Zum Kongress für autonome Politik Köln

Zwei Monate sind seit dem Kölner Autonomen Kongress vergangen. Ganz so als hätte es ihn nie gegeben, so der Eindruck im Nachhinein. Die Sprachlosigkeit und das Nichtverhalten im Anschluss an den Kongress spiegelt die allgemeine Atmosphäre aus Köln ganz gut wieder.



Ein Rückblick auf den Kongress für autonome Politik vom 17.-19.06.11 in Köln
Damit überhaupt mal etwas geschrieben wird, haben wir uns entschlossen wenigstens unsere persönlichen Eindrücke zur Diskussion zu stellen.

Mit mehreren hundert TeilnehmerInnen (wir schätzen mal so 400-500) waren unsere Erwartungen erfüllt. Es waren alle Altersschichten präsent und die Vorbereitungsgruppe hatte bezüglich der Infrastruktur alles sehr gut vorbereitet. Die Rahmenbedingungen für einen Kongress mit spannenden Debatten im Kölner AZ waren also gegeben. Schon im Vorfeld wurde der angedachte Kongressablauf über die Website transparent gemacht und die Vorbereitungsgruppe hatte einen umfangreichen Vorbereitungsreader zur Verfügung gestellt. Vorab sei gesagt, dass wir die Atmosphäre während des Kongresses und den Umgang miteinander sehr angenehm und solidarisch fanden.

Was uns bereits die Wochen und Tage vor dem Kongress negativ auffiel, war die geringe Anzahl an inhaltlichen Beiträgen die zur Diskussion gestellt wurden. Der Eindruck, dass es nur noch wenige autonome Zusammenhägen gibt, die ihren theoretischen Output zur Diskussion stellen, wurde während und nach dem Kongress bestätigt. Zwar gab es den erwähnten Reader der Vorbereitungsgruppe, wirklich Neues war dort aber nicht zu finden. Auch der „linken Presse“ war der Kongress bzw. eine Kongressankündigung keine Erwähnung wert.

Changing Realities, so der vielversprechende Titel für das Kölner Wochenende. Aufgeteilt in die vier Themenblöcke



1. Momentane Zustände – Braucht autonome Politik Analyse?



2. Die Zustände in Bewegung bringen – Braucht autonome Politik Strategien?



3. Wir stehen dazu – Militanz



4. Mehr als nur zusehen – Die aktuellen Aufstände und die Frage der Solidarität



war ein inhaltlicher Leitfaden geboten, entlang diesem diskutiert werden sollte. Die Behandlung der einzelnen Themenblöcke lief immer nach gleichem Schema. Die Vorbereitungsgruppe erläuterte im Gesamtplenum ihre Thesen zum jeweiligen Block (diese waren schon im Reader zu lesen und lagen auch in gedruckter Form im AZ aus), danach gab es die Möglichkeit hierzu Stellung zu nehmen und Ergänzungen oder sonstige Statements abzugeben. Die eigentliche Debatte lief dann aufgeteilt in Kleingruppen in verschiedenen Räumen. Als Diskussionsdauer wurde eine Stunde eingeräumt, was sich als viel zu knapp bemessen erwies. Danach sollten die Ergebnisse der Kleingruppen im Großplenum vor- und zur Diskussion gestellt werden.

Schon so manche Kleingruppe war so groß (teilweise bis zu 80 Leute), dass eine tiefergehende Diskussion nicht möglich war. Einzelne, gut vorbereitete Personen, ergriffen das Wort während ein Großteil stillschweigend den Stellungnahmen lauschte. Auch die knapp bemessene Zeit verhinderte einen Austausch den es für den Umfang der Themenpalette bedurft hätte. Das Zusammentragen der Gruppenergebnisse im Großplenum bot zwar informative Gesprächszusammenfassungen, bewies aber auch, dass in den anderen Gruppen die inhaltlichen Debatten auf Grund der geschilderten Bedingungen nur oberflächlich möglich waren. Konkrete Ergebnisse oder Grundlagen für weitere Debatten wurden nicht präsentiert. Dies dürfte mit Ausschlaggebend gewesen sein, dass auch im Großplenum keine fruchtbare Diskussion zu Stande kam – falls dies bei einer solchen Personenanzahl überhaupt möglich ist.

