Kontroversen über die Krise

Sum_Mary 12.02.2012 09:24 Themen: Globalisierung Soziale Kämpfe
Die Sozialistische Initiative Berlin (SIB) veröffentlichte am 31. Januar diesen Jahres 13 Thesen und 5 Anti-Thesen zur Krise: http://arschhoch.blogsport.de/2012/01/31/casino-oder-ueberakkumulation/1/. Da die Thesen teilweise mit recht ausführlichen Begründungen versehen sind und Thesen und Anti-Thesen auch nicht symmetrisch angeordnet sind, soll im folgenden versucht werden, einen – auszugsweisen – knappen Überblick zu geben.
[@ Mods:Dieser Artikel ist eine Erstveröffentlichung und stellt den Inhalt der beiden Thesenpapiere dar, ohne selbst kommentierend in die Debatte einzugreifen.]

These 1:

„Als ‚Reformisten’ bezeichnen wir demzufolge Parteien, Personen, Strömungen, die den Kapitalismus zähmen / menschlicher machen wollen (etwa SPD und Grüne). ‚Gradualisten’ hingegen wollen den Kapitalismus ohne revolutionären Bruch sukzessive überwinden (etwa die LINKE oder Attac).“

Anti-These:

„Ein (kritischer) Begriff von Gradualismus, also eine Kritik an der Vorstellung, ‚den Kapitalismus ohne revolutionären Bruch sukzessive [zu] überwinden’, hat erst Sinn, wo denn überhaupt ein adäquater Begriff von Kapitalismus vorliegt. […]. ‚AntikapitalistInnen’, die auf der Grundlage eines nicht-marxistischen Begriffs von Kapitalismus gegen ‚den Kapitalismus’ sind […], sind […] ReformistInnen (und nicht GradualistInnen!) – auch, wenn sie nicht von Verbesserung, sondern von Überwindung des Kapitalismus sprechen.“

These 2:

„Wir würden (Mario Candeias folgend) sagen, dass letztere noch einen ‚realen Bezugspunkt’ hatten: Der Aktiencrash der asiatischen ‚Tigerstaaten’ 1979 oder der Ausverkauf russischer Staatsanleihen 1998 waren die Folge der Ausdehnung der kapitalistischen Akkumulation in neue Verwertungsräume. Die ‚Dot-com-Blase’ 2001 finanzierte die Entwicklung und Verbreitung der Internet-Technologie. Schon der US-Immobilienblase und in der Folge der Kredit- und Bankenkrise 2007/8 lag kein neues, auch nur potentiell tragfähiges Akkumulationsfeld / -modell mehr zu Grunde. Es ging um die Befeuerung der erlahmenden US-Konjunktur mit ‚heißer Luft’, kein Mensch (schon gar nicht in der Finanzindustrie) ging davon aus, dass diese ‚Subprime’- oder ‚Ninja’ (No income, no jobs)-Kredite jemals zurückgezahlt werden (können).“

Anti-These:

„‚Blase’ konnotiert hier, da sie einerseits einem ‚realen Bezugspunkt’ – und mehr noch: (implizit) ‚der Realität’ – gegenübergestellt und andererseits mit ‚heiße[r] Luft’ in Verbindung gebracht wird, […] Irrealität. Aber die Häuser, die die in den USA (und entsprechend in Spanien) gebaut wurden, waren kein Schein – sie wurden tatsächlich gebaut. […]. Und: Die Ausdrücke ‚Blase’, ‚platzen’ und ‚Ninja’ hören sich zwar dramatisch an, aber: Das Papier will ja das Spezifische, das Neue, der aktuellen Krise herausarbeiten. Ist denn wirklich neu, daß sich Investitionen nicht rentieren, weil die Nachfrage einbricht, bevor die gekauften Produktionsmittel einsatzfähig / die produzierten Waren (hier: Häuser und Wohnungen) verkauft sind? Ist es wirklich neu, daß Schuldner/in von Banken Pleite gehen?“

These 3:

