Sachsen: Das System kennt keine Grenzen

addn.me 22.06.2011 04:30 Themen: Antifa Blogwire Freiräume Repression
Die Affäre um die Sammlung personenbezogener Daten durch die Dresdner Polizei weitet sich immer weiter aus. Nachdem die Polizei bereits drei Tage nach den Ausschreitungen vom 19. Februar einen richterlichen Beschluss zur Funkzellenabfragen für den Dresdner Süden bekommen hatte, offenbaren Recherchen des MDR, dass die vom Gesetzgeber nur unter strengen Kriterien gestattete Erhebung zehntausender sensibler Daten in Sachsen nicht zum ersten Mal stattgefunden hat. Auch die Kritik in den Reihen der Landesregierung wird immer deutlicher. So hat Sachsens CDU-Ministerpräsident Stanislaw Tillich seinem Justizminister Jürgen Martens (FDP) und Innenminister Markus Ulbig (CDU) bis Freitag Zeit für einen detaillierten Bericht zu den Vorkommnissen gegeben.
Wie Recherchen des MDR ergeben haben ist der flächendeckende Einsatz der Funkzellenabfrage gegen zehntausende Menschen nicht neu. So wurden im Ermittlungsverfahren zum Brandanschlag auf Fahrzeuge der Bundeswehr vor mehr als zwei Jahren tausende Kundendaten der Baumarktkette OBI sowie zehntausende Mobilfunkdaten aus dem Bereich der Dresdner Neustadt beim Sächsischen Landeskriminalamt gespeichert und ausgewertet. Die so gewonnenen Daten haben bis heute weder einen Ermittlungserfolg gebracht noch wurden sie gelöscht.

Der FDP-Rechtsexperte Carsten Biesok sprach sich in einer Stellungnahme gegen die flächendeckende Telekommunikationsüberwachung tausender Menschen aus und verwies auf die Ablehnung präventiver Überwachung und Vorratsdatenspeicherung seiner Partei. Auch der Vorsitzende der Jungliberalen Aktion Christoph Huebner sprach von einem "unverzeihlichen Machtmissbrauch" und forderte von Sachsens Innenminister Markus Ulbig (CDU) eine Stellungnahme zu den Rechtsverstößen.

Inzwischen hat die Grüne Fraktion im Sächsischen Landtag auf die jüngsten Vorfälle reagiert und auf ihrer Internetseite ein Musterschreiben zur Abfrage der gepeicherten persönlichen Daten bereitgestellt. In einer Pressemitteilung kritisiert der Grüne Landtagsabgeordnete Johannes Lichdi den "Verfolgungseifer" der Dresdner Polizei gegen friedliche Demonstrantinnen und Demonstranten. So wurden durch die Dresdner Staatsanwaltschaft nach Angaben des Sächsischen Justizministers Jürgen Martens (FDP) inzwischen bereits 52 Ermittlungsverfahren gegen Teilnehmerinnen und Teilnehmer an den Blockaden eingeleitet.

Als Reaktion auf die Vorfälle hat Sachsens Ministerpräsident Stanislaw Tillich (CDU) der TAZ zufolge das Innen- und Justizminsterium aufgefordert, bis Freitag einen umfassenden Bericht zu den weitreichenden Überwachungsmaßnahmen vom 19. Februar vorzulegen. Sachsens Landespolizeipräsident Bernd Merbitz (CDU) musste aus diesem Grund schon am Dienstag die Innenministerkonferenz in Frankfurt am Main vorzeitig verlassen. Das Justizministerium will nach Aussage eines Ministeriumssprechers erst am Montag über die Presse von den Vorfällen gehört haben. Neben einer Sondersitzung des Innen- und Rechtsausschusses am 27. Juni wird sich der Landtag in der kommenden Woche mit der Funkzellenauswertung beschäftigen.

Am Sonntag war nach Recherchen der TAZ bekannt geworden, dass die Dresdner Polizei mit richterlichem Beschluss nach den Ausschreitungen vom 19. Februar für den Zeitraum von 13 bis 17.30 Uhr die Telekommunikationsdaten aller Menschen im Süden Dresdens angefordert hatte. Hintergrund der Aktion waren Verfahren wegen schweren Landfriedensbruchs und Ermittlungen wegen Bildung einer kriminellen Vereinigung. Die von den Mobilfunkbetreibern gespeicherten Daten enthalten nicht nur Informationen darüber, wer mit wem, sondern auch wo und wann telefoniert wurde. Daraufhin hatten Sachsens Oppositionsparteien den Eingriff in Grundrechte als völlig unverhältnismäßg kritisiert und eine Stellungnahme von den verantwortlichen Ministern gefordert.

