"Das System ist nicht kaputt..."

Theresia Reinhold 14.12.2011 23:43
Es wurde so gemacht."
"Occupy" gibt es auch dort, wo mensch es nicht auf den ersten Blick sieht. Ein kurzer Bericht über Occupy Hannover.
Die Luft ist kühl, eigentlich schon kalt, aber trocken. Noch ist kein Schnee gefallen, es regnet nicht und nur wenig Wind weht. Bald wird es dunkel, die Weihnachtsbeleuchtung verbreitet ein heimeliges Gefühl. Alles ist erfüllt vom Stimmengewirr der Menschen, dem Geruch von Glühwein, gebrannten Mandeln und dem nahenden Winter. Menschen drängen sich aneinander vorbei, schnell redende Kinder in dicken Jacken steckend und mit Mützen auf dem Kopf. Am Arm der Eltern baumelt die Einkaufstüte, das Portmonee liegt locker in der Hand. Selbst die Sanitäter mit ihren Hunden wirken entspannt, den Schein der Lampen auf ihrem Gesicht.
Wenn man den Platz betritt, muss man kurz Ausschau halten, bevor die Schilder ins Auge fallen: Occupy Hannover. Geld arbeitet nicht.
Samstag Nachmittag, 14 Uhr versammeln sie sich auf dem Kröpcke Platz in Hannover, unweit des Hauptbahnhofes. Zwei Stunden lang demonstrieren zwei Dutzend Menschen inmitten von Bekleidungsgeschäften bekannter Namen, zwischen Hip Hop Straßenperformance und einem schottischen Musiker, in Blickrichtung des Weihnachtsmarktes. Sie kommen aus verschiedensten gesellschaftlichen Hintergründen, sind nicht auf eine Alterklasse reduzierbar, bilden ein Sammelbecken von KritikerInnen und haben einen Konsens: Der Kapitalismus und die damit verbundene Korruption sind der Niedergang unserer Gesellschaft, unseres Staates und des gesamten globalen Systems.
„Occupy“ ist eine Bewegung, welche auf den Geschehnissen des Arabischen Frühlings fußt. Im Dezember 2010 begannen in Tunesien Proteste und Rebellionen, die sich innerhalb kurzer Zeit nach Ägypten, Libyien, Syrien, Marokko und Jordanien ausbreiteten. Es kam zu Amtsenthebungen Regierender, Patt-Situationen und Bürgerkriegen, entschiedenen Eingriffen seitens der NATO und umfassenden sozialen Protesten, die sich von kurzen Sätzen bei Twitter und Facebook zu Massenbewegungen entwickelten. Im Mai diesen Jahres versammelten sich erstmals die Bürger Spaniens auf der Straße, um gegen immense soziale Kürzungen und die Bankenrettung seitens der Europäischen Union zu demonstrieren.
Nun, drei Monate nach dem 15. Oktober, als in 1000 Orten in mehr als 80 Ländern Demonstrationen, Protestaktionen und teilweise Besetzungen stattfanden, engagieren sich in Hannover nach wie vor Menschen.
Eine Frau hockt zwischen ihnen und arbeitet noch an einem großen, künstlerischen Schild. „Wenn sie uns nicht träumen lassen, werden wir sie nicht schlafen lassen. Aufwachen!“, steht darauf in grüner, roter und schwarzer Schrift, daneben ein klingelnder Wecker gemalt. Sie trägt eine weiße Fellmütze, eine unauffällige Brille und lacht, wenn man sich ihr nähert. Für die wenigen DemonstrantInnen weiß sie eine Erklärung. Es handele sich um Abnutzungserscheinungen. In Hannover gibt es jeden Samstag Demonstrationen, werden Flyer verteilt, Aufklärung betrieben. Zusätzlich finden sich jeden Montag um 19 Uhr im Raschplatzpavillon ungefähr 25 Menschen zu einer Versammlung zusammen. „Aber nicht immer die gleichen 25 Menschen.“ Es gibt Fluktuation um einen harten Kern. Sie selbst ist auch in einer Arbeitsgruppe engagiert, die sich jeden Mittwoch trifft. Drei Termine pro Woche für „Occupy“. Auf die Frage, ob sie sich selbst von der Krise, der Finanzkrise, betroffen sieht, antwortet sie, dass sie Glück habe, da sie Beamtin ist, allerdings wurden Weihnachtsgeld, 13tes Monatsgehalt und Urlaubsgeld schon vor Jahren gestrichen.
