„Wir sind anständige Menschen“ – der antiziganistische Volksmob in Tschechien

Kombinat Fortschritt 28.09.2011 22:13 Themen: Antifa Antirassismus Soziale Kämpfe
Seit einigen Wochen flammen an der nordtschechischen Grenzregion, dem so genannten Schluckenauer Zipfel erneut pogromartige antiziganistische Aufstände auf. Doch die lokale Mehrheitsbevölkerung, die als Initiator und wesentlicher Träger der antiziganistischen Stimmung fungieren, betrachtet sich selbst als nicht als Rassist_innen, sondern als letzte Bastion gegen eine vermeintlich drohende regionale Verelendung. Inzwischen machen die Anwohner_innen jedoch wieder gemeinsam mit neonazistischen Organisationen und der rechten DSSS (der Nachfolgeorganisation der 2010 verbotenen neonazistischen Arbeiterpartei DS) gegen die dort lebenden Roma mobil. Und diese Zusammenarbeit erscheint konsequent, denn die virulente Feindlichkeit gegenüber vermeintlichen „Zigeunern“ bildet einen Ausdruck eigener sozialer Ängste – die in rassistischen Ressentiments umgesetzt werden.
Ohne Samthandschuhe*

In den letzten Jahren kam es in der Grenzregion immer wieder zu antiziganistischen Protesten, Kundgebungen und Demonstrationen. Bereits am 17. November 2008 kulminierte die Gewalt, als etwa 1000 Neonazis aus Tschechien versuchten in die Roma bewohnte Neubausiedlung Janov in Litvínov einzudringen und dabei auf den Rückhalt in der Bevölkerung hoffen durften. So zeigte die Bevölkerung ihre Zustimmung zu Beginn der Veranstaltung durch Beifallsbekundungen für die Hetze der Neonazis gegen Roma. Als der Nebel von Tränengas über Janov lag, unterstützen Teile der Bevölkerung die militanten Neonazis mit Ortskenntnissen und Verpflegung, boten ihnen zum Teil Rückzugsräume und torpedierten damit Festnahmen. Die Ausschreitungen, welche bis in die Abendstunden dauerten, wurden in der Folgezeit von tschechischen Neonazis zu einem Mythos stilisiert, der so genannten „Schlacht um Janov“. Auch die rechte Arbeiterpartei DS gewann im Zuge dessen an Popularität.

Entstehung sozialer Konfliktregionen

Plattenbausiedlung Janov in Litvínov
Plattenbausiedlung Janov in Litvínov

Ihren Ursprung hatten diese Siedlungen in den 1950er/60er Jahren, als der sozialistische Wohnungsbau dem zunehmenden Mangel an Wohnraum am Rande der entstehenden Industrieregionen durch die Errichtung großer Plattenbausiedlungen am Stadtrand entgegenzuwirken versuchte. Nach dem Zusammenbruch der Ostblockstaaten sank jedoch parallel zum Arbeitsplatzangebot auch die Zahl Einwohner_innen jener Regionen. Steigende Mieten in den neuen Ballungszentren zwangen viele verarmte Roma-Familien aus dem ganzen Land und der Slowakei sich in Janov und ähnlichen Siedlungen niederzulassen. Das mangelnde Arbeitsplatzangebot und die zunehmend schwindenden sozialen Einrichtungen, die soziale Isolierung und der desolate Zustand der verfallenden Plattenbauten eskalierten die prekäre Situation vieler dort lebender Familien. Die zunehmende Perspektivlosigkeit mündete auch in der Gegenwart immer wieder in sozialen Spannungen, welche nicht selten gewaltbereite rassistische Züge tragen.