Mit den neuen Erkenntnissen stellt sich im Augenblick die Frage, wer in Sachsen überhaupt die Arbeit der Polizei kontrolliert und was mit den von ihr bisher gesammelten Daten passiert. Wenn wie im Fall des Brandanschlags auf die Bundeswehr, die Daten tausender Bürgerinnen und Bürger offensichtlich auch zwei Jahre nach der Tat noch nicht gelöscht worden sind, kann es mit der Behauptung von Dresdens Polizeipräsident Dieter Hanitsch, dass "sich keiner wegen seiner persönlichen Daten sorgen" machen muss, nicht weit her sein. Zu Fragen polizeilicher Transparenz hatte sich erst im April der zuständige Innenausschuss des Sächsischen Landtags positioniert, als er einen von den Grünen eingebrachten Gesetzesentwurf zur Kennzeichnungspflicht für Beamtinnen und Beamte abgelehnt hatte.
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Ergänzungen

Polizei wertet massenhaft Daten aus

heise 22.06.2011 - 10:06
Die massenhafte Datenauswertung der sächsischen Polizei, über die am Wochenende berichtet wurde, ist laut dem MDR kein Einzelfall. Seit zwei Jahren werden einem Bericht des Senders zufolge beim Landeskriminalamt Sachsen tausende Kundendaten der Baumarktkette OBI und Mobilfunkdaten aus dem Bereich der Dresdner Neustadt gespeichert und ausgewertet. Dabei geht es um einen Brandanschlag auf Bundeswehrfahrzeuge in der Dresdner Alberstadtkaserne am 12. April 2009, der bisher noch nicht aufgeklärt wurde.

Die Polizei habe auf der Suche nach vermutlich linksextremen Tätern 162.000 Rechnungsbelege von OBI beschlagnahmt und mit Daten von Mobilfunknutzern mit dem computergestützen Datenabgleichsystem EFAS abgeglichen. Diese Daten seien noch nicht gelöscht worden. Die Belege waren für die Polizei wichtig, weil eine Komponente eines am Tatort sichergestellten unbeschädigten Brandsatzes nur bei OBI erhältlich war.

Die SPD kritisierte laut dem Bericht eine "systematische Überwachung", die erschreckende Ausmaße annehme. Carsten Biesok von der Landtagsfraktion der FDP, die in Sachsen mitregiert, meinte, die Ereignisse zeigten, dass man der Polizei bestimmte Mittel "nicht in die Hände geben dürfe". Das gelte vor allem für die Vorratsdatenspeicherung und präventive Telefonüberwachung. Am Wochenende war bekannt geworden, dass die Polizei nach Protesten gegen Neonazi-Aufmärsche Mitte Februar in Dresden Handyverbindungen tausender Demonstranten und Anwohner ausgewertet hat. (anw)

 http://www.heise.de/newsticker/meldung/Bericht-Saechsische-Polizei-wertet-massenhaft-Daten-aus-1264926.html

Journalismus made in GDR

Antifa 22.06.2011 - 10:39
Einer hat die Tragweite des Ganzen immer noch nicht begriffen. Die gezielte Überwachung tausender Bürgerinnen und Bürger kann und darf nie zum Ermittlungsinstrument völlig intransparenter Polizeiarbeit werden, das sind keine Kavaliersdelikte oder "alltägliche Ermittlungsarbeit" mehr, sondern schwere Eingriffe in Grundrechte und damit auch strafrechtlich relevant.

Der Kommentar von SZ-Lokalreporter Alexander Schneider zeigt sehr deutlich, wie wenig sich hiesige Journalisten mit den Hintergründen von Pressemitteilungen der Polizei auseinandersetzen. In der Regel wurden diese Meldungen in der Vergangenheit weder kontrolliert noch nachrecherchiert, sondern schlichtweg 1:1 übernommen. Der Artikel über das fehlende Verständnis von Datenschutz durch die Polizei, kann aus diesem Grund nur von Journalistinnen und Journalisten außerhalb der sächsischen Landeshauptstadt kommen.

