Interview: Sozialproteste in Israel

Wladek Flakin (RIO) 09.08.2011 13:59 Themen: Repression Soziale Kämpfe Weltweit

Letzten Samstag nahmen bis zu 300.000 Israelis an Protesten gegen Wohnungsmangel und hohe Lebenskosten teil. Linksradikale AktivistInnen versuchen, die Forderungen der ArbeiterInnen und der PalästinenserInnen in den Mittelpunkt zu stellen. Ein Gespräch mit Matan Kaminer, Student der Universität Tel Aviv und dort aktiv im Protestcamp im Levinsky-Park. Als Kriegsdienstverweigerer verbrachte er fast zwei Jahre im Gefängnis.

Im März sagte der israelische Premierminister Benjamin Netanjahu, Israel werde im Gegensatz zu fast jedem anderen Land im Nahen Osten keine Proteste erleben. Doch letzten Samstag gingen bis zu 300.000 Menschen auf die Straße. Was sind die Hintergründe dieser Bewegung?

Sie kam komplett unerwartet. Hätte man vor ein paar Wochen AktivistInnen nach der Möglichkeit einer massiven sozialen Protestwelle gefragt, hätten sie einen ausgelacht.

Rückblickend kann man sagen, dass der Kollaps der Perspektiven für die jüngere Generation der Mittelschicht der Auslöser war. Menschen haben plötzlich erkannt, dass ihre Probleme nicht auf persönliches Versagen, sondern auf das System zurückzuführen sind. Und sie rebellierten.

Erst später kamen ärmere Schichten der jüdischen Bevölkerung Israels dazu. Auch die palästinensische Minderheit in Israel macht erste Schritte, um sich der Bewegung anzuschließen – aber mit ihren eigenen Forderungen.

Es begann mit einem Protestcamp auf der Rothschild-Allee in Tel Aviv – ähnlich denen auf der Puerta del Sol in Madrid oder auf dem Midan at-Tahrir in Kairo. Sehen sich die jungen Demonstranten in Israel als Teil einer internationalen Bewegung?

Alle reden über Kairo. Neben der Versammlung auf der Rothschild-Allee hängt ein Schild mit der Aufschrift: "Die Rothschild-Ecke des Tahrir-Platzes". Aber unsere Erfahrungen ähneln eher denen in Madrid – eine der zentralen Organisatorinnen in Tel Aviv ist Aya Suschan, die die letzten Monate auf den Plätzen in Spanien verbracht hat.

In Israel ist es nicht leicht, Ideen von Protest und Revolution aus einem arabischen Land zu übernehmen. Die implizite Solidarität mit den Menschen in den arabischen Ländern ist das wichtigste, potentiell revolutionäre Element dieser Bewegung.

Im letzten Jahr hat Israel eine Reihe von Streiks erlebt. Nehmen auch ArbeiterInnen an dieser Bewegung teil, oder sind es wirklich nur Jugendliche aus der Mittelschicht, wie vor allem rechte Kommentatoren behaupten?

Viele dieser Streiks wurden von der neuen, radikalen Gewerkschaftsförderation Koah LaOvdim ("Alle Macht den ArbeiterInnen") initiiert. Dort organisieren sich vor allem Dienstleistungsgewerkschaften – vom PflegerInnen bis zu Dozierenden an der Offenen Universität. Aber dort ist auch die Belegschaft von Haifa Chemicals organisiert, einem großen Industrieunternehmen, das sich gerade im Streik befindet. Besonders in Haifa nehmen mehr ArbeiterInnen an der Bewegung teil. Es gibt allerdings nur einige wenige Forderungen, die die Arbeitswelt betreffen, wie die Erhöhung des Mindestlohnes und die Solidarität mit Beschäftigten des öffentlichen Dienstes wie ÄrztInnen und LehrerInnen.

Over Eini, Vorsitzender der größten Gewerkschaftsföderation Histadrut, sagte Anfang der Woche, dass er die Proteste nicht unterstützen würde, wenn ihr Ziel der Sturz der Regierung wäre. Doch einige Demonstranten riefen: "Mubarak, Assad, Netanjahu!" Soll die Regierung gestürzt werden?

Diese Frage spaltet die Bewegung, denn die Leute haben Angst, "politisch" zu sein. Hier bedeutet dies, Stellung zum israelisch-palästinensischen Konflikt zu beziehen.

Auf einer Demonstration trug jemand ein Schild, auf dem stand: "Baut Wohnungen, keine Siedlungen". Spielt also die Besetzung der palästinensischen Gebiete doch eine Rolle bei den Protesten?

Palästinensische AktivistInnen haben die Befürchtung geäußert, dass die Forderungen auf Kosten der PalästinenserInnen erfüllt werden – zum Beispiel durch weitere Landenteignungen. Doch wenn die jüdischen Israelis bereit wären, an der Kolonisierung der Westbank teilzunehmen, dann gäbe es auch kein Wohnungsproblem: Die rechte Regierung wäre nur zu gern bereit, neue Siedlungen für sie zu bauen. Also die Proteste bringen eine indirekte Ablehnung der Siedlungspolitik zum Ausdruck.

Einige haben Angst, dass die Regierung einen Krieg mit einem Nachbarland anzetteln könnte, um die Rebellion zu Hause zu zerschlagen. Das ist auch nicht ausgeschlossen – Syriens Präsident Assad würde dieses Spiel gern mit "Bibi" Netanjahu spielen. Eine Facebook-Gruppe mit dem Motto "Die Proteste auch im Fall einer Militäroperation fortsetzen!" hat an einem Tag über 500 Mitglieder gesammelt. Das könnte der Bewegung eine Antikriegsdynamik geben.

Doch bisher hat die Mehrheit sich bewusst von der palästinensischen Frage ferngehalten. Mit der Zeit wird das unhaltbar, sogar gefährlich. Am Dienstag erschien der Vorsitzende der Yehsa-Kommission, der Vertretung der Siedler in der Westbank, beim Rothschild-Camp und wurde warm empfangen. Nachdem die Rechten versuchten, die Proteste als Werk von AnarchistInnen abzuschreiben, hat der immense Zuspruch offenbar dazu geführt, dass sie sich jetzt in der Bewegung einmischen wollen.

Welche Rolle spielt die antizionistische Linke bei den Protesten?

Organisatorisch so gut wie gar keine. Doch Netzwerke der radikalen Linken intervenieren an vielen Orten und versuchen, die Forderungen der armen ArbeiterInnen und der palästinensischen Minderheit hineinzutragen sowie demokratische Strukturen aufzubauen.

Linksradikaler Aktivist in Israel zu sein, ist meistens ziemlich deprimierend. Es kommt einem so vor, als würden wir nicht aus der Überzeugung handeln, dass wir etwas verändern können, sondern aus dem Glauben, dass wir trotzdem etwas tun müssen.

Doch jetzt ist alles offen, und wir können viel bewegen. Es ist die spannendste Bewegung in Israel seit einer Generation.

Interview: Wladek Flakin, Revolutionäre Internationalistische Organisation (RIO)

eine kürzere Version des Interviews erschien in der jungen Welt vom 4. August

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Ergänzungen

Korrektur

Wladek Flakin 09.08.2011 - 19:29
LebensHALTUNGSkosten sollte das wohl heißen.

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riots? — frager