Unruhen in britischen Städten

Silke Meier 10.08.2011 19:41 Themen: Repression Soziale Kämpfe Weltweit
Nachdem die Polizei am vergangenen Donnerstag den 29jährigen Mark Duggan in seinem Auto erschossen hatte, protestierten am Samstag mehrere hundert Menschen gegen den tödlichen Polizeieinsatz und verlangten Aufklärung über die Umstände seines Todes. Noch in den Abendstunden kam es im Londoner Stadtteil Tottenham zu Plünderungen und Auseinandersetzungen zwischen Jugendlichen und der Polizei, die sich bis in die frühen Morgenstunden fortsetzen sollten. Inzwischen haben sich die Ausschreitungen auf zahlreiche andere Londoner Stadtteile ausgeweitet, auch aus den Städten Bristol, Liverpool, Manchester und Birmingham kommen Meldungen über Plünderungen und Brände durch umherziehende Jugendliche. Seit Samstag wurden mehr als 1300 Personen festgenommen und hunderte Menschen verletzt, ein 26-jähriger Mann erlag am Dienstag seinen Schussverletzungen.

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Massivste soziale Unruhe in London – Dezentrale Ausbreitung von Plünderungen und Konfrontationen mit der Polizei – Ausweitung auch auf andere Städte wie Liverpool, Birmingham, Leeds und vor allem Manchester – Bilder von brennenden Gebäuden erzeugen durch die Presse ein Klima der Angst, Rufe nach dem Einsatz der britischen Armee werden immer lauter.London. Pulsierende Millionenstadt, Finanzmetropole, Ort der olympischen Sommerspiele 2012 - Hauptstadt vom Mutterland des Fußballs. Dies ist das Bild, was normalerweise von der britischen Hauptstadt transportiert und beworben wird. Nun beginnt seit dem 6. August dieses Bild enorme Risse zu bekommen. Grund? Die Polizei erschiesst am vergangenen Donnerstag (4. August) den 29-jährigen Mark Duggan. Am Samstag, dem 6. August protestieren Angehörige und andere solidarische Menschen aus seiner Community gegen den tödlichen Polizeieinsatz und verlangen Aufklärung. Die Polizei betreibt bis zu diesem Zeitpunkt eine schwache Informationspolitik, versucht dem Opfer die Schuld in die Schuhe zu schieben und stellt ihn als Kriminellen und damit auch irgendwie als "selbst schuld" dar. Die Demonstration verläuft friedlich und endet an einer Polizeiwache. Übereinstimmenden Berichten zufolge wird dann eine Jugendliche Opfer eines Übergriffes durch einen Police Officer. Dies gilt mittlerweile als Auslöser der ersten Ausschreitungen am Samstag. Polizeiautos werden angezündet, Steine und andere Gegenstände werden auf die Bereitschaftspolizei geworfen. Später werden vereinzelt Geschäfte geplündert und zum Teil angezündet. All dies passiert lokal isoliert im Nordlondoner Stadtteil Tottenham.

Am folgenden Sonntag dann erstmals auch die Ausweitung auf andere Stadtteile wie Enfield und Brixton (Video). In der gesamten Betrachtung bleibt es im Vergleich zum Vortag aber etwas ruhiger. Dann der "schwarze Montag“ - erst berichten die Medien hauptsächlich von fallenden Börsenkursen durch die Herabstufung der Kreditwürdigkeit der USA. Im Laufe des Abends rücken jedoch immer mehr die mittlerweile massivsten Unruhen in England seit den 80er Jahren in den Fokus der deutschen Medien. Die ARD Tagesthemen (Montag, 8. August) berichten um 22:30 Uhr als Erste aus London, die Börsenkurse brennen virtuell, London aber real! Verstörende Bilder werden transportiert: Ein brennendes Möbellager im Stadtteil Croydon - Menschen die Geschäfte plündern. Kriminelle seien in ihrem Element.

Die Hintergründe werden jedoch (fast) ausgeblendet: Wie zu den Krawallen in den 80er Jahren wird England wieder von den konservativen Tories regiert (und den LibDems, der engl. FDP). Damals war es prime minster Margret Thatcher, die der Rezession mit tiefen Einschnitten für die Bevölkerung begegnete. Die Gewerkschaften wurden zerschlagen und es taten sich soziale Spannungen, Streiks und Riots auf. Auch in den letzten Monaten wurde heftig gegen die Sparmaßnahmen und Steuererhöhungen der Regierung demonstriert. Die Studiengebühren wurden massiv erhöht. Dies rief einen breiten Widerstand hervor – das Bündnis "UK Uncut“ wurde geboren. Die ersten Massendemonstrationen mit zehntausenden fanden statt und im November wurde die Tory-Parteizentrale von tausenden Menschen gestürmt (Fotos). Die Medien reagierten mit Berichten über Chaoten oder Kriminellen. Weiter ging es bei Protesten im Dezember, an denen sich erstmals auch linksradikale Aktivisten und der schwarze Block beteiligten und direkte Aktionen in der Innenstadt durchführen konnten. Auch wurde Prinz Charles und seine Frau Camilla in ihrem Rolls Royce angegriffen.