Wir sollten „nicht nur den ‚zeitlosen’ Kapitalismus des Kapitals<7em> zu kritisieren, sondern Erklärungen für den heutigen Krisen-Kapitalismus zu liefern. […]. Da ist zunächst das geradezu irrwitzige Ausmaß, das die weltweite Finanzspekulation angenommen hat. […]. Das ist kein nur quantitatives Problem, sondern auch ein qualitatives, insofern als die damit einhergehenden Risikopotentiale und krisenverschärfenden Momente dramatisch sind / werden können.“

Anti-These:

„Diese Behauptung mag passieren, und daraus mögen dann auch Reformforderungen abgeleitet werden, die auch RevolutionärInnen unterstützen können, […]. Daraus folgt aber nicht, daß wir den Begriff ‚Kapitalismus’ und die politische Kritik am so bezeichneten Realobjekt durch den Begriff ‚Spekulations-Kapitalismus’ o.ä. und politische Kritik an einem so bezeichneten Realobjekt ersetzen sollten […]. Nicht einmal folgt daraus, hier und heute die Kritik am ‚Spekulations-Kapitalismus’ in den Mittelpunkt der Agitation zu rücken […].“

These 4:

Der heutige Kapitalismus ist im doppelten Sinne eine finanzmarktgetriebener: „Erstens im Sinne eines ‚Benchmark setzens’ für den Renditehunger (Ackermanns ‚Eigenkapitalrenditen unter 20 % sind nicht sexy’ ist noch in guter Erinnerung – bei realen Wachstumsraten von – wenn überhaupt – 2-3 %). Zweitens im Sinne von ‚Schmieröl’ für die Weltwirtschaft (Stichwort ‚Häuser als Kreditkarten’).“

Anti-These:

Der erste Punkt reduziert sich u.E. „auf die Banalität […], daß das Kapital grundsätzlich an einer möglichst hohen ‚Eigenkapitalrendite’ interessiert ist – wieviel davon durchzusetzen ist, hängt freilich von der konkreten politischen und ökonomischen Konjunktur ab. Aber darauf, daß Ackermann die Zahl ‚20 %’ nennt, läßt sich unserer Überzeugung keine Definition eines spezifischen Kapitalismus stützen. […]. Bliebe also das zweite Argument: die Finanzmärkte als ‚‚Schmieröl’ für die Weltwirtschaft’. Dieser (unstrittige) Punkt scheint uns sehr gut mit dem Formel ‚finanzmarktgestützter Kapitalismus’ ausgedrückt zu sein. ,Der Kapitalismus’ oder ‚die Realwirtschaft’ wird nicht etwa von den Finanzmärkten schikaniert oder tyrannisiert, sondern Industrie und Handel stützen sich auf die Finanzmärkte, die Finanzbranche reagiert auf Anforderungen von Handel und Industrie“.

These 5:

„‚Systemisch’ wirklich neu ist die Tatsache, dass innerhalb des rasant gewachsenen Sektors der Finanzspekulation die Wetten auf fallende Kurse (von allem möglichem) und auf das Eintreten negativer Ereignisse von Staatsinsolvenzen bis Naturkatastrophen (Black Swan Fonds, […]) ebenfalls rapide steigt. […]. Wenn (beachtliche und wachsende) Teile der herrschenden Klasse nicht nur auf den Untergang der Konkurrenz, sondern des Systems wetten, ist über den Krisenkapitalismus und die Dringlichkeit seiner Überwindung genug gesagt.“

Anti-These:

„Gewettet wird in den genannten Fällen aber gerade nicht auf den Untergang der (gesamten) herrschenden Klasse oder ‚des Systems’, sondern auf den Untergang von werten (einzelnen oder mehreren) Klassenbrüdern und -schwestern der werten Wettenden oder auf den Untergang bestimmter Nationalökonomien. Gewettet wird nicht auf den eigenen Untergang, sondern mit dem Ziel, auch dramatische Ereignisse vorteilhaft zu überstehen.“

These 6:

„In dieser klassenpolitischen Situation wird aber auch deutlich, dass Kämpfe um Reformen nicht mehr geführt werden können, ohne den Kapitalismus als System in Frage zu stellen (nicht weil die Kapitalisten 2011 ‚schlimmer’ oder ‚gieriger’ sind als die 1970, sondern weil die Zeit der großen Klassenkompromisse aufgrund der fehlenden ökonomischen Spielräume vorbei ist). Deshalb versucht die SIB, ihren bescheidenen Mini-Beitrag zu leisten zu einer geeinten, wahrnehmbaren, kampagnenfähigen anti-kapitalistischen Linken in Deutschland.“