Bereits bei den 68ern war sie aktiv und berichtet, wie damals die Hippie Bewegung um die Welt ging. Solche Vorgänge kippten immer irgendwann, werden ruhig, aber es komme eine Zeit in der ein Rücksog stattfinde, die Welle wieder anrollt. Als die jetzigen Demonstrationen begannen, seien viele der heute noch immer Aktiven erleichtert gewesen, denn endlich schien der Wandel zu beginnen. Es stellte sich ein Gefühl ein, als ob sie die letzten Jahre in einem Wartesaal gesessen hätten und nun bewege sich ein riesiger Tsunami um den Globus. Doch diesmal, darauf vertraut die Frau, wird eine schnelle Veränderung eintreten. „Man weiß nie, wie eine Geburt ausgeht, ob Mutter und Kind gesund sind, oder sterben werden. Aber dass die Geburt stattfindet, steht fest.“ Bis zum Frühjahr sollten Veränderungsvorschläge und Grundlagen erarbeitet werden. Die Allgemeine Erklärung der Menschenrechte müsse wieder reaktiviert werden, die Abwendung oder Herabstufung derselben dürfe nicht weiter voranschreiten, sie müsse die Basis für globale, echte Demokratie bilden. „Real Democracia ya!“, „Real Democracy Now!“, „Echte Demokratie jetzt!“ ist und bleibt der wegweisende Slogan.
Es Frankfurt und Berlin, den beiden Vorreiterstädten der deutschen „Occupy“ Aktionen, gleichzutun und ein Camp zu errichten, diese Idee stand auch im Raum, allerdings haben sich die Hannoveraner dagegen entschieden, denn „es schluckt zu viel Energie“. Stattdessen arbeiten sie lieber an Protestideen, an Informationsmaterial für die Menschen, die bisher noch nichts oder wenig über die globalen Aktionen und deren Hintergrund gehört haben.
Arbeiten sie an Forderungen? „Nein“, lacht eine zweite Frau, „dann könnten wir ja gleich eine Partei gründen.“ „Occupy“ sei nicht dafür da, Forderungen aufzustellen, die verbindlich für jeden Menschen sind. Denn jedeR hat andere Themen, die sie oder ihn beschäftigen, aber in diesem Sammelbecken der Vielfalt ginge es darum, dass das heutige System im Zusammenbrechen begriffen ist. Es muss „eine neue Welt aus Respekt und Teamwork“ gegründet werden. Deshalb werden im Januar zwei offene politische Salons im Medienhaus Hannovers stattfinden. Diese werden frei von Lobbyisten und Politikern, aber zugänglich für jeden Menschen sein, der sich interessiert, mitdiskutieren, sich austauschen möchte. Die Mainstream Medien gäben den Bürgern, selten eine Stimme. Denjenigen, die wirklich betroffen sind, „In 30 oder 90 Sekunden kann man nicht über die Krise sprechen. Entweder man nimmt sich Zeit, oder man lässt es gleich bleiben.“ Überhaupt gingen die Medien falsch mit der Bewegung um, diskreditieren sie, da der Fokus immer auf Forderungen und konkreten Beschwerden liegt. „Occupy“ befinde sich jedoch in einem Prozess. „Ich glaube, dass wir in drei Jahren aus dem Gröbsten raus sind. Dann folgen nur noch zehn Jahre Kleinarbeit.“ Ihr Blick ist fest, in ihren Augen leuchtet ein kämpferisches, hoffnungsvolles Feuer der Vorfreude. Die Menschen, die heute hier auf dem Kröpcke stehen, sind idealistisch aber vor allem bereit, Veränderungen selbst zu beginnen. Ihr Engagement ist ansteckend, die Motivation echt.
Die PassantInnen reagieren unterschiedlich. Einige wirken völlig verschreckt, wenn sie zum Thema Finanzkrise angesprochen werden. Ein paar wollen gar nicht zuhören, oder flüchten. Viele kommen jedoch von selbst zum Infotisch, nehmen sich Flyer mit, lassen sich erklären oder diskutieren, egal ob sie dafür oder dagegen sind, bereitwillig. Vernetzung ist einer der wichtigsten Grundpfeiler einer solchen Bewegung. Aber nicht nur online Portale, soziale Netzwerke spielen dabei eine Rolle, sondern vor allem der persönliche Kontakt zu Menschen.
Mit einem langen Blick auf die vorbeigehenden Menschen und fester Stimme, sagt sie, dass jedeR einzelne von ihnen ein Leuchtturm in dieser Welt sei, wichtig ist und viel mehr zurück bekäme als er oder sie gibt. Die Reaktionen der Menschen geben Mut. Sie selbst habe schon so viele Flyer verteilt, dass sie es heute lieber den anderen überlassen hat und sich in Ruhe unterhält.
Irgendwann streift sie ihre Mütze ab und erwähnt lachend, dass sie vor kurzem eine Chemotherapie hatte. Sie setzt die Mütze wieder auf und zuckt die Schulter, nicht so schlimm, Engagement hat schon immer geholfen.
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Ergänzungen