Antiziganismus – ein rassistisches Ressentiment

Wie Roswitha Scholz herausarbeitete, wurzeln antiziganistische Vorurteile vor allem in Abstiegsängsten, welche durch Projektion gelindert werden sollen. Denn der Antiziganismus bündelt rassistische und sozial-diskriminierende Vorurteilsstrukturen, in dem er Verhaltensweisen, die scheinbar nicht zu Verwertungslogik und Arbeitszwang passen, ethnisch zuordnet. Vor allem in Zeiten sozialer Unsicherheiten tendieren diese Vorstellungen zu eskalieren. Soziale Ängste werden all zu gerne nach „außen“ verschoben, um selbst besser dazustehen. Da antiziganistische Vorurteile im Kern Sehnsüchte moderner Subjekte widerspiegeln, nämliche romantische Vorstellungen von Freiheit und einer Welt ohne Arbeitszwang, ist der Volksmob bestrebt die „Zigeuner“ auch mit Gewalt zu vertreiben. Die Konsruktion eines gemeinsamen Feindbildes über kollektive Zuschreibungen wie "Arbeitsscheue", "Kriminalität", "Anpassungsunwilligkeit" und "Ungepflegtheit" dienen somit dem doppelten Zweck eine Mehrheitsgesellschaft herzustellen, diese sozial zu disziplinieren und all jene die von dieser Vorstellung abweichen, auszuschließen.

Aktuelle Situation

In den vergangenen Wochen und Monaten eskalierten die Konflikte in der Region des „Schluckenauer Zipfels“ erneut. Durch den Zugzug vieler Roma-Familien habe die Kriminalität eine neue Dimension erreicht, so die Auffassung vieler dort lebender Bürger_innen. Als in der strukturschwachen Region eine Gruppe von 20 Roma 6 „weiße“ Tschechen in einer Diskothek angriffen, sorgte dies in der Bevölkerung für einen großen Aufschrei, welcher erneut in massiven Protestwellen mündete. Und wieder klatschen die Bürger_innen Beifall wenn von den Neonazis antiziganistische Hetze betrieben wird. Und wieder ziehen die Demonstrationen des Volksmobs in die vorrangig von Roma bewohnten Siedlungen und skandierten "Tschechien den Tschechen, Zigeuner ins Gas!" Und wieder flogen Wurfgeschosse auf die Unterkünfte der Roma. Nicht nur die Ästhetik und Rhetorik weist frappierende Parallelen zu den pogromartigen Ausschreitungen in Litvínov im Jahr 2008 auf. Denn die gesamten Konstellationen in Varnsdorf, Nový Bor und Rumburk ähneln diesem Ereignis. Auch in diesen Städten schlossen regionalen Industrien bald nach dem Zusammenbruch des Ostblocks ihre Tore, wurden die entstandenen Plattenbausiedlungen nur selten renoviert und es grassieren massive soziale Ängste und Nöte. Und auch hier docken neonazistische Organisationen und die neu formierte rechte Arbeiterpartei DSSS an, in der Gesellschaft existierende, rassistische Vorstellungen an und setzen sich an die Spitze des Volksmobs. Darüber hinaus werden auf einschlägigen neonazistischen Internetseiten Demonstrationen in weiteren so genannten Roma-Vierteln angekündigt – was im November 2008 zu einer Intensivierung des Antiziganismus führte, soll zukünftig auch in einem flächendeckenden praktischen Schulterschluss zwischen Bürger_innen und militanten Neonazis überführt werden.

Was tun?

Statt den sozialen Konflikten mit einer fundierten Gesellschaftskritik zu begegnen und auf deren Überwindung hinzuarbeiten, forcieren neonazistische Akteure nicht nur in Tschechien die Rassifizierung und Eskalation solcher Auseinandersetzungen (so halluzinierten vor einigen Wochen auch die Neonazis von Mupinfo von den vermeintlichen Gefahren durch Sinti und Roma für die Stadt Wismar).
Mit dem rassistischen Wahnsinn, soziale Konflikte durch Vertreibung oder letzten Endes Vernichtung von vermeintlich Fremden lösen zu wollen, ist jedoch keine Kritik an den bestehenden Verhältnissen verbunden, sondern die Reproduktion dieser. Einzig durch eine adäquate Arbeitskritik, welche die Lohnarbeit als Zwangseinrichtung darzustellen vermag, ist auch eine Überwindung beziehungsweise Abschwächung sozialer Konflikte möglich. Denn in der Erkenntnis, dass der tägliche Gang auf den Arbeitsmarkt kein Moment der Freiheit oder einer genetischen Vorbestimmung darstellt, sondern ein Resultat kapitalistischen Verwertungszwangs ist, wird klar, dass die eigene soziale Situation vom Markt und nicht von vermeintlich ethnischer Zugehörigkeit abhängt. „Nur im Rahmen einer solch weiter gefassten Perspektive kann auch das 'Zigeuner'-Stereotyp sein Ende finden, indem der 'Zigeuner' einfach sein kann, aber nicht so sein muss.“

