Bremen: Kundgebung zu Libyen-Flüchtlingen

NoLager Bremen 05.06.2011 20:02 Themen: Antirassismus Soziale Kämpfe Weltweit
Aus aktuellem Anlass haben sich gestern mehrere Dutzend Menschen an einer dreistündigen Dauerkundgebung in der Bremer Innenstadt beteiligt (mensch könnte auch von einem Agitprop-Happening sprechen). Mit der Aktion sollte auf die Situation der in tunesischen Wüstenlagern gestrandeten Libyen-Flüchtlinge sowie die jüngsten Bootsunglücke im Mittelmeer aufmerksam gemacht werden. Die Aktion hat den Auftakt einer gerade beginnenden Kampagne anlässlich der nächsten Innenministerkonferenz am 22. Juni in Frankfurt gebildet, mit der die Aufnahme von 6.000 Libyen-Flüchtlingen durch Deutschland erreicht werden soll.
Hintergrund ist, dass bereits seit Monaten in tunesischen, ägyptischen und nigrischen Flüchtlingscamps Tausende, überwiegend aus Subsahara-Ländern stammende MigrantInnen festsitzen, die wegen des (Bürger-)Kriegs in Libyen das Land verlassen mussten, jetzt aber nicht mehr weiterkommen. Viele von ihnen sehen ihre einzige Chance deshalb darin, nach Libyen zurückzugehen und von dort aus die hochriskante Bootspassage nach Europa zu wagen. Wie zugespitzt die Situation ist, wurde am 24. Mai deutlich, als es durch Teile der lokalen Bevölkerung zu einem pogromartigen Angriff auf das UNHCR-Flüchtlingslager Choucha gekommen ist ( http://www2.de.indymedia.org/2011/05/308936.shtml). Vor diesem Hintergrund haben die transnationalen Netzwerke Afrique-Europe-Interact und Welcome to Europe zusammen mit Pro Asyl, medico international, borderline europe und dem Grundrechtekomitee erst kürzlich einen Appell unter dem Titel „Fluchtwege öffnen, Flüchtlinge aufnehmen!“ veröffentlicht:  http://www.afrique-europe-interact.net/?article_id=486&clang=0

Mit der Kundgebung in Bremen sollte der Bremer Innensenator Ulrich Mäurer öffentlich aufgefordert werden, sich im Namen der Stadt Bremen anlässlich der nächsten Innenministerkonferenz am 22. Juni 2011 in Frankfurt für eine Aufnahme der in Nordafrika gestrandeten Libyen-Flüchtlinge einzusetzen. Diese Forderung kommt keineswegs aus heiterem Himmel, denn die Bremer Bürgerschaft (Landtag) hat bereits am 27.01.2011 (auf Initiative von SPD und Bündnis90/Die Grünen) einstimmig für eine Unterstützung der Kampagne „Save me – Flüchtlinge aufnehmen“ votiert. Somit hat sich auch Bremen grundsätzlich bereit erklärt, Flüchtlinge im Rahmen eines Resettlement-Programms des UN-Flüchtlingskommissariats (UNHCR) und der Bundesregierung aufzunehmen und bestmöglich zu integrieren. Unter „Resettlement“ wird die Aufnahme einer bestimmten Zahl von Flüchtlingen aus Krisengebieten verstanden – Deutschland hat zum Beispiel Ende der 1970er 26.000 vietnamesische Boatpeople aufgenommen, in den 1990er Jahren sind Jüdinnen und Juden aus der ehemaligen Sowjetunion nach Deutschland gekommen. An der von Pro Asyl initiierten Kampagne „Save me – Flüchtlinge aufnehmen“ beteiligt sich ein breites Bündnis von Wohlfahrtsverbänden, Kirchen, Menschenrechts- und Flüchtlingsorganisationen. Bislang haben sich in 56 Städten Save-me-Bündnisse mit insgesamt 7000 UnterstützerInnen gegründet, konkret konnten in 38 Städten Ratsbeschlüsse wie in Bremen erwirkt werden. Dabei dürfte es sich von selbst verstehen, dass Resettlement-Programme lediglich ein erster Schritt sind, sie können die von unten erkämpfte Durchsetzung der fundamentalen Menschenrechte aller Flüchtlinge und MigrantInnen weltweit nicht ersetzen.

Während der dreistündigen Dauer-Kundgebung wurde der Appell als Flugblatt verteilt, am Infostand ein Video-Clip zur Situation in Choucha gezeigt ( http://www.afrique-europe-interact.net/index.php?article_id=470&clang=0), eine 15-Meter lange Liste mit den Namen von über 14.000 Toten an den EU-Außengrenzen ausgelegt und zudem Unterschriften für den Appell gesammelt – wobei hinzugefügt sei, dass das Sammeln der Unterschriften nicht zuletzt dem Gesprächseinstieg gedient hat. Darüber hinaus hat (neben Dauerdurchsagen durchs Mikrofon) um 12 Uhr eine 'echte' Kundgebung stattgefunden: Dort wurde unter Bezug auf den ARD-“Tatort“ zu Frontex über die Arbeit von Frontex berichtet und darüber, wie Bremer Rüstungsunternehmen Frontex mit Satellitentechnik unterstützen ( http://ziviles-bremen.noblogs.org/). Des Weiteren wurde ein Interview mit drei Überlebenden eines Bootsunglücks vor der Küste Tunesiens verlesen, welches eine Delegation von Afrique-Europe-Interact und Welcome to Europe vor 2 Wochen im Flüchtlingslager Choucha aufgenommen hat ( http://www.afrique-europe-interact.net/index.php?article_id=482&clang=0). Schließlich war auch die Queerfolk-Musikerin Franzis Binder mit von der Partie: In ihrem Song „Ganz anders bei den Hunden“ sinniert der aus Spanien gerettete Straßenhund Nando über das gesellschaftliche Klima, das der EU-Migrationspolitik zugrunde liegt ( http://www.myspace.com/franzisbinder/videos).

Die Reaktionen seitens der PassantInnen waren – wie nicht anders zu