[B] 06.Okt.: Demo gegen Pogrome in CZ und BG

"Zusammen handeln!" 10.10.2011 17:13 Themen: Antifa Antirassismus Weltweit
Aufgrund der rassistischen Ausschreitungen und Übergriffe gegen die ansässigen Minderheiten der Roma der Tschechischen Republik und in Bulgarien und der passiven Haltung der Regierungen hatte die „Zusammen-Handeln!“-Kampagne zur Demonstration am 6. Oktober nach Berlin-Mitte mobilisiert. Während der Demo erfolgte die Übergabe der Petitionen, die die Forderungen der Kampagne gegenüber der tschechischen und der bulgarischen Regierung, sowie der europäischen Kommission bezüglich des Umgangs mit den antiziganistischen Pogromen beinhalten.
Eine kleine Zusammenstellung von Presseartikeln und Videos (Stand: Anfang Sept. bis. bis Anfang Okt.) zum Thema kann hier eingesehen werden.
Bilder der Demo können hier angesehen werden.

Um 16 Uhr versammelten sich über zweihundert Menschen zur Auftaktkundgebung an der tschechischen Botschaft, um ihre Solidarität mit den Opfern der Pogrome zu bekunden und der Petitionsübergabe beizuwohnen, die pünktlich und reibungslos verlief. Der Diplomat übernahm das Dokument mit der Zusage, es an die verantwortlichen Stellen weiterzuleiten. Währendessen wurde der erste Redebeitrag, der die Chronik der Ausschreitungen, die seit Ende August in Südböhmen andauern, veranschaulichte, verlesen.

Der Demonstrationszug bewegte sich danach in Richtung der Europäischen Kommission, wo die nächste Petitionsübergabe stattfinden sollte. Die Route führte an der rumänischen Botschaft vorbei. Hier wurde im Vorbeigehen ebenfalls ein Redebeitrag verlesen, da auch in Rumänien große Ressentiments der Mehrheitsbevölkerung gegenüber den Roma mit gleichzeitiger staatlich verordneter, struktureller Diskriminierung existieren.

Ein Vertreter der Jugendorganisation von Amarod Rom, eine Selbstorganisierung von Roma, hielt eine Rede, die die aktuelle Situation in Europa, aber auch die der historischen Kontinuität der Verfolgung zusammenfasste und allgemeine Forderungen, wie die Durchsetzung der Menschenrechte mit allen realpolitischen Konsequenzen, formulierte. Ein weiterer Beitrag widmete sich der medialen Darstellung von Roma in Deutschland.

Der Demozug, der inzwischen auf rund 300 Teilhener*innen angewachsen war, legte an der deutschen Vertretung der europäischen Kommission unter den Linden eine Zwischenkundgebung ein um die Petition des Bündnisses zu übergeben. Hierbei kam es zu Komplikationen, da die Polizei die Zwischenkundgebung in eine Seitenstraße verlegen wollte. Doch die Demoleitung verweigerte sich erfolgreich, sodass die Kundgebung wie geplant abgehalten werden konnte. Auch erschien - trotz Verabredung - der zuständige Diplomat zunächst nicht. Die Forderungen wurden darum über den Lautsprecher so lange laut vorgelesen, bis der Zuständige mit 20 Minuten Verspätung erschien und die Petition entgegennahm. Während der Übergabe kam es mit dem Vertreter zu einem interessanten Gespräch, in dem er äußerte, dass das Problem in der nationalstaatlichen Zuständigkeit liege und "Sanktionen gegen Mitgliedstaaten unpopulär" seien. Dennoch werde das Dokument als Petition gewertet und sollte dem Petitionsausschuss übergeben werden. Somit hat die „Zusammen-Handeln!“-Kampagne ein Statement in dieser Sache bei der EU eingereicht.Während der Zwischenkundgebung wurde auf die Situation in Ungarn, wo sich mehr und mehr postfaschistische (Gesellschafts)Strukturen etablieren konnten, und auf die historischen Wurzeln des europäischen Antiziganismus verwiesen.

An der bulgarischen Botschaft wurde während der Petitionsübergabe die Chronik der rassistischen Ausschreitungen in Bulgarien vorgelesen, die ihren Anfang Ende September genommen und sich flächenbrandartig innerhalb weniger Tage im ganzen Land ausgebreitet haben. Der Staatsangestellte legte während der Überreichung der Petition zunächst eine gewisse Abwehrhaltung an den Tag, die vor allem aus der ungenauen Kenntnisse der Vorgänge in seinem Heimatland resultierte.