Ob die Raumkapazität des AZ an ihre Grenzen gestoßen war, wissen wir nicht. Eine weitere Aufteilung der Kleingruppen auf zusätzliche Räume wäre aber förderlich gewesen. Für zukünftige Kongresse sollte dies im Hinterkopf behalten werden, da nur wenige Zentren die räumlichen Voraussetzungen für einen Kongress dieser Größe bieten.

Prägend für den gesamten Kongress war die Überbreite der vorgeschlagenen Themengebiete. Unter den gegebenen Umständen und Zeitfenstern war es schlicht nicht möglich die Themen inhaltlich zu diskutieren und konkrete Ergebnisse zu erarbeiten. Vielmehr hätte wohl jedes Thema ein eigenes Kongresswochenende füllen können.

Wir hatten unsere Gruppe so aufgeteilt, dass wir parallel an verschiedenen Diskussionsrunden teilnahmen. Auffallend war, dass keine/r von uns den Eindruck hatte, dass es während der Diskussionen zu einem roten Faden kam. Vielmehr wurden Meinungen in den Raum gestellt, teils kurz darauf Bezug genommen und dann schon wieder zum nächsten Diskussionspunkt übergegangen. Die einstündigen Diskussionen verliefen so, unserer Meinung nach, ergebnislos. Zudem gab es Unstimmigkeiten über Begrifflichkeiten aus autonomer Theorie und Praxis. Besonders auffallend war dies beim Thema Militanz. Dazu aber später mehr. Erschwerend hinzu kam der Zeitdruck innerhalb der Kleingruppen. Sobald sich endlich eine Diskussion abzeichnete, wurde diese mit Hinweis auf das Treffen im Großplenum abgewürgt.

Wie bereits dargestellt waren die Umstände nicht die Besten um fruchtbare Debatten führen zu können. Was sich aber als das, unserer Meinung nach, größte Problem herausstellte war, dass sich viele TeilnehmerInnen inhaltlich nicht wirklich auf den Kongress vorbereitet hatten. Hätten sich mehr Leute die Mühe gemacht, den Vorbereitungsreader zu lesen und an Hand der von der Vorbereitungsgruppe ausgegeben Thesen zu diskutieren, wäre der Kongress im Wesentlichen weitaus effektiver gelaufen. So ergab sich permanent das Problem, dass Diskussionsbeiträge weit ab vom eigentlichen Thema eingeworfen wurden. Sehr ärgerlich für die, welche eine Menge Zeit in die Zusammenstellung des Readers gesteckt haben, aber auch ärgerlich für die, die sich inhaltlich im Vorfeld des Kongresses mit den Themen ausgiebig auseinandergesetzt haben. Denn so wie die Diskussionen letzten Endes liefen, wäre eine Vorbereitung nicht nötig gewesen. Denn irgendwie mitlabern konnte so jede/r.

Nicht anders sah es bei der Zusammenfassung der Kleingruppenergebnisse im Großplenum aus. Dort wurden lediglich kurze Protokolle der jeweiligen Gruppen verlesen. Eine Bezugnahme aufeinander erfolgte nicht, stattdessen wurde nach ein paar Wortmeldungen die „Debatte“ für beendet erklärt – meist mit dem Hinweis auf vorhandenen Zeitdruck.

Veranschaulichen möchten wir unsere Kritik am Beispiel des Themenblocks „Militanz – wir stehen dazu“.

