Mumias Fall: Wahrnehmung in Philadelphia

RADIO AKTIV 18.07.2011 18:56 Themen: Antirassismus Repression Soziale Kämpfe Weltweit
Radio-Interview mit einem FREE MUMIA Aktivisten aus Philadelphia, USA

Transkription und Übersetzung: Radio Aktiv Berlin +++ Erstveröffentlichung auf Indymedia
Radio Aktiv: Ich freue mich, heute Ted Passon in unserem Studio begrüßen zu können. Ted ist aus Philadelphia und an der Kampagne zur Befreiung von Mumia Abu-Jamal (1) beteiligt. Ich habe heute die Gelegenheit, einen Experten befragen zu können. Wir haben in dieser Sendung schon häufig über Mumia berichtet und ich möchte nun einige Fragen stellen:

Wie ich gehört habe, bist du bereits seit langem in diese Kampagne involviert. Warum beteiligst du dich daran und was ist dein persönliches Interesse?


Ted Passon: Ich nahm zum ersten Mal 1998 an einer Demo für Mumia teil. Ich half damals in einem anarchistischen Buchladen namens "Wooden Shoe" (2) aus. Es gibt dort eine Menge an Infomaterial und Büchern über Mumias Fall. Viele Leute, auch meine Freund_innen waren engagiert und erzählten mir darüber. Ich nahm es damals wahr, beteiligte mich aber noch nicht. Irgendwann im Sommer oder Herbst 1998 gab es eine extrem große Demo und Freund_innen überzeugten mich, daran teilzunehmen. Ich ging dorthin und war total überwältigt. Tausende waren gekommen. Es bewegte mich sehr, dass dort Gruppen aus allen nur vorstellbaren Hintergründen teilnahmen. Du hattest dort Queer-Gruppen, religiöse Gruppen, politische Gruppen verschiedenster Strömungen und aus allen unterschiedlichen ethnischen Hintergründen. Es war das erste Mal, dass ich so viele Menschen versammelt sah, die sich alle in einer Sache einig waren: dieser Mann hatte keinen fairen Prozeß erhalten und er sollte einen neuen bekommen.

Es beeindruckte mich sehr. Ich fing darauf hin an, mir den Fall genauer anzuschauen. Ich sah die HBO Dokumentation (3), las mehrere Bücher und Infos. Kurz darauf lernte ich auf einer Mumia Veranstaltung Pam Africa kennen und fragte sie, ob ich mit ihr ein Interview für mein Schulprojekt machen könne, um mehr über Mumias Fall herauszufinden. Sie lud mich zu einem Treffen ein und sagte, wir könnten im Anschluss reden. Ich ging zu der Versammlung. Als es um Schwierigkeiten bei der Erstellung eines Flyers für einen nahenden Event ging - ich hatte zuvor bereits eine Menge Flyer für Punk Rock Konzerte und Kunstveranstaltungen gemacht - höre ich mich plötzlich sagen: "ich denke, ich könnte das übernehmen". Na ja, seit dem bin ich in der Bewegung.



Radio Aktiv: Das war vor 12 Jahren.Und du bist noch immer dabei. In Mumias Fall geht es ja nicht nur um die Ungerechtigkeit in seinem Fall. Sein Fall ist zu einem Symbol der Beziehung zwischen Staat und Bevölkerung geworden. Kannst du uns das aus der Sicht von Philadelphia erklären?


Ted Passon: Was ich sicher sagen kann ist, dass Mumias Fall auf beiden Seiten der Auseinandersetzung extrem starke Emotionen auslöst - sowohl bei denjenigen, die Mumia hingerichtet sehen wollen, als auch denjenigen, die seine Freilassung fordern. Inzwischen sind Mumia und auch Daniel Faulkner (4) beide zu Symbolen für Menschen in bestimmten Lebensumständen geworden. Mumia und auch Faulkner werden von vielen als Repräsentanten sehr grundlegender Auseinandersetzungen gesehen, die seit langem umkämpft sind.

Bei genauerer Betrachtung finden sich viele Menschen in Mumia wieder. Sie sehen z.B. Familienmitglieder, die von der Polizei misshandelt oder ohne Grund inhaftiert wurden, einen unfairen Prozess hatten und aus Geldmangel keine ausreichende rechtliche Vertretung hatten. Oder einfach, weil sie ihr gesamtes Leben die anhaltende Unterdrückung und den Rassismus der Polizei und des Staates erleben. Sie haben genug davon und sind wütend darüber.