* Die tschechischen Neonazis sehen sich selbst in der Tradition der so genannten "samtenen Revolution", am Ende der Blockkonfrontation. Während diese wegen ihrer Unblutigkeit den Titel samten erhielt, spielen die Neonazis heute auf diese Ereignisse an und rufen jedoch zu Gewalt auf. Vgl.: Mayer, Gregor; Odehnal, Bernhard: Aufmarsch. Die rechte Gefahr aus Osteuropa. Salzburg 2010. S. 112.
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Ergänzungen

Text zu Antiziganismus

Peter P. 29.09.2011 - 00:33
In der aktuellen "Straßen aus Zucker" gibt es einen kurzen Text, der sich mit Antiziganismus beschäftigt:

"Lustig ist‘s Verfolgtenleben?
Über die Diskriminierung und Verfolgung von Roma und Sinti, einen bisher fast vergessenen Teil des nationalsozialistischen Vernichtungswahns, und die Kontinuitäten in der heutigen Gesellschaft.

„Wir versprechen eine Endlösung der Zigeunerfrage“, lässt die ultrarechte tschechische „Nationale Partei“ in einem Werbespot verlauten. In Frankreich werden mehrere tausend Roma
in den Kosovo abgeschoben. In Ungarn patrouillieren ultranationalistische Garden durch Roma-Siedlungen, um „die Bevölkerung vor den Zigeunern zu schützen“. In Italien warnt Berlusconi: „Milan darf nicht zu einer Zigeunerstadt werden.“ In Berlin sprechen Zeitungen von „Bettel-Roma“ und in Leverkusen werden Brandsätze auf ein Roma-Haus geworfen. Der Antiziganismus, also die konkrete Feindschaft gegen als „Zigeuner“ stigmatisierte, ist seit etwa zwanzig Jahren wieder am Erstarken und hat eine lange Vorgeschichte.

Existierten die „Zigeuner“ nicht...
Schon im Mittelalter wurden Roma und Sinti aus deutschen Städten und Gemeinden vertrieben und verjagt, während parallel die ersten Zuschreibungen und Stereotype entstanden: Zum Beispiel, dass sie andauernd umherziehen, betteln, stehlen, Kinder entführen und nicht arbeiten würden. Ab Mitte des 19. Jahrhunderts wurden Sinti und Roma dann für angebliche „Kriminalprävention“ systematisch erfasst und es gab diverse „Umerziehungsversuche“. Oft wurden ihre Kinder in Heime gebracht.
Im Nazideutschland wurden ab 1935 die Nürnberger Rassengesetze, welche sich anfangs nur auf Juden und Jüdinnen bezogen, auch auf „Zigeuner“ angewandt. 1938 ordnete Himmler die „endgültige Lösung der Zigeunerfrage aus dem Wesen dieser Rasse heraus“ an. Nach dem Beginn des Zweiten Weltkrieges wurden insgesamt 500.000 Sinti und Roma in den Vernichtungslagern systematisch ermordet.
Doch auch nach 1945 setzte sich die Diskriminierung und Ausgrenzung fort. So entschied 1956 der Bundesgerichtshof bezüglich der Wiedergutmachungsansprüche von Roma und Sinti,
dass diese bis 1943 nicht aufgrund von „rassenideologischen Gesichtspunkten“, sondern aufgrund der „asozialen Eigenschaften der Zigeuner“ verfolgt worden seien und ihnen insofern für die Verfolgung vor 1943 keinerlei Entschädigungszahlungen zuständen.
Dieses Urteil wurde erst 1963 teilweise revidiert. Doch auch die lang erkämpften „Entschädigungen“ beliefen sich auf Zahlungen von höchstens 5000 DM pro Person. Erst 1982 wurde die gezielte Ermordung und Vernichtung, für welche heute der Begriff „Porrajomos“ („das Verschlingen“) verwendet wird, durch den damaligen Bundeskanzler Helmut Schmidt als Völkermord anerkannt. Weitere Zahlungen gab es dennoch nicht. Und Sinti und Roma werden noch immer von staatlichen Behörden gesondert erfasst.