Der Block „Militanz“ wurde unserer Meinung nach im Vorfeld u.a. schon durch die Themenbeschreibung (Militanz – Wir stehen dazu) etwas gehypt. Wir sind Autonome – Autonome sind militant – wir stehen dazu. Ein Auszug aus dem Vorbereitungsreader:

„Wir wünschen uns die Wiedererlangung einer militanten Selbstverständlichkeit – im alltäglichen Widerstand und auch in unseren Diskussionen. Eine selbstbewusste Normalisierung und verbreiterte Einübung und Ausübung von emanzipativer Militanz.“

Von der genannten Selbstverständlichkeit sind wir jedoch weitentfernt. Nach mehr als 30 Jahren autonomer Politik scheint Militanz nach wie vor ein Begriff zu sein, der so unterschiedlich definiert und verwendet wird, dass eine Debatte über praktische (!) Militanz in zusammengewürfelten Gruppen, sich nicht bekannter Menschen, unmöglich erscheint. Wenige Tage vor Start des Kongresses gab die Vorbereitungsgruppe noch Empfehlungen und Tipps für die öffentliche Diskussion des Themas. Diese schienen für Leute gedacht, die sich im öffentlichen Raum über klandestine, militante Politik unterhalten wollen, ohne der Gefahr ausgesetzt zu sein sich in verfängliche Situationen zu reden. Doch das damit angesprochene Publikum war scheinbar nicht vor Ort. Es gab weder eine Bezugnahme zur laufenden Militanz-Debatte, noch zur vorangegangenen. Viel mehr wurden Ausweichdebatten geführt: statt über militante Praxis, Probleme bei der Durchführung militanter Aktionen, Auswirkungen und Repression zu diskutieren, wurde eher darüber gesprochen was Militanz sei und was nicht. Während im einen Moment über Sinn und Unsinn des Flambierens von Nobelkarossen diskutiert wurde, folgte im nächsten ein Beitrag über das militante Potential des Vokü-Kochens. Warum wird der Militanz-Begriff so verwässert? Warum will sich jede/r mit dem Label "militant" schmücken? Was hat die Frage "Ist noch genug Gas in der Flasche um die Kartoffeln zu kochen?" mit der Frage, ob Gasaki-Anschläge Unbeteiligte unnötig in Gefahr bringen, zu tun?

Auch hier wurde wieder nicht entlang der Kongressthesen diskutiert, sondern es wurde viel mehr ins Blaue geredet, ohne das wohl eine/r der Beteiligten irgendeinen Nutzen daraus ziehen konnte. Nicht anders sah es im Anschluss im Großplenum aus. Nach verlesen der Gruppenprotokolle war klar, dass es auch in anderen Gruppen ähnlich lief. Natürlich wurde auch bei diesem Themenblock die Diskussion in der Kleingruppe, wie auch im Großplenum mit dem Blick auf die Uhr für beendet erklärt.

Diejenigen die bereits militante Aktionsformen praktizieren, werden dies wohl auch weiterhin tun. Diejenigen die mit sich selbst hadern und sich noch in einem Findungsprozess zwischen Sinn und Unsinn militanter Praxis befinden, werden durch den Kongress wohl keinen Push bekommen haben sich in militante Diskussionen einzubringen bzw. ihre Aktionsformen dahingehend zu ändern. Der gesteckte Anspruch muss leider als verfehlt gewertet werden.

Da wir bereits Samstagabend abreisten, können wir nichts über den Ausgang bzw. die Zusammenfassung des Kongress am Sonntag schreiben. In Anbetracht der Umstände gehen wir nicht davon aus, dass es noch zu einem produktiven Ergebnis kam. Mit Spannung erwarten wir die Nachbereitung des Vorbereitungskreises und weitere Einschätzungen von teilnehmenden Menschen. Bis dahin muss sich der oder die Interessierte wohl mit unserer zufriedengeben.

Folgende Eindrücke nehmen wir aus Köln mit:

Es ist beachtlich, dass sich nach wie vor relativ viele Leute für autonome Politik interessieren bzw. sich mit dem Label „Autonome“ identifizieren können. Es ist leider keine Selbstverständlichkeit, dass sich hunderte auf den Weg machen um ein Wochenende gemeinsam zu diskutieren, ohne das praktische Actions in Aussicht stehen.