Anfang 2011 folgten dann die "Anti-Austerity Protests“ von UK Uncut und hauptsächlich den Gewerkschaften gegen die Sparmaßnahmen der britischen Regierung. Einen guten Überblick liefert hier Wikipedia. Am 26. März dann die bisher größte Demonstration in den letzten Jahren in London: zwischen 250 000 - 500 000 Menschen beteiligten sich am Aufruf der Gewerkschaften. Anarchisten lieferten sich Straßenschlachten mit der Polizei, Banken und Geschäfte wurden geschmasht. Youtube Channel „STUDENTPROTESTLONDON“ hat all dies in einer 10-teiligen Doku gefilmt.

Großbritanien verfügt, nicht zuletzt aufgrund des Wütens der "Iron Lady", nur über ein sehr locker geknüpftes soziales Netz und hatte gleichzeitig (wie die USA auch) Vorbildcharakter für die Europäische Union. Die Privatisierungswelle von öffentlichem Eigentum, die im Falle der Bundesrepublik durch eine durch EU-Richtlinie (Vgl. Richtlinie 2006/123/EG über Dienstleistungen im Binnenmarkt zumindest beschleunigt wurde, lässt sich direkt auf das britische Modell zurückführen. Interessanterweise zeigte sich gerade auf den Inseln, dass es sich dabei um ein äußerst zweischneidiges Schwert handelt. So geriet etwa die Privatisierung der British Railway zu einem regelrechten Fiasko. Trotz dieser Rückschläge wähnten sich die Anhänger einer wirtschaftsliberalen Theorie dennoch als die Gewinner. In den USA, wo eine ähnliche Wirtschaftsauffassung bis heute vorherrscht, galt Massenarbeitslosigkeit lange Zeit als (kontinental-)europäische Krankheit. Wenig Sozialabgaben heißt niedrigere Steuern und damit mehr Wirtschaftswachstum.

Doch weniger Sozialausgaben bedeuten auch weniger Umverteilung. Die Folge: Der Gegensatz zwischen Arm und Reich ist wesentlich schärfer als in anderen Ländern. Solange der "angloamerican dream" funktionierte und die Wirtschaft tatsächlich wesentlich kräftiger Wuchs, ließ sich zumindest die Illusion aufrecht erhalten, dass von dem warmen Geldregen der sich über die Oberschicht ergoss, auch etwas für die Unterschicht übrigbleibt.
In Folge der jetzigen Wirtschaftsfinanzkrise brechen den Staaten nun die Einnahmen weg. Gerade in Großbritannien hat dies fatale Folgen, da der Bankensektor dort bereits eine tradtionell große Rolle spielt. In Folge von Deregulierungen wuchs der Bankensektor noch überproportional an, so dass die Bankenkrise(n) erhebliche realwirtschaftliche Folgen mit sich brachten.

Mehr als eine Million Menschen unter 25 Jahren sind arbeitslos und als wäre das nicht noch Konfliktpotential genug, gilt die Integration zahlreicher Migranten als gescheitert. Somit reicht es bereits aus, einer Minderheit anzugehören und/oder aus einem bestimmten Viertel zu kommen, damit sich die Chancen auf Ausbildung und Job drastisch verschlechtern.

Es ist die Perspektivlosigkeit dieser Generation, da sind sich alle Kommentatoren einig, die sie auf die Straße treibt. Die Gewaltausbrüche sind aus der Perspektive des "abgehängten Prekariats", welches sich von der Gesellschaft im Allgemeinen und dem Staat im Besonderen vernachlässigt fühlt, durchaus verständlich. Darüber hinaus sieht sich dieses einem politischen System ausgesetzt, welches auf gesellschaftliche Missstände vor allem mit mehr Überwachung und härteren Strafen reagierte.
Während soziale Ungerechtigkeit das Wasser immer mehr zum Kochen brachte, erhöhte die Regierung im gleichen Atemzug die Repression. Kein so genannter demokratischer Staat überwacht seine Bürger so umfassend wie der britische. Die jüngsten Sparmaßnahmen, die vor allem die "Unterschicht" wegen der Krise zur Kasse baten, verschärften die Situation zusätzlich. Wie auch schon in den Jahrzehnten zuvor wiederholt sich nun auch die Geschichte in den ärmeren, stark migrantisch geprägten Stadtteilen Londons: Ein Polizeieinsatz als Auslöser für massive Krawallen und Plünderungen. Einen kurzen Einblick mit Updates liefert ein Artikel auf indymedia linksunten. An der jetzigen sozialen Unruhe sind die Gewerkschaften und linksradikalen Aktivisten jedoch nicht beteiligt. Es rebelliert die ärmste und am meisten ausgegrenzte Schicht: junge perspektivlose Migranten in Vierteln aus Tottenham, Enfield, Brixton und Hackney (kleine Auswahl) – Ihre Wahl der Mittel ist drastisch: Plünderungen und brennende Gebäude, keine Demonstration, keine Pressesprecher, keine organisierte politische Gruppe. Warum ist dies so? To make it simple: diese Menschen haben keine politischen Repräsentanten, kaum jemand kümmert sich um sie, sie sind der Regierung scheissegal.