Wir schätzen die Demonstration auf mehreren Ebenen als konstruktiv ein. Die Zielsetzung der Demonstration war ein direktes Eingreifen mit klaren Forderungen an die Politik, die direkt über die Vertreter der staatlichen Administrationen an die Regierungen kommuniziert wurden. Damit wurde der Tatsache Rechnung getragen, dass die Roma und Sinti weder eine starke, breit getragene Interessenslobby im europäischen Kontext im Rücken haben, noch Verbände vorhanden sind, die die Erinnerungspolitik bezüglich des nationalsozialistischen Genozids an den Roma und Sinti und die entsprechende Sensibilisierung für das Thema in den europäischen Diskurs einflechten. Wir haben in einer Zeit der sozialen und lateralen Entsolidarisierung gezeigt, dass grenzüberschreitende Solidarität der einzige Lösungsansatz für innereuropäische Krisen ist. Die Unruhen in den armen EU-Staaten sind eine systemimmanente, gesamtgesellschaftliche Problemstellung, die nur als solche betrachtet zu lösen ist.

Gleichzeitig waren viele Aktivist*innen zugegen, die sich schwerpunktmäßig mit diesem Themenkomplex beschäftigen, als auch Menschen, die durch die Heftigkeit der Pogrome zur Demo mobilisiert werden konnten.

Wir danken allen Beteiligten, die trotz kurzfristigen Aufruf und sinnflutartigem Regen erst dazu beitrugen, das, der antirassistische Protest auf die Straßen Berlins getragen werden konnte.

Wer nicht bei der Demo sein konnte bzw. weiterhin Interesse daran hat, das sich die Bedingungen für Sinti und Roma verbessern, ist dazu aufgerufen sich an der Faxaktion der „Zusammen handeln!“ - Kampagne zu beteiligen.

Kampagne „Zusammen handeln! - Gegen rassistische Hetze und soziale Ausgrenzung!“
(10. Oktober 2011, Berlin)



Redebeiträge:
- Zur aktuellen Situation in Tschechien
- Zur aktuellen Situation in Bulgarien
- Situation der Sinti und Roma in Rumänien- Situation der Sinti und Roma in Ungarn
- MEDIENgedanken: Berichterstattung über Sinti und Roma


Petitionen:
Tschechien: als Text | als PDF | als JPG
Bulgarien: als Text | als PDF | als JPG
Europäische Kommission: als Text | als PDF | als JPG
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Ergänzungen

Text zu Antiziganismus

Peter P. 10.10.2011 - 19:26
n der aktuellen "Straßen aus Zucker" gibt es einen kurzen Text, der sich mit Antiziganismus beschäftigt:

"Lustig ist‘s Verfolgtenleben?
Über die Diskriminierung und Verfolgung von Roma und Sinti, einen bisher fast vergessenen Teil des nationalsozialistischen Vernichtungswahns, und die Kontinuitäten in der heutigen Gesellschaft.

„Wir versprechen eine Endlösung der Zigeunerfrage“, lässt die ultrarechte tschechische „Nationale Partei“ in einem Werbespot verlauten. In Frankreich werden mehrere tausend Roma
in den Kosovo abgeschoben. In Ungarn patrouillieren ultranationalistische Garden durch Roma-Siedlungen, um „die Bevölkerung vor den Zigeunern zu schützen“. In Italien warnt Berlusconi: „Milan darf nicht zu einer Zigeunerstadt werden.“ In Berlin sprechen Zeitungen von „Bettel-Roma“ und in Leverkusen werden Brandsätze auf ein Roma-Haus geworfen. Der Antiziganismus, also die konkrete Feindschaft gegen als „Zigeuner“ stigmatisierte, ist seit etwa zwanzig Jahren wieder am Erstarken und hat eine lange Vorgeschichte.