Welche Ambitionen jedoch bei TeilnehmerInnen vorherrschen, völlig unvorbereitet eine solche Veranstaltung zu besuchen, hinterlässt bei uns Fragezeichen.

Unserer Meinung nach lässt es sich derzeit nicht von einer autonomen Bewegung sprechen. Vielmehr gibt es ein diffuses Sammelsurium an Leuten die sich als undogmatisch, radikal Links, anarchistisch/kommunistisch etc. verstehen.

Gemeinsame Ziele bzw. Strategien sind kaum vorhanden. Offensichtlich gibt es weniger gemeinsame Grundlagen als der Eindruck oft vermittelt. Vielmehr orientiert sich Theorie und Praxis an Begriffen wie „Emanzipation“, „herrschaftsfrei“, „Widerstand“, „Militanz“. In diesen Punkten auf einen gemeinsamen Nenner zu kommen, wäre unserer Meinung nach, das Ziel eines solchen Kongresses gewesen.

Auch ist uns unklar wieso es während des Kongress keinerlei Bezugnahme auf den Autonomen-Kongress in Hamburg 2009 gab. Sollte der Kongress in Köln nicht irgendwo darauf aufbauen bzw. eine Weiterführung darstellen? Falls ja, muss davon ausgegangen werden, dass auch in Hamburg nichts Wirkliches rumkam (Wir waren nicht dort).

Bezeichnend finden wir auch, dass wir noch keinerlei Nachbetrachtungen oder Einschätzungen zu Köln finden konnten. Dass nicht mal auf indymedia ein Artikel platziert wurde, oder sich in der Blogsphäre das Maul zerrissen wird, zeigt auf, dass der Kongress wohl so einige sprachlos werden ließ. Sehr schade!

Insgesamt lässt sich der Kongress wohl als repräsentatives Abbild des derzeitigen Szenezustands betrachten. Dass die beiden linksradikalen Bündnisse mit autonomen Background „…ums Ganze!“ und „interventionistische Linke“ weder vor noch während des Wochenendes in Köln Bezug auf den Kongress nahmen bzw. für diesen warben, zeigt, dass es ein Spektrum gibt, das auf die klassischen Formen autonomer Politik zurückgreifen möchte. Ausgerichtet auf informelle Vernetzung und ohne feste Organisierung. Dass es unter diesem Umständen mehr als schwierig ist, gemeinsame politische Grundlagen zu erarbeiten und emanzipatorische Perspektiven zu entwickeln wurde deutlich.

Wollen wir aber weiterhin darauf aufbauend arbeiten, müssen Wege gefunden werden, wie wir gemeinsame Basics erarbeiten, auf die wir gemeinsam Bezug nehmen können um unsere Standpunkte praktisch und theoretisch weiter zu entwickeln. Denn ohne eine intensivere Debatte über Strategie und Perspektive autonomer Politik ist wohl auch in Zukunft nicht viel zu holen. Ein weiteres Problem, wenn auch kein unbekanntes, scheint uns die mangelnde Nachwuchsarbeit/Wissensweitergabe durch ältere Genossinnen zu sein. Wir haben den Eindruck, dass viele junge Autonome versuchen, "die Alten" nachzumachen, jedoch die Zeit der 1980er/90er durch die rosa Brille betrachten und keine Schlüsse aus dem Scheitern der damaligen Bewegungen ziehen (können).

Falls ein weiterer Kongress folgen sollte – was wir hoffen - wäre es sicher sinnvoll sich auf nur ein Thema zu beschränken, das dann auch die Möglichkeit bietet sich im Rahmen eines Wochenendes angemessen diskutieren zu lassen.