Auf der anderen Seite gibt es den alten, tief verwurzelten Rassismus. Er ist für mich schwerer zu analysieren. In Philadelphia denke ich, greift eine Strategie der kapitalistischen Ordnung besonders gut. Weiße aus der Arbeiter_innen Klasse wurden vorsätzlich von Angehörigen von Minderheiten aus der Arbeiter_innen Klasse entfremdet. Das geschah durch Propaganda und kontroverse Debatten, z.B. über Anpassung oder Integration. Ich denke, dass es in Philadelphia einen sehr alten Rassismus gibt. Es betrifft nicht nur die Arbeiter_innen Klasse, aber diese wurde regelrecht manipuliert, um eine Feindschaft mit People Of Color (5) aufrecht zu erhalten. Zum Erhalt des Kapitalismus ist es essentiell, dass sich diese beiden Gruppen nicht einigen und dann alles andere umstürzen. Natürlich gibt es weitere Ursachen, aber dies ist ein sehr wichtiger Teil davon.

Vermutlich weltweit, aber definitiv in den USA fällt es Weißen sehr schwer, sich mit den Ungleichheiten, unter denen Angehörige von Minderheiten leiden, auseinander zu setzen. Das geschieht vermutlich aus zwei Gründen. Manche waren selbst sehr privilegiert. Sie wollen nicht hören, dass ihr gehobener Lebensstandard auf der Unfreiheit oder Armut anderer basiert. Das können sie einfach nicht anerkennen.

Andere hatten niemals finanzielle Privilegien. Angehörige der Arbeiter_innen Klasse arbeiten ihr gesamtes Leben sehr hart. Niemand hilft ihnen. Sie werden sehr abweisend behandelt. Es fällt ihnen schwer, zu verstehen, dass andere noch mieser als sie behandelt werden können. Und das, obwohl sie selbst nicht von Rassismus und der Sonderbehandlung im Zusammenhang mit Unterdrückung betroffen sind. Sie können sich kaum vorstellen, anderen Gruppen zu helfen oder ihnen überhaupt nur zuzuhören. Das kommt daher, dass sie sich selbst so hängen gelassen fühlen.



Radio Aktiv: Was ist dein aktuelles Projekt in der FREE MUMIA Bewegung in Philadelphia?

Ted Passon: Als ich begann, war ich noch auf einer Filmschule. Ich begann von Anfang an, alles zu filmen: Veranstaltungen um Mumia, Versammlungen, Aktionen etc. Einige Jahre später wurde mir klar, dass ich einen speziellen Zugang zu der Bewegung und der Widerstandskultur um Mumias Fall in Philadelphia hatte. Ich dachte, dass ich vielleicht eine bestimmte Geschichte erzählen könnte. Seit ca. 10 Jahren arbeite ich an einer Filmdokumentation. Ich möchte versuchen, genau abzubilden, was Mumias Fall den Menschen wirklich bedeutet. Warum bekämpfen sich diese verschiedenen Interessengruppen? Was sind die alten, tiefen Emotionen, die dieser Fall in den Leuten hervor bringt?

Darüber hinaus bin ich daran interessiert, deutlich zu machen, was hier in Gerichtssälen passiert. Außerdem möchte ich die erstaunliche Arbeit abbilden, die im Zusammenhang mit diesem Fall von Menschen überall auf der Welt geleistet wird.



Radio Aktiv: Vor wenigen Tagen (6) hörten wir, dass der Bezirksstaatsanwalt von Philadelphia das Oberster Verfassungsgericht anruft, um Mumia hinrichten zu lassen. Das trotz der Gerichtsentscheidung vom vergangenen April, in der deutlich festgestellt wurde, dass eine Hinrichtung Mumia Abu-Jamals gegen die US-Verfassung verstoße. Hast du bereits Reaktionen aus Philadelphia gehört und was ist deine persönliche Sicht darauf?

