierung nicht nur duldet, sondern ausdrücklich unterstützt.

Im Namen aller Indigenen Völker und Organisationen Brasiliens fordern wir Präsidentin Dilma Roussef auf, dass sie aus ihren während des Wahlkampfes und Auslandsreisen abgegebenen Versprechen bezüglich der Respektierung der Menschenrechte, sozialer Gerechtigkeit, sowie sozialer und ökologischer Nachhaltigkeit Wirklichkeit macht. Auch hinsichtlich der Tatsache, dass wir, die Indigenen Völker, seit Jahrhunderten vom brasilianischen Staat wie Hindernisse auf dem Weg zu wirtschaftlicher Entwicklung und Wachstum behandelt werden, obwohl Bürger und Körperschaften ethnischer und kultureller Besonderheiten, durch die Brasilianische Verfassung und Internationale Verträge die von Brasilein unterzeichnet sind, ihre garantierten Rechte besitzen.

Ermutigt durch das Vorbild und den Kampfgeist und den Mut unserer Vorfahren, Alten und Häuptlinge die uns führen, erneuern wir unseren Willen, geeint in unsrer Vielfältigkeit den Kampf, unabhängig von unseren Unterschieden untereinander, weiter zu führen.

Der letzte Satz, jedoch, ist leider immer noch mehr ein Wunschsagen denn Realität.


Brasilien, Ende März 2012

ArDaga C. Widor
(Empowermentaktivist und Touristenguide)
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Ergänzungen

Struktureller nationalismus

Anzifa 02.04.2012 - 19:08
Wollt ihr bald auch über das deutsche Volk berichten, welches von " anderen" bedroht ist??

Beiträge die keine inhaltliche Ergänzung darstellen

Zeige die folgenden 2 Kommentare an

antisemitischer — brückenschlag

Erschreckend — ArDaga