..der_die Antiziganist_in würde sie erfinden
Bis heute finden sich ausgeprägte antiziganistische Stereotype und Klischees in der Gesellschaft. Bei einer Umfrage des American Jewish Committee in Deutschland antworteten im Jahr 2002 mehr als die Hälfte der Befragten verneinend auf die Frage, ob sie sich Sinti und Roma als Nachbarn vorstellen könnten.
Die Stereotypisierung sowie die daraus resultierende Verfolgung von Roma und Sint sind in der Gesellschaft, in der wir leben, kein Zufall: In einer Gesellschaft, in der Menschen nach ihrer Produktivität beurteilt werden, ist der Wunsch nach Faulheit illegitim und wird abgespalten und auf andere projiziert. Für das vermeintliche Ausleben der unterdrückten Begierde werden andere gehasst. Die „Zigeuner“ stehen im Weltbild des_der Antiziganist_in oft sowohl für Freiheit und Ungebundenheit als auch für Schmarotzertum und Arbeitsverweigerung. Der Hass auf vermeintlich Faule bringt auch die immerwährende eigene
Angst vor dem Abgleiten in die „Asozialität“ als unproduktives Element in der nationalen Leistungsgesellschaft zum Vorschein. Doch auch wenn der Antiziganismus erst im kapitalistischen Kontext richtig verstanden werden kann, darf das nicht verdecken, dass eine wesentliche Verbesserung der Lebenssituation von Roma und Sinti jetzt schon möglich ist! Genau so verhält es sich mit der Verhinderung von Übergriffen und Abschiebungen.

Zum weiterlesen:
„Antiziganistische Zustände – Zur Kritik eines allgegenwärtigen
Ressentiments“, erschienen 2009 im Unrast-Verlag.

BEGRIFF "Zigeuner":
„Zigeuner“ ist eine in ihren Ursprüngen bis ins Mittelalter zurückreichende fremdbezeichnung durch die Mehrheitsbevölkerung und wird von den meisten Vertreter_innen als diskriminierend abgelehnt. Mit dem Wort „Zigeuner“ wurden in Deutschland jahrhundertelang negative Zuschreibungen verbunden. Anfang der 1980er Jahre hat sich in der deutschen Öffentlichkeit „Sinti und Roma“ als vermeintlich politische korrekte Bezeichnung eingebürgert. Dies ist allerdings nicht ausreichend, weil sich dadurch zahlreiche andere Gruppen unberücksichtigt fühlen, wie z.B. die Kale."

@ xXx

B. Cole 01.10.2011 - 15:11
Bei den spezifischen Vorurteilen, denen Sinti und Roma ausgesetzt sind, ist es aber so, weil gerade diese rassistischen Stereotypen die Eigenschaft besitzen, sich als selbst-erfüllende Prophezeihung zu reproduzieren - denn wer aus dem Vorurteil heraus, er wäre ein notorischer Dieb, über keinerlei Einkommen verfügt, hat wenig andere Alternativen als zu stehlen; und wer, weil von ihm behauptet wird, er wäre unhygienisch, keine Wohnung bekommt, gerät in eben jene unhygienischen Lebensverhältnisse.

Derartige Dynamiken finden sich bei einem Steinewerfer-Vorurteil oder einem Wucherer-Vorurteil eben nicht.

@ B. Cole

xXx 02.10.2011 - 00:19
Hm... aber "Sinto" oder "Rom" ist doch keine Eigenschaft, die einem Menschen ins Gesicht geschrieben ist? Bei der Bewerbung um eine Arbeitsstelle muss hierzulande niemand Angaben zu seiner "ethnischen Herkunft" machen... nicht einmal die Staatsangehörigkeit gehört in eine moderne Bewerbung, geschweige denn eine Zugehörigkeit zu irgendwelchen "Volksgruppen". Selbst Bewerbungsfotos sind seit Inkraftsetzung des AGG nicht mehr obligatorisch. Wie kann sich dann aber das Vorurteil über "Zigeuner" negativ auf die Jobchancen eines Menschen auswirken, der sich selbst als "Sinto" oder "Rom" definiert? Er/sie muss das ja niemandem auf die Nase binden...

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@ mel A — mr.s

@ mr.s — xXx

@mr.s — Vincent Raven

@mr.s. — Sakia B.

R.I.P. — empörter Bürger