Ted Passon: Als diese Sache bekannt wurde, war ich bereits in Europa. Ich habe in Philly noch mit niemand darüber gesprochen, bin mir aber sicher, dass dort niemand überrascht war. Höchstens, dass sie so lange dafür gebraucht haben, um den Antrag zu stellen. Tatsächlich hat die Bezirksstaatsanwaltschaft hat gar keine andere Wahl. Es geht lediglich um politische Interessen. Natürlich gehen sie gegen die April Entscheidung an. Aus politischen Gründen können sie Mumia gar nicht erlauben, zurück in einen Gerichtssaal zu gehen (7). Vermutlich haben sie nur den politischen Preis gedanklich durchgespielt. Ist es besser, In Berufung zu gehen? Hilft das bei der nächsten Wahl (8)? Oder wäre es vielleicht besser, die ganze Sache auf sich beruhen zu lassen in der Hoffnung, dass die Menschen müde von der Auseinandersetzung seien. Ich vermute, dass sie nach Gesprächen mit der F.O.P. oder Maureen Faulkner (9) entschieden haben, dass es ihnen mehr bringt, in Berufung zu gehen und weiter zu machen. Das war auch schon immer ihre Haltung. Von Tag eins war das immer ein politischer Fall. Er wurde stets weithin beachtet und es verärgerte die F.O.P. extrem. Menschen von außerhalb Philadelphias verstehen vielleicht nicht, wie groß der Einfluss der Polizeivereinigung F.O.P. auf die lokale Politik ist. Ohne die Unterstützung der F.O.P. ist es unmöglich, zum Bezirksstaatsanwalt gewählt zu werden. Ohne die Unterstützung der F.O.P. ist es unmöglich, zum Bürgermeister gewählt zu werden. Daher ist die Lokalpolitik sehr stark mit den Wünschen der F.O.P. verflochten. Das bedeutet, dass alle Politiker_innen, die irgendwas in der Stadt erreichen wollen, sie unterstützen müssen.


Radio Aktiv: Bei meinem Besuch im letzten Jahr habe ich selbst wahrgenommen, dass die allgemeine öffentliche Meinung um den Fall sehr von der lokalen Sicht bestimmt wird. Viele sind von dem internationalen Interesse verstört, dass der Fall ausgelöst hat. Das verstehen sie von ihrer Position aus nicht. Was können Gefangenen Solidaritätsgruppen und Interessierte tun, um der FREE MUMIA Bewegung dabei zu helfen, der Bevölkerung und den Behörden das überregionale Interesse an der Auseinandersetzung verständlich zu machen?

Ted Passon: Es gibt eine sehr einfache Sache, die von außerhalb gemacht werden kann. Briefe an Zeitungen wie den Philadelphia Inquirer oder die Philadelphia Daily News, vielleicht auch an den Bürgermeister, besser jedoch öffentlich zu schreiben. Viele behaupten hartnäckig, dass je weiter du von Philadelphia weg gehst, umso weniger Leute über Mumias Fall Bescheid wissen. Meine persönliche Erfahrung ist ironischerweise eine ganz andere. Je weiter ich von Philadelphia weg fahre, umso mehr finde ich, die den Fall kennen. Daher glaube ich, dass es viele Leute sehr überraschen würde, wenn Menschen, die das hier lesen (im Original: hören - die Übersetzerin), Briefe mit Sachkenntnis an die Medien schreiben könnten. Es ist nicht schwierig, einen kurzen, sachlichen Text zu einzelnen Aspekten des Falls zu verfassen und zum Ausdruck zu bringen, wie verstörend das ganze auf einen wirkt. Führt einzelne Gründe an, aus welchen er (Mumia) ein neues Verfahren erhalten sollte. Simple Tatsachen über den Fall reichen da völlig aus. So eine vergleichsweise kleine Aktivität könnte eine große Hilfe sein.



Radio Aktiv: Hast du Mumia mal besucht?

Ted Passon: Ja, das habe ich. Im war SCI Greene, wo er festgehalten wird.


Radio Aktiv: Was ist dein Eindruck über seine Gesundheit und sein Gemüt?

Ted Passon: Also, er ist fit. Er ist in viel besserer Form, als ich es vermutlich an seiner Stelle wäre. Da bin ich mir sicher. Er ist in guter Verfassung, aktiv und in Gesprächen sehr aufmerksam und beteiligt. Es ist sehr einfach, zu übersehen, dass du mit jemandem sprichst, der seit fast 30 Jahren im Todestrakt lebt - oder wie in meinem Fall, so lange wie ich lebe. Das soll aber auf der anderen Seite nicht seine Situation verharmlosen. Obwohl er sehr stark und klar denkend ist, sind die Umstände für alle dort extrem hart. Daher möchte ich nicht den Eindruck erwecken, dass es dort einfach wäre. Natürlich ist es hart für ihn. Er geht offensichtlich durch finstere Zeiten. Aber er ist erstaunlich stark.

Ein Beispiel vielleicht: er sagte mir etwas, was ich nicht vergesse. Ich fragte ihn, wie er alles zusammen behalte und nach dieser langen Zeit seinen Verstand bewahre? In diesem winzigen Raum, 23 Stunden jeden Tag alleine. Er sagte: "Eine Sache bereitet mir große Freude: ich liebe meine Arbeit. Ich liebe es, zu schreiben, zu recherchieren, Ideen zu entwickeln und mich mit Menschen darüber auszutauschen. Aufgrund einiger wunderbarer Menschen draußen kann ich das noch immer machen. Das hält mich am Leben."

