Freilassung auf Schwäbisch

Thomas Meyer-Falk 16.11.2011 22:16 Themen: Blogwire Repression
In Zeiten, in welchen plötzlich Milliarden bei einer „Bad Bank“ auftauchen („55,5 Milliarden-Fund“), fragen sich vielleicht manche, ob man zumindest bei der Justiz in der Lage ist, einigermaßen korrekt zu rechnen. Auch wenn laut Eigenwerbung der Landesregierung die Baden-Württemberger „alles können außer Hochdeutsch sprechen“, stehen zumindest die Rechenkünste der Staatsanwaltschaft Stuttgart in Zweifel.
Zur Vorgeschichte


Der immer etwas verwegen aussehende Michael K. saß seit circa zwei Jahren in der JVA Bruchsal ( http://www.jva-bruchsal.de/), wo er mehrere Freiheitsstrafen, u.a. auch eine angeblich „fällig“ gewordene Bewährungsstrafe, verbüßen musste. Zuletzt wurde er verurteilt, weil er einen Apotheker „erpresst“ haben soll, ihn mit morphinhaltigen Tabletten zu versorgen (Verstoß gegen das Arzneimittelgesetz), hinzu kam noch „Fahren ohne Führerschein“. Angesichts einer schon älteren Beinverletzung (die Polizei hatte ihn vor Jahren angeschossen), die immer wieder zu starken Beschwerden führte, bis hin zur Gefahr der Amputation des Beines, bekam K. mehrmals am Tag von der Haftanstalt morphinhaltige Medikamente. Er hatte Kontakt zu ein paar Mitgefangenen, lebte aber ansonsten zurückgezogen in seiner Zelle.


Antrag auf Freilassung 2010


Schon 2010 bemühte sich Michael K. um eine Haftentlassung. Diesem Wunsch traten JVA und Staatsanwaltschaft in ihren jeweiligen Stellungnahmen entgegen und das Verfahren schien in Vergessenheit geraten zu sein. Wie beim Landgericht Karlsruhe nicht unüblich, staubten die Akten lange Zeit vor sich hin. Zumindest alle paar Monate jedoch schien Richterin am Landgericht H. in den Aktenstapel zu blicken und bat dann wiederholt die Stuttgarter Staatsanwaltschaft zu erläutern, auf welcher Rechtsgrundlage man Michael K. überhaupt in Haft halte. Im Spätherbst 2011 nahm die Sache dann Fahrt auf, und am 10.11.2011 wurde K. ein Beschluss der besagten Richterin zugestellt. Diese hatte am 03.11.2011 entschieden, sie sehe sich nicht in der Lage über den Antrag auf Entlassung zur Bewährung zu befinden, da derzeit „keine Rechtsgrundlage“ für eine Freiheitsentziehung bestehe.

Mangels eigener sachlicher Zuständigkeit, so Richterin H., könne sie jedoch nicht die – eigentlich gebotene – sofortige Haftentlassung anordnen, hierum habe sich Herr K. selbst zu bemühen.

Mit Hilfe eines Mitgefangenen richtete K dann noch Briefe an Landgericht und Staatsanwaltschaft und forderte seine sofortige Haftentlassung.


Was war geschehen?


Offenkundig hatte irgendwer, mutmaßlich bei der Staatsanwaltschaft Stuttgart, die Übersicht verloren. Man ging davon aus, für einen angeblich erfolgten Bewährungswiderruf, den er zur Zeit verbüßte, läge eine (zwingend erforderliche) richterliche Entscheidung vor. Dies scheint jedoch nicht der Fall zu sein, so dass die Freiheitsentziehung letztlich rechtswidrig war, dies wahrscheinlich schon seit rund 400 Tagen.


Freilassung am 11.11.2011


Am Freitag, dem 11.11. feierten zahlreiche Närrinnen und Narren quer durch Deutschland den Beginn der „5. Jahreszeit“, so auch in Baden-Württemberg. Jedoch war es kein Faschingsscherz, als Amtsinspektor S. gegen 11.45 Uhr bei Herrn K. erschien und diesen aufforderte, er möge umgehend seine Habe zusammenpacken, denn er – K. – werde nun entlassen.