Lieber nochmal einen Schritt zurück machen und eine Analyse der momentanen Gegebenheiten nachholen. Darauf aufbauend (!) ließe sich bestimmt gewinnbringender arbeiten.

Zum Abschluss noch ein Danke an die Vorbereitungsgruppe die sicherlich viel Zeit und Arbeit in die Vorbereitung und Durchführung des Kongresses gesteckt hat! Wir hoffen, dass unsere Kritik so ankommt wie sie gedacht ist: Solidarisch und in der Hoffnung das weitere, ergiebigere Kongresse folgen!



Ein paar Autonome aus Rhein-Main
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Ergänzungen

Hamburg

Hamburger 31.08.2011 - 11:04
"Auch ist uns unklar wieso es während des Kongress keinerlei Bezugnahme auf den Autonomen-Kongress in Hamburg 2009 gab. Sollte der Kongress in Köln nicht irgendwo darauf aufbauen bzw. eine Weiterführung darstellen? Falls ja, muss davon ausgegangen werden, dass auch in Hamburg nichts Wirkliches rumkam (Wir waren nicht dort)."
Das kann ich als dagewesener Kongressteilnehmer so bestätigen. Viel heisse Luft, viel Gesabbel. ich finde nicht das die autonome Szene daraus irgendweie gestärkt hevorgegangen ist.

sehr schöner Aufschlag

eine Mitvorbereitende 31.08.2011 - 11:05
liebe autonome Verfasser_innen,

Einigen Punkten Eurer Kritik kann ich mich uneingeschränkt anschließen.

Neben der von Euch angesprochenen zu großen Themenbreite (mit der wir uns eindautig verhoben haben), aus der eine gerade mal angekratzte Oberfläche vieler Diskussionsstränge resultierte, sehe ich ein zweites Problem bei dem (eher unglücklichen) Versuch, einen Diskussionseinstieg zu "erleichtern":

Die von uns verfassten Thesen zu den vier Themenblöcken waren selbst schon ein "Kompromiss" eines sehr heterogenen Vorbereitungskreises: Es leuchtet ein, dass ein derartig breiter Kompromiss ohne das Wagnis, eng zu fokussieren und zuzuspitzen keine hilfreiche "steile These" für eine engagierte Kontroverse darstellt.

So ließ der zweite Kongress-Reader mit vielen guten Beiträgen und Reaktionen auf die Enladungstexte eine viel lebhaftere Auseinandersetzung erahnen, als wir alle gemeinsam dann auf dem Kongress umsetzen konnten.

Diese zwei Anmerkungen vorab als Einzelmeinung einer Mitvorbereitenden des Kongresses. Eine umfassendere Auswertung von unserer Seite wird es erst in einem Monat geben, da aus anderen Gründen eine überregionale Nachbereitung der Vorbereiter_innen erst im September stattfindet.

Danke für Eure hilfreiche Kritik!

scheitern der autonomen?

ein nachwuchs-autonomer 31.08.2011 - 14:00
die zum ende des textes aufgeworfene these eines "scheiterns der autonomen bewegung" in den 1980er/90ern möchte ich - als einer der derjenigen, die diese zeiten nur aus berichten kennen - zumindest relativieren. denn dazu müsste erst einmal die frage geklärt werden, welchen anspruch die damalige bewegung verwirklichen wollte. dass eine revolutionäre umwälzung der gesellschaft nicht stattgefunden hat, steht außer frage, jedoch war dieses ziel schon immer sehr hoch gesteckt. in einem durchkapitalisierten, post-industriellen imperialen zentrum wie deutschland überhaupt eine derartige perspektive zu entwickeln, scheint vermessen. die sprachlosigkeit weiter teile der deutschen (radikalen) linken zu beginn der finanzkrise vor drei jahren zeigt auch, dass diese möglichkeit schon länger gar nicht mehr ernsthaft in betracht gezogen wird/wurde.