Er sagte, dass er mal eine Zelle gehabt habe, von der aus er morgens die Wärter_innen auf ihrem Weg zu Arbeit rein laufen sehen konnte. Diese Leute sahen so unzufrieden aus. Es war offensichtlich, dass sie ihre Arbeit und ihr Leben hassten. Sie waren unglücklich und fühlen sich vermutlich gescheitert. Manchmal hatte er daher den Eindruck, dass er glücklicher als diese Leute auf ihrem Weg zur Arbeit sei. Ich fand, dass das sehr erstaunlich ist.



Radio Aktiv: Das ist wirklich erstaunlich. Ich danke dir für dieses Gespräch und hoffe, dass wir uns das nächste Mal sprechen, wenn die absurde Forderung nach Mumias Hinrichtung endgültig vom Tisch ist und wir endlich an seiner Freilassung arbeiten.

Ted Passon: Danke. Vielleicht sprechen wir uns das nächste Mal schon bei Mumias Freilassungsparty.


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Erklärungen / Ergänzungen

(1) Mumia Abu-Jamal - Hintergrund Artikel auf Indymedia (2007)
 http://de.indymedia.org/2007/11/200552.shtml

(2) anarchistischer Buchladen Wooden Shoe
 http://www.woodenshoebooks.com/

(3) Home Box Office: "A Case for Reasonable Doubt" Dokumentation über Mumia Abu-Jamal (1995)  http://video.google.com/videoplay?docid=-1260413833582154541

(4) Der Polizist Daniel Faulkner schoß Mumia Abu-Jamal am 9.12.1981 nieder verprügelte seinen Bruder schwer. Mumia überlebte und wurde darauf hin beschuldigt und mit gefälschten Beweisen auch verurteilt, Daniel Faulkner umgebracht zu haben.

(5) Angela Davis - Definition PEOPLE OF COLOUR (Berlin, 2010 - engl)
 http://www.youtube.com/watch?v=OxWYVMit3Cc

(6) DA fordert erneut Mumias Hinrichtung (13.07.2011)
 http://de.indymedia.org/2011/07/311739.shtml

(7) Im April 2011 gestand das 3. Bundesberufungsgericht der USA der Staatsanwaltschaft zu, ein neues Juryverfahren über Lebenslänglich oder Todesstrafe gegen Mumia zu beantragen. Obwohl es dabei nicht um Mumias Unschuld und damit Freilassung sondern lediglich um das Strafmass ginge, könnte der Angeklagte selbst daran teilnehmen und zu der Jury sprechen, Beweise einbringen und Zeugen benennen. Seit 1982 sind unzählige Beweise, die die offizielle Version komplett unglaubwürdig machen, unterdrückt worden. Mumia hatte bis heute keine Chance, zu einer fair gewählten Jury zu sprechen. Bisher traut sich die Staatsanwaltschaft nicht, dieses Juryverfahren zu beantragen. Weitere Infos dazu in englisch:  http://de.indymedia.org/2011/04/306240.shtml

(8) Bezirksstaatsanwälte werden gewählt und sind nicht nur Ankläger_innen sondern politische Mandatsträger_innen in den USA.

(9) F.O.P. = Fraternal Order of Police (Brüderlicher Orden der Polizei) ist politisch rechtsaußen stehende, us-weit organisierte Polizeiorganisation mit Hauptsitz in Philadelphia. --- Maureen Faulkner = ist die Witwe des erschossenen Polizisten Daniel Faulkner und Ikone der Hinrichtungsfanatiker_innen.

(10) Philadelphia Inquirer
 http://philly.newspaperdirect.com/epaper/viewer.aspx

(11) Philadelphia Daily News
 http://phillydailynews.newspaperdirect.com/epaper/viewer.aspx
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Ergänzungen

weitere Infos

FREE MUMIA Bündnis 18.07.2011 - 19:04

wöchentlich neue Radio Kommentare von Mumia Abu-Jamal im Original:
 http://www.prisonradio.org/mumia.htm

Besuchsbericht bei Mumia im Todestrakt:
 http://mumia-hoerbuch.de/text/besuchsbericht.pdf

Rundbriefe aus der Solidaritätsbewegung:
 http://mumia-hoerbuch.de/rundbrief.htm

Schreibt Mumia!
 http://mumia-hoerbuch.de/bundnis.htm#SchreibtMumia

Spendenaufruf für die Verteidigung und Solidaritätsarbeit:
 http://mumia-hoerbuch.de/bundnis.htm#spendenaufruf

various viedeo interviews on the Mumia case

from a 2007 film 19.07.2011 - 00:03
Noam Chomsky, Mos Def and others talk on Mumia and instituitional racism in the US

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