So ist es nicht verwunderlich, dass für Ihn der eigentliche Skandal nicht die massenhafte Erhebung von Verbindungsdaten zehntausender unschuldiger Menschen, sondern die schlechte Ermittlungsarbeit der Polizei ist.

mein Skandal, dein Skandal, unser Skandal

KaffeemaschinenbedienerIn 22.06.2011 - 12:03
wie im Artikel bereits erwähnt, bedürfen derartige Maßnahmen einer richterlichen Anordnung, die im konkreten Fall auch erfolgte.
Dass die im Zuge dieser Maßnahme gewonnenen Daten auch in andere laufende Ermittlungen eingegangen sind, ist ebenfalls nichts Außergewöhnliches oder Neues, so etwas nennt man "Zufallsfunde".

Aus der Perspektive der seit ca. 20 Jahren kontinuierlich immer weiter eingeschränkten Bürgerrechte ist die Überwachungsmaßnahme zweifellos ein Skandal.

Der Skandal besteht jedoch nicht im Handeln der Polizei, die sich nachweislich an gesetzliche Vorgaben gehalten hat, sondern er besteht im Handeln der Parlamentarier, die diese gesetzliche Vorgaben geschaffen haben.

Die Politiker, die jetzt wieder mal versuchen, jedem an die Nase zu fassen, außer sich selbst, stehen auch nicht ganz außerhalb des Geschehens.
Das Parlament beschließt zwar Gesetze, aber es arbeitet sie nicht aus, das macht in der Regel die Regierung.

Die Polizei ist ein ausführendes Organ, hier werden Befehle befolgt.
Die Verantwortlichen für diesen Skandal sitzen im sächsischen Landtag und in der Staatskanzlei. Es sind genau die gleichen Leute, die jetzt die Nase rümpfen und fragen "Wie konnte das passieren?"

...

... 23.06.2011 - 02:20
Wo kann man die Recherchen des MDR nachvollziehen? Ich habe zu keiner Zeit erlebt, dass sich der MDR auf seiner Internetpräsentation in irgendeiner Weise ernsthaft kritisch zu polizeilichen Maßnahmen und politischen Verlautbarungen geäußert hätte, da sind die meisten sächsischen Medien zwar spät, aber inzwischen wenigstens nach dem 19.2.2011 doch einen Schritt weiter, sogar die SZ.
Zur Frage, wo denn das Parlament gewesen sei: Sachsen ist eines der wenigen Bundesländer, in denen es seit Jahren eine uneingeschränkt stabile Mehrheit für die Konservativen gibt/gab. Das hat in einem solchen Maße Stärke vermittelt, dass es de facto keine mehr durch die Regierung kritisch ernstzunehmende Parlamentsdebatten mehr geben konnte. Dies äußert sich u.a. gerade an das Polizeirecht berührende Geetzesbeschlüssen. Diese haben in den letzten Jahren mehrfach kostspielige Änderungen und (gescheiterte) Änderungsdiskussionen erfahren müssen, die genau so ursprünglich nicht nur durch die linke, grüne... Opposition geltend gemacht wurden, sondern ebenso durch parteiunabhängige Rechtsexperten, GdP, Polizei...
"Die Botschaft hör ich wohl, allein ich zweifel...": dass Tillich, Justiz- und Innenminister nun eine Aufklärung erwarten, kritisch sich äußern... klingt ja toll und man könnte meinen, sie hätten den Wert bürgerlicher Rechte und Freiheiten etc. begriffen...
Was man von der sächsischen Polizei indessen an Moral, Bürgernähe, Gesetzesbewusstsein und sogar taktischen Fähigkeiten tatsächlich zu erwarten hat, bewiesen sie ja einmal mehr am 17.Juni in DD und sogar Herr Merbitz beim Kirchentag bei seinem Auftritt zu einer Diskussion über bürgerschaftliches Engagement in einer Dresdner Kirchgemeinde. Stimmt es, dass der in der SED war? Dann wäre es eine ausgesprochene Seltenheit, dass in einem erzkonservativ regierten Bundesland, das für jede studentische oder sonst hilfsweise Kleckertätigkeit eine persönliche Erklärung über DDR-Vergangenheit verlangt (habe ich in den letzten zwanzig Jahren ca. 15x ausfüllen müssen) so ein Amt erringt. O-Ton meiner Partnerin, die anders als ich eher auf staatliche als auf bürgerliche Rechte dringt (!): der ist als Polizeichef Dresdens unfähig, sich kritischen Fragestellungen zu stellen...

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Stellungnahme — Bernd Merbitz