in anderen bereichen kann die autonome szene dagegen durchaus auf erfolge verweisen: bis heute ist zumindest lokal die zerstörung einst erkämpfter autonomer freiräume mit großen widerständen verbunden bzw. politisch nicht durchsetzbar. die radikale linke hat zudem bewiesen, dass sie durchaus in der lage ist, gewisse "events" - etwa nazi-großaufmärsche - grandios platzen zu lassen oder die berichterstattung darüber mit eigenen akzenten maßgeblich zu beeinflussen. bestes beispiel für letzteres sind die großen internationalen gipfel (G8, IWF, weltbank, WTO) der letzten zehn jahre. bis heute, und verstärkt seit der mobilisierung nach heiligendamm 2007, stellt die autonome szene eine attraktive möglichkeit dar, sich politisch zu engagieren.

dass die heutigen aktivist_innen eigene wege gehen wollen und sich nicht - überspitzt formuliert - von "das haben wir schon versucht und hat nicht geklappt"-einwänden älterer genoss_innen davon abbringen lassen will, halte ich sogar für einen vorteil.

Ein bisschen Senf

Dabeigewesen 31.08.2011 - 14:37
"Hätten sich mehr Leute die Mühe gemacht, den Vorbereitungsreader zu lesen und an Hand der von der Vorbereitungsgruppe ausgegeben Thesen zu diskutieren, wäre der Kongress im Wesentlichen weitaus effektiver gelaufen."
Jein.Der Reader war thematisch und inhaltlich recht massiv,was einerseits super war,da sich viele Möglichkeiten boten inhaltlich anknüpfen zu können.Andererseits war diese Fülle für ein Wochenende zuviel Input und zuviele lose thematische Stränge, um inhaltlich tiefer zu gehen. Vielleicht wären die Debatten inhaltlich weniger abgehandelt und gehaltvollerer, strukturierter geworden, wenn sich für das Wochenende auf ein oder zwei Themenblöcke beschränkt worden wäre. So wäre mehr Zeit gewesen sich inhaltlich zu vertiefen und in einem gemeinsamen Prozess zu entwickeln. Wobei die Tagesordnung sicher auch noch mal neu verhandelt können, sprich der eine oder andere Themenstrang hätte wegfallen können, wenn genügend Bereitschaft dazu vorhanden gewesen wäre ein bestimmtes Thema weiter diskutieren zu wollen.
"Es gab weder eine Bezugnahme zur laufenden Militanz-Debatte, noch zur vorangegangenen. Viel mehr wurden Ausweichdebatten geführt: statt über militante Praxis, Probleme bei der Durchführung militanter Aktionen, Auswirkungen und Repression zu diskutieren, wurde eher darüber gesprochen was Militanz sei und was nicht".
Die Frustration über die Militanzdebatte, fehlende Bezugnahme auf schon mal andiskutierte Ansätze und das Abarbeiten an irgendwelchen Gretchen-Fragen,die aber zu nix führten, teile ich auch.
Letztendlich resultierte diese dann in einer recht müssigen Diskussion der Gegenüberstellung von Militanz als Notwendigkeit aus einer Lebenssituation heraus vs. zugespitzt formuliert, Militanz in der bekannten Form als (anachronistisches) "Must" im Rahmen des autonomen subkulturellen Lifestyle, allerdings ohne jegliche politische weiterführende Perspektive. Woran lag es, dass wenn überhaupt nur ein mässiges Ergebnis aus dieser doch recht wichtigen Debatte resultierte? Denn Vorschläge wie diese thematisch gewichtet und strukturiert sein könnte waren eindeutig im Reader formuliert worden und waren auch in einigen Gruppenplenas unterbreitet worden.