Bereits im Juli 2011 berichtete die englische Tageszeitung „The Guardian“ über mögliche Riots, weil die Sparmaßnahmen der Regierung zahlreiche Jugendzentren bertrifft (Video). Im Nachhinein eine treffende Prognose… Dass dies sich nun nicht nur auf London beschränkt zeigt, die Regierungsmaßnahmen und der Riss in der Gesellschaft betrifft das ganze Land. In Birmingham z. B. wird laut BBC am Montag geplündert und eine Polizeiwache geht in Flammen auf. Berichte aus Liverpool zeigen brennende Autos – Britain is going up in flames!

Ein kurzes Video zeigt die Motivation der Menschen in Clapham Junction. "We want to get our taxes back!" - An jeder Ecke Londons ist der Konsum allgegenwärtig - kein Wunder, dass die Menschen sich jetzt ihren Teil vom Kuchen nehmen. Ob sie oppertun, politisch motiviert oder wie auch immer handeln lässt sich für uns schwer sagen, denn die Presse berichtet nur über die "Kriminalität" eines wütenden Mobs. Natürlich ist es klar, dass sich keiner von der BBC interviewen lässt, warum er den "currys.digital" store ausräumt (eine Elektronikkette wie Media Markt). Da ist die so vielfältig er- und gewünschte soziale Unruhe mal da und dann will plötzlich keiner damit in Verbindung gebracht werden. Ein bißchen nach dem Motto "if its not my riot i won't join in". Aktivisten sollten sich aber beteiligen, um auch die wahllose Gewalt gegen Sachen einzudämmen: In der local community als Gruppe die kleinen Läden und den Wohnraum schützen, Flyer mit Repressionstipps verteilen und die corporate businesses (die Ketten) gezielt angreifen. Denn gerade die großen Ketten verdrängen den lokalen Einzelhandel, Güter werden nicht mehr lokal produziert und verkauft, sie vernichten damit Jobs und tragen den Kapitalismus in seiner konsumfreundlichsten Art und Weise.

Genauso ist es wichtig eine Gegenöffentlichkeit zu den Massenmedien zu schaffen – sie versuchen mit ihrer dramatischen Berichterstattung ein Klima der Angst zu schaffen, um die herrschende Ordnung zu stabilisieren. Erste Analysen und Gegenöffentlichkeit gibt es mittlerweile aus linksradikaler Perspektive auf Indymedia UK & Indymedia London. In den BBC News wird von den Journalisten ein Einschreiten der Armee gefordert, die Regierung hat heute morgen eine Notkonferenz (COBRA) einberufen. Ein Fußballspiel von "West Ham“ gegen "Aldershot“ wurde abgesagt, genauso wie das Länderspiel England gegen Holland am Mittwoch. Der Staat und die Medien rüsten auf, es wird sicher nicht lang dauern bis der Notstand ausgerufen wird. Zuletzt wurde das Militär 1919 im Inneren eingesetzt – damals streikte die Polizei. Es ist mit großer Wahrscheinlichkeit davon auszugehen, dass die Unruhen weitergehen werden. Mit welcher Intensität hängt sicher auch von der Reaktion des Staates ab. Law & Order, Notstand und Armee ist mittlerweile in der Hysterie der Medien nicht unwahrscheinlich, schließlich ist die staatliche Ordnung in Gefahr. Der Hauch von Revolution hat sich zum Wind gesteigert, aber ist es eine Revolution in der die Linke intervenieren kann und will? An den sozialen Problemen hat sich auf jeden Fall nichts geändert, eine Gegenöffentlichkeit und die Solidarität mit den Menschen in den Communities ist sicher ein Ansatz – Spread the news!

Übersichskarte zu den Brandherden in London: http://maps.google.co.uk/maps/ms?msid=207192798388318292131.0004aa01af6748773e8f7&msa=0&ie=UTF8&ll=51.558503,-0.055275&spn=0.114195,0.298691&source=embed
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Ergänzungen

Noch ein Toter

baal-re-mesh.com 10.08.2011 - 21:13
Nun gibt es den zweiten Toten WÄHREND den Ausschreitungen. Ein Anwohner asiatischer Herkunft, der von Plünderern angefahren wurde und dann verstarb.

 http://www.guardian.co.uk/uk/2011/aug/10/birmingham-riots-anger-deaths

hier,

t 10.08.2011 - 23:55

why we fight

poli 11.08.2011 - 09:35

68-jähriger ist der 5.Tote

Nicht mehr aus Koma erwacht 12.08.2011 - 02:40
Totgeprügelt, weil er Kids vom Brandstiften abhalten wollte.
 http://www.guardian.co.uk/uk/2011/aug/11/ealing-riot-victim-family-police

Beiträge die keine inhaltliche Ergänzung darstellen

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Solidarität? — Hugo

die Konsequenz — Bert zu Ernie

World wide same story — Bernd das Brot