Existierten die „Zigeuner“ nicht...
Schon im Mittelalter wurden Roma und Sinti aus deutschen Städten und Gemeinden vertrieben und verjagt, während parallel die ersten Zuschreibungen und Stereotype entstanden: Zum Beispiel, dass sie andauernd umherziehen, betteln, stehlen, Kinder entführen und nicht arbeiten würden. Ab Mitte des 19. Jahrhunderts wurden Sinti und Roma dann für angebliche „Kriminalprävention“ systematisch erfasst und es gab diverse „Umerziehungsversuche“. Oft wurden ihre Kinder in Heime gebracht.
Im Nazideutschland wurden ab 1935 die Nürnberger Rassengesetze, welche sich anfangs nur auf Juden und Jüdinnen bezogen, auch auf „Zigeuner“ angewandt. 1938 ordnete Himmler die „endgültige Lösung der Zigeunerfrage aus dem Wesen dieser Rasse heraus“ an. Nach dem Beginn des Zweiten Weltkrieges wurden insgesamt 500.000 Sinti und Roma in den Vernichtungslagern systematisch ermordet.
Doch auch nach 1945 setzte sich die Diskriminierung und Ausgrenzung fort. So entschied 1956 der Bundesgerichtshof bezüglich der Wiedergutmachungsansprüche von Roma und Sinti,
dass diese bis 1943 nicht aufgrund von „rassenideologischen Gesichtspunkten“, sondern aufgrund der „asozialen Eigenschaften der Zigeuner“ verfolgt worden seien und ihnen insofern für die Verfolgung vor 1943 keinerlei Entschädigungszahlungen zuständen.
Dieses Urteil wurde erst 1963 teilweise revidiert. Doch auch die lang erkämpften „Entschädigungen“ beliefen sich auf Zahlungen von höchstens 5000 DM pro Person. Erst 1982 wurde die gezielte Ermordung und Vernichtung, für welche heute der Begriff „Porrajomos“ („das Verschlingen“) verwendet wird, durch den damaligen Bundeskanzler Helmut Schmidt als Völkermord anerkannt. Weitere Zahlungen gab es dennoch nicht. Und Sinti und Roma werden noch immer von staatlichen Behörden gesondert erfasst.

..der_die Antiziganist_in würde sie erfinden
Bis heute finden sich ausgeprägte antiziganistische Stereotype und Klischees in der Gesellschaft. Bei einer Umfrage des American Jewish Committee in Deutschland antworteten im Jahr 2002 mehr als die Hälfte der Befragten verneinend auf die Frage, ob sie sich Sinti und Roma als Nachbarn vorstellen könnten.
Die Stereotypisierung sowie die daraus resultierende Verfolgung von Roma und Sint sind in der Gesellschaft, in der wir leben, kein Zufall: In einer Gesellschaft, in der Menschen nach ihrer Produktivität beurteilt werden, ist der Wunsch nach Faulheit illegitim und wird abgespalten und auf andere projiziert. Für das vermeintliche Ausleben der unterdrückten Begierde werden andere gehasst. Die „Zigeuner“ stehen im Weltbild des_der Antiziganist_in oft sowohl für Freiheit und Ungebundenheit als auch für Schmarotzertum und Arbeitsverweigerung. Der Hass auf vermeintlich Faule bringt auch die immerwährende eigene
Angst vor dem Abgleiten in die „Asozialität“ als unproduktives Element in der nationalen Leistungsgesellschaft zum Vorschein. Doch auch wenn der Antiziganismus erst im kapitalistischen Kontext richtig verstanden werden kann, darf das nicht verdecken, dass eine wesentliche Verbesserung der Lebenssituation von Roma und Sinti jetzt schon möglich ist! Genau so verhält es sich mit der Verhinderung von Übergriffen und Abschiebungen.

Zum weiterlesen:
„Antiziganistische Zustände – Zur Kritik eines allgegenwärtigen
Ressentiments“, erschienen 2009 im Unrast-Verlag.

BEGRIFF "Zigeuner":
„Zigeuner“ ist eine in ihren Ursprüngen bis ins Mittelalter zurückreichende fremdbezeichnung durch die Mehrheitsbevölkerung und wird von den meisten Vertreter_innen als diskriminierend abgelehnt. Mit dem Wort „Zigeuner“ wurden in Deutschland jahrhundertelang negative Zuschreibungen verbunden. Anfang der 1980er Jahre hat sich in der deutschen Öffentlichkeit „Sinti und Roma“ als vermeintlich politische korrekte Bezeichnung eingebürgert. Dies ist allerdings nicht ausreichend, weil sich dadurch zahlreiche andere Gruppen unberücksichtigt fühlen, wie z.B. die Kale."

fotos

. 10.10.2011 - 19:31

Beiträge die keine inhaltliche Ergänzung darstellen

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ANTIFA BUNDESWEITE KOORDINATION — Antifa Bussterminal

Solidarität jetzt! — Alerta

@peter — Michel