@Hamburger :Im Bezug auf 2009: Nein, gestärkt als Bewegung eher nicht, eher bestärkt in der Annahme, dass die autonome Bewegung ein ganz schön heterogener Haufen ist und sich in einem ständigen Prozess befindet. Aber auf jeden Fall gestärkt in dem Bewusstsein, beim nächsten Kongress auf einige Eventualitäten besser vorbereitet zu sein.Denn der damalige Kongressverlauf war ein gezeichnet von einem Vorfall am ersten Abend, wo ein szenebekannter Selbstdarsteller unnötigerweise eine "kritische" Performance zum Thema Definitionsmacht darbot, die nicht tragbar war und woraufhin mehrere Teilnehmer_innen geschlossen den Kongress verliessen.Besagter Selbstdarsteller und Helfershelfer wurden dann vom Kongress ausgeschlossen.Da einige mit diesem Vorgehen nicht einverstanden waren, sollte am nächsten Tag nochmal inhaltlich über Sexismus in der autonomen Szene geredet werden, welche dann inhaltlich in eine desaströse Diskussion von Sexismus gegen Männer und Rassismus gegen Weisse abdriftete, die teilweise schon Realsatire war..aber schön das wir mal drüber geredet haben.(Vorsicht:Ironie!)
Persönliches Fazit : Der Kongress 2009 war mehr Bestandsaufnahme(sog Gesabbel),als die Entwicklung gemeinsamer zukünftiger Perspektiven.Allerdings eine Bestandsaufnahme, die sich nicht unbedingt zum Weiteraufbau eignete.

"Falls ein weiterer Kongress folgen sollte – was wir hoffen - wäre es sicher sinnvoll sich auf nur ein Thema zu beschränken, das dann auch die Möglichkeit bietet sich im Rahmen eines Wochenendes angemessen diskutieren zu lassen.
Lieber nochmal einen Schritt zurück machen und eine Analyse der momentanen Gegebenheiten nachholen. Darauf aufbauend (!) ließe sich bestimmt gewinnbringender arbeiten.
Zum Abschluss noch ein Danke an die Vorbereitungsgruppe die sicherlich viel Zeit und Arbeit in die Vorbereitung und Durchführung des Kongresses gesteckt hat! Wir hoffen, dass unsere Kritik so ankommt wie sie gedacht ist: Solidarisch und in der Hoffnung das weitere, ergiebigere Kongresse folgen!"

Ja bitte!Trotz Frustration an einigen Punkten ist es wichtig, dass es weiterhin einen realen Austausch anhand von Kongressen gibt und wer weiss, vielleicht entwickelt sich ja beim nächsten Kongress sowas wie eine gemeinsame, vorwärts ausgerichtete Perspektive.

Welches Scheitern?!

prekär aus prinzip 31.08.2011 - 17:17
"Wir haben den Eindruck, dass viele junge Autonome versuchen, "die Alten" nachzumachen, jedoch die Zeit der 1980er/90er durch die rosa Brille betrachten und keine Schlüsse aus dem Scheitern der damaligen Bewegungen ziehen"

Ein substantielles Scheitern der damaligen Bewegungen habe ich so nicht erlebt. Eher ein allgemeines auf und ab im allgemeinen Trend. Vor allem aber haben "die Autonomen" dabei die meisten ihrerer Kritiker_innen übrlebt. Meines erachtens vor allem weil die Alten weniger nachgemacht wurden, als vielmehr immer wieder mal vom hohen Ross gestossen wurden und sich die Bewegung inhaltlich wie strukturell immer wieder erneuert hat. Insofern waren "die Autonomen" immer in der Krise, aber nie im Sinne eines Scheiterns. Erfolgsrethorik und Diskurse um vermeintliche Politikfähigkeit wurden meist ohnehin zurecht negiert.

"Alte Autonome"

selten so gelacht 01.09.2011 - 02:02
Leute...

ihr haltet einen Autonomenkongress ab... wassn das fürn Unsinn.. Wir "Alten" hätten so etwas nie betrieben. Autonomer zu sein bedeutete im Wesentlichen auch, sich nicht auf obskuren Kongressen rumzudrücken..