Zwischenepisode: Entlassungsuntersuchung durch Dr. M.


Bevor K. freilich beginnen konnte zu packen, musste er noch rasch zur vorgeschriebenen „Entlassungsuntersuchung“ durch den Gefängnisarzt Dr. med. M. (kritisch zu M. vgl.  http://de.indymedia.org/2011/09/316069.shtml). Wie mir K. hernach berichtete, fühlte er sich von Dr. M. allein gelassen. Denn wie weiter oben schon erwähnt, ist K. auf die Einnahme von Medikamenten zwingend angewiesen, jedoch weigerte sich laut K. der Anstaltsarzt, die für die nächsten drei Tage (bis zum darauffolgenden Montag, schließlich war es schon Freitag, 12 Uhr) notwendigen Medikamente mitzugeben. Dies sei nicht seine, des Arztes, Aufgabe, außerdem könne sich K. noch bei der Notaufnahme eines Krankenhauses vorstellen, diese würde ihm „sicher“ helfen.

Entsprechend weigerte sich K. zu unterschreiben, dass er keine Regressionsforderungen gegen die Justiz geltend machen werde.

Nach der Rückkehr vom Arzt in den Zellentrakt, blieb nur noch wenig Zeit, sich von ein paar Bekannten zu verabschieden. Wie es unter Gefangenen üblich ist, ließ er fast alles, was er in seinem Haftraum hatte, in der Anstalt zurück, damit es die zurückbleibenden Gefangenen unter sich aufteilen könnten.


Erste Schritte nach der Freilassung


Wie mir K. Minuten vor seiner Entlassung erzählte, sei er „ziemlich durch den Wind“; er habe zwar mit „irgendwas“ gerechnet, allerdings frühestens in ein oder zwei Wochen. Jedenfalls werde er nun „erstmal mit dem Taxi zum Bahnhof fahren“; dort wolle der in einer Kneipe „das erste Bier seit Jahren“ trinken, um dann mit dem ÖPNV zu seiner schon betagten Mutter zu fahren, die in der Nähe von Stuttgart lebt.


Was lernen wir aus dem Fall „Michael K.“?


Nicht nur Banker verrechnen sich, auch Staatsanwälte ganz offenbar, wenn sie einen Menschen hunderte Tage einsperren ohne Rechtsgrundlage hierfür. Aber Scherz beiseite: immer wieder ist in Fachzeitschriften von einem „Übergangsmanagement“ die Rede, also die Gestaltung und Begleitung des Übergangs von der Haft in die Freiheit.

Dass die Justiz auf Fälle wie die von K. nicht vorbereitet ist, hat die Anstalt deutlich dokumentiert; dabei ist es kein singuläres Geschehen, wie schon mein Bericht über die gleichermaßen spontan erfolgte Haftentlassung Ralf Schülers belegt ( http://de.indymedia.org/2010/08/288316.shtml). Ein Gefangener erlebt es dann als zynisch, wenn ihm angesonnen wird, er möge sich (ohne Krankenversicherung! Denn Gefangene sind, entgegen landläufig verbreiteter Ansicht, nicht KV-versichert) doch bei einer Notaufnahme eines Krankenhauses um die lebensnotwendigen Medikamente bemühen, bis er dann versichert ist und einen Arzt aufsuchen kann.

Könnte K. nicht zu seiner schon betagten Mutter fahren, um dort für die ersten Tage Unterschlupf zu finden, er säße auf der Straße; denn die „Verantwortlichkeiten“ der Haftanstalt enden am Knasttor. Berücksichtigt man, dass K. nach Ansicht des Gerichts offenbar schon lange Zeit illegal in Haft gehalten wurde, erweist sich das Vorgehen als doppelt dreist.

Zumindest dokumentiert der Fall Michael K.s die Diskrepanz zwischen grauer Theorie und dem wirklichen Leben!



Thomas Meyer-Falk, c/o JVA-Z. 3113
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Ergänzungen