Chile: Über die selbstverwaltete Schule A-90

Lucho Espinoza Gonzales 09.02.2012 14:00 Themen: Bildung Soziale Kämpfe Weltweit
SchülerInnen, LehrerInnen und Eltern verwalteten die Schule A-90 in Santiago de Chile monatelang selbst. Ein Gespräch mit Juan Francisco Gamboa, Lehrer dieser ehemals selbstverwalteten Schule, die in der letzten Dezemberwoche polizeilich geräumt wurde.
Mehr als sieben Monate lang wurden über 500 Schulen in Chile besetzt gehalten. Wie hat sich diese Bewegung entwickelt?

Die Bewegung für eine zu 100 Prozent kostenlose Bildung begann im Mai 2011. Einen Monat später begannen die Schulbesetzungen. In Chile muss man monatlich zwischen 400 und 1200 US-Dollar für ein Studium zahlen, der Mindestlohn beträgt lediglich 380 US-Dollar im Monat. Die Studierenden und ihre Familien sind gezwungen, sich bei Banken und beim Staat zu verschulden. Öffentliche Schulen sind unterfinanziert. Diese Situation hat tausende StudentInnen und SchülerInnen veranlasst, zu kämpfen.

Das wichtigste ist jedoch, dass sich ein Sektor der Avantgarde entwickelte, welcher die AnführerInnen der Bewegung, die im September den „Dialogtisch“ mit der Regierung akzeptierten und am Ende dafür garantierten, die Bewegung auf eine parlamentarische Diskussion über den Bildungshaushalt abzuwenden, scharf kritisierte. Ein Sektor, der sich durch die Auseinandersetzung mit den reformistischen AnführerInnen ausdrückt, und der am 24. und 25. August der Polizei in den Straßen gegenüber stand, welcher die dem Trotzkismus nahe stehende Liste D der „Universität de Santiago“ unterstützte, die von 2.000 Studenten gewählt wurde, im zweiten Wahlgang jedoch gegen die rechte Liste verlor, welche von allen Verlierern des ersten Wahlganges, einschließlich der Kommunistischen Partei (PC), gewählt wurde.

An deiner Schule hatten sich die Beteiligten für eine Besetzung mit selbstverwaltetem Unterricht entschieden. Wie kam es dazu?

Der Auslöser war einer Petition von SchülerInnen, die zu diesem Zeitpunkt die Besetzung seit drei Monaten aufrecht erhielten. Die Aufnahme des Unterrichts half dabei, SchülerInnen einzubeziehen, die die Ziele der Bewegung unterstützen, aber keinen Grund sahen, in die Schule zu gehen, wenn kein Unterricht stattfindet. Da die Schulleitung – welche in Chile vom lokalen Bürgermeister ernannt wird – das Schulgebäude nicht betreten durfte, ergab sich die Notwendigkeit, Entscheidungen zu treffen, die vorher ausschließlich von der Schulleitung getroffen worden waren: In welchem Zeitraum arbeiten die LehrerInnen? Halten wir uns an die traditionellen Lehrpläne, oder sollen wir die SchülerInnen auch in gesellschaftliche Diskussionen einführen? All das haben wir gemeinsam mit ihnen und den Eltern entschieden. So fiel die Verwaltung der Schule an uns. In der Praxis war das, was wir machten, eine Infragestellung der Machtstrukturen im Bildungssystem, die wir von der Pinochet-Diktatur geerbt haben.

Wie funktioniert eine Schule unter Selbstverwaltung?

Wir versammelten LehrerInnen, SchülerInnen und Eltern, um über die Fragen der Bildungsproteste, genauso wie über die tägliche Funktionsweise der Schule zu diskutieren. Im Allgemeinen ist das Bildungssystem in Chile sehr repressiv: Zum Beispiel dürfen SchülerInnen das LehrerInnenzimmer nicht frei betreten und müssen eine Uniform tragen. Wir brachen mit diesen Traditionen, die nur dazu dienen, die Jugend zu disziplinieren: Sie betraten das LehrerInnenzimmer, wann sie wollten, und sie kamen in Straßenkleidung und mit Ohrringen zur Schule. Wir schufen den bisher fehlenden Respekt der LehrerInnen gegenüber den SchülerInnen. Es entwickelten sich freundschaftliche Verhältnisse, wie das in einer normalen Schule unmöglich ist. Wir luden Intellektuelle wie David Harvey und KünstlerInnen ein, die HipHop-, Theater- und Videokurse anboten.

Welche Verbindungen gibt es zwischen den aktuellen Protesten und der „Pinguinrevolte“ der schwarz-weiß-uniformierten SchülerInnen im Jahr 2006?

Die Generation, die die Bildungsproteste im Jahr 2006 angeführt hat, studiert oder arbeitet heute. Diesmal wussten alle Studierenden an der Basis, dass die Bewegung nicht „verkauft“ werden darf, wie es vor fünf Jahren geschah, als die Führung der SchülerInnenbewegung, die dem regierenden Mitte-Links-Bündnis „Concertación“ nahe stand, sich an einem „runden Tisch“ zum Thema Bildung beteiligte, der die Diskussion ins Parlament verschob und die Bewegung ohne Ergebnisse auslaufen ließ.

Welche Perspektiven hat die aktuelle Bewegung?

Die Regierung Piñera hat den SchülerInnen und Studierenden nichts gegeben. Abertausende wurden von ihren Schulen geworfen. LehrerInnen wie wir, die die Bewegung unterstützten, wurden entlassen. Doch das Problem bleibt bestehen. Darüber hinaus wird die Wirtschaftskrise in Chile Wirkung zeigen: Es ist sehr wahrscheinlich, dass die Proteste in einem mehr oder weniger kurzen Zeitraum wieder anfangen. Außerdem muss berücksichtigt werden, dass bisher die ArbeiterInnen nicht kämpften, weil ihre Verbände sie mehr oder weniger ruhig hielten. Das Chile, das ein Beispiel für Stabilität und einen erfolgreichen Neoliberalismus war, ist vorbei, und wird nicht mehr wiederkommen. Wir mit unserer Besetzung haben gezeigt, dass ein Bildungssystem unter Kontrolle der Lernenden und Lehrenden möglich ist. Das ist hoffentlich ein Beispiel für weitere Proteste in Chile und für Kämpfe in anderen Ländern.

Interview: Lucho Espinoza Gonzales, Santiago de Chile

Eine kürzere Version dieses Interviews erschien am 9. Februar in der jungen Welt.
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Ergänzungen