Als 40-jahriger bin ich sicher mit großem Abstand der älteste Leser und (manchmal auch) Schreiber auf dieser Plattform, aber ich will Euch mal erzählen, was Autonome in dieser Zeit waren: Sie waren genau das gleiche wie die von heute: junge Wilde, in ihrer Sturm- und Drang- Zeit, voller verrückter Ideen und absurder Feindbilder, die der Meinung waren die Welt - zu der sie bislang so gut wie keinen Beitrag geleistet hatten - gehöre ihnen. Niemals würde ich jemandem dieses Verhalten verübeln, denn es ist nur normal. Wenn man gerade zuhause ausgezogen ist oder aus der westdeutschen Provinz in eine faszinierende Stadt wie Berlin gezogen ist, am Anfang seines Studiums oder eines vergleichbaren neuen Lebensabschnittes steht, will man auch was erleben und dabei ruhig auch etwas Krawall schlagen.

Zumal wir Ostberliner Punks damals einen Teil an einer Leistung hatten, um die ihr uns wirklich nur Euer ganzes Leben lang beneiden könnt: Wir haben einen diktatorischen Staat zu Fall gebracht und danach ein gutes Jahr lang in echter Anarchie gelebt (bis zum 3.10.1990 um genau zu sein).. aber ich schweife ab.

Ich kann Euch ja mal verraten, was aus vielen der alten Autonomen geworden ist: sie haben ihr Studium oder sonstwas beendet, sind heute voll integriert, haben Familie und gut Geld und können sich darum auch tolle Wohnungen in PB oder so leisten bzw. haben die ehemals besetzten Häuser inzwischen auf feinste saniert - also sprich: diese Leute sind die leibhaftige Gentrifizierung und sie besitzen Wagen, die ihr am liebsten anzünden würdet..
Eine "Karriere", die die allermeisten von Euch sicher auch machen werden, denn nach wie vor gilt (frei nach Churchill): "Wer mit 20 kein Autonomer ist hat kein Herz, wer es mit 30 immer noch ist hat kein Gehirn." Und sobald die Leutchen das erste eigene Geld, Auto, Wohnung etc. haben werden sie schnell überraschend "bürgerlich".

Alles Gute

PS: übrigens sehr angenehm zu beobachten, daß auch hier sukzessive von dieser schrecklichen "Gender"sprache abgerückt wird. Danke dafür.

Reader

Was bitte ist die Mitte der Gesellschaft? 07.09.2011 - 00:53
Hmm.. mag sein, dass sich viele Leute nicht eingehend mit dem Reader beschäftigt haben.
Aber als Hobbyphilosoph mit doch eher überdurchschnittlicher Leseerfahrung muss ich sagen:
Unfassbar wie dort die banalsten Aussagen in eine literarische Katastrophe deformiert wurden.

Wenn ihr wollt dass interessierte Autonome sich den Reader vorher durchlesen, dann
schreibt ihn doch mal so, dass ihn jeder lesen kann! Denn als Berufsmathematiker kann ich
definitiv sagen, dass aus informationstheoretischer Sicht die doch eher übertriebene
Dichte an soziologischen Buzzwords nicht verkürzend und schon garnicht notwendig war.

Literarische Masturbation ist sicherlich nicht kommunikativ. Entsprechendes gilt analog
aber in abgeschwächter Form für die Diskussionsführung.

Vergesst nicht "alles ist Sprache" und diese Weisheit gilt auch anders herum ;)

Ich jedenfalls musste mich nach qualvoller Lektüre doch ausgiebig selbst überreden
zur VV zu kommen und dort feststellen, dass Niveau der Formulierungen und der Thesen
nicht vereinbar waren.

So viel Senf muss sein meine Lieben. Grüße aus Leverkusen...

Beiträge die keine inhaltliche Ergänzung darstellen

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Splitter der Nacht — zur gewaltfrage

15.9. Autonome VV in Hamburg — mal drüber reden

@text verfasser — "jung autonomer"

Köln und Autonome? Lustig! — Kölner Antifaschist