Anti-These:

a) Es wird „kein einfaches Zurück zum Fordismus der 60er Jahren (mit seinem spezifischen Geschlechterarrangement [Familienernährer-Hausfrauen-Ehe] und seinen unökologischen Implikationen) geben. Aber ein ökologisch und feministisch (post)modernisierter new deal ist – auch ohne revolutionären Bruch – kein Ding der Unmöglichkeit.“

b) „Unseres Erachtens ist die Schaffung einer revolutionär-antikapitalistischen Organisation unabhängig davon richtig, wie groß oder klein die ökonomischen Kompromißspielräume des Kapitals sind.“

These 7:

Wir sollten in der Lage sein, „so konkret wie möglich erklären zu können, wie in einer nachkapitalistischen Welt Güter produziert, Dienstleistungen erbracht, Handel / Güterverteilung organisiert, Löhne und Renten gezahlt, Ersparnisse gesichert werden.“

Anti-These:

„uns [… scheinen] daneben und tendenziell vorrangig zwei weitere Aufgaben wichtig zu sein: (1.) zu erklären, warum uns denn eine reform-kapitalistische Perspektive nicht ausreicht […] und wie ein Kampf für eine weitergehende Perspektive aussehen soll […] sowie (2.), solange es nicht eine zum Stellen der Machtfrage ausreichende Anzahl von GegnerInnen der kapitalistischen Produktionsweise (und nicht nur des neoliberalen Kapitalismus) gibt, konstruktiv und vorwärtstreibend an Abwehr- und Reformkämpfen teilzunehmen.“

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Ergänzungen

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Sum_Mary 12.02.2012 - 09:47

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These 8

Hans-Jürgen 12.02.2012 - 13:08
These 8:
Entdeckt man das revolutionäre Subjekt nicht im Spiegel, wird es auch nirgendwo anders zu finden sein.

Was für ein scholaistisches Geschwurbel, da war die theoretische Diskussion in den 60ern schon weiter, vor allem differenzierter und radikaler.

"Die geschichtliche Tendenz der kapitalistischen Akkumulation führt mit Notwendigkeit den Untergang einer zwar geschichtlichen, aber ihren geschichtlichen Charakter permanent revozierenden Gesellschaftsformation herbei - sie führt mit Notwendigkeit zur letzten Krise des Systems, an der es unvermeidlich zerbricht. Damit führt Marx durchaus keine objektivistische Auffassung von den Naturgesetzen der kapitalistischen Entwicklung ein; denn die Krise, aus der der Kapitalismus keinen Ausweg mehr weiss, führt nicht ohne Zutun der Unterschichten in den Sozialismus, sondern etwa in ein dem neuen Stand der Produktivkräfte zwar angemessenes, aber barbarisches Herrschaftsverhältnis, einen industriellen Faschismus. Automation ist Kapitalvernichtung; sie bedeutet vom geschichtsphilosophischen Begriff der Produktivkräfte her, die das Kriterium für die objektive Möglichkeit der Machbarkeit der Geschichte darstellen, dass die Menschen von Arbeit befreit werden können; es könnten aber auch die Arbeiter abgeschafft und zu einem Heer von beherrschten und dem Wohlwollen des Herrschaftsapparates ausgelieferten Rentnern werden."
Hans-Jürgen Krahl

Produktion und Klassenkampf
 http://www.scribd.com/doc/22556689/Hans-Jurgen-Krahl-Produktion-und-Klassenkampf

Revolutionäre Theorie und existentielle Radikalität
 http://www.scribd.com/doc/32132121/Hans-Jurgen-Krahl-Revolutionare-Theorie-und-existentielle-Radikalitat

Aus Konstitution und Klassenkampf
 http://www.scribd.com/doc/47253385/Aus-Hans-Jurgen-Krahl-Konstitution-und-Klassenkampf

These 1

Ro-land Iona-s B-ialke 12.02.2012 - 22:52
""" „Als ‚Reformisten’ bezeichnen wir demzufolge Parteien, Personen, Strömungen, die den Kapitalismus zähmen / menschlicher machen wollen (etwa SPD und Grüne). ‚Gradualisten’ hingegen wollen den Kapitalismus ohne revolutionären Bruch sukzessive überwinden (etwa die LINKE oder Attac).“ """

Was ist mit der Synthese von sich selbst als revolutionär Bezeichnenden Gruppen und Einzelpersonen, beispielsweise am 1. Mai in Berlin, mit der Partei "Die Linke". Dort ist der 1. Mai ein Bündnis aud diesen "Reformisten" und aus den sich selbst als "revolutionär" bezeichnenden Gruppen und Einzelpersonen. (Also müsste es nach Eurer Definition heissen, dass die in Deutschland sich als revolutionär bezeichnenden Gruppen und Einzelpersonen zumeist "reformistisch" wären. Was dann bedeuten würde, dass "wirklich revolutionäre" Personen und Gruppen kaum Einfluss auf kleine Szenen hätten, geschweige denn auf das Gros der Bevölkerung Deutschlands.)

Was ist mit der These, dass deutsche reformistische und "sich selbst als revolutionär bezeichnende" Personen systematisch, aus arbitrager Sichtweise, konterrevolutionär sind? Oder anders ausgedrückt: Die eurozentrische und noramerikazentrische Krise der dortigen Bürgerlichen zu bekämpfen, bedeutet gleichzeitig die revolutionären Vorgänge, vielmehr evolutionären Vorgängen, der Arbeiter und Arbeiterinnen in der restlichen Welt zu bekämpfen. Und ebenso muss ein neuer unterdrückender Faktor mit in die These eingebezogen werden, nämlich China - früher ganz sich auch Pan-Arabien.

"Erbschuld" ist nur ein Begriff, der in Eure Thesen einfliessen sollte.

Revolution kann nie bedeuten, dass Europa und Schwarzafrika eine gleichhohe Verbesserung geniessen. Dies würde immer die Ausbeutung der schwarzafrikanischen Bevölkerung bedeuten. Gleichzeitig würde aber eine Begünstigung schwarzafrikanischer Menschen, die Krise der europäischen Menschen bedeuten.

Das europäische Bürgertum muss also erst aufgelöst werden, bevor Wir Geschwister in einer Revolutionären Auseinandersetzung sein können. Und das ist schliesslich Evolution.

Keine Krise

Rola-nd Io-nas Bia-lke 12.02.2012 - 23:08
Zudem gibt es in Nord-Amerika und Europa keine Krise. Nach bürgerlich-geldreicher Definitionsmacht zwar schon, jedoch sind ein paar Einschnitte in den bürgerlichen Fettwanst trotzdem keine Krise. Und auch keine Abkehr vom Bürgertum hin zu den Arbeiter und Arbeiterinnen. (Zumal diese letztendlich auch nicht von revolutionären/evolutionären Menschen angestrebt wird.)

Wenn hierzulande irgendwer an eine Krise glauben würde, dann würde er sich fettfressen, neben einer politischen Auseinandersetzung. Wenn Wir Uns hierzulande aber mal die "dünnen Aktiven" anschauen, dann zweifel ich stark daran, dass sie ernsthaft an einer Krise oder einen Zusammenbruch des europäischen Staatensystems glauben.

Ich spreche davon, dass in einer Krise plötzlich die Verteilzentren (heutztage: Einkaufszentren) leer oder wenig befüllt sind. Und nein, ich spreche nicht von einer kulturellen Krise, denn ohne Fernsehen (Sportschau, Theater, Film) kann man immernoch am kulturellen Leben teilnehmen, tanzen, ballspielen, ein Theaterstück machen, etc.! Dazu brauch man garnichts - selbst schwarzafrikanische Arbeiter- und Arbeiterinnenkinder können noch Fussball zusammen spielen, auch ohne einen Ball. Aber Leben ohne etwas auf den Knochen und ohne etwas zu essen ist schon schwer.

Und ja, auch das was ich hier schreibe ist noch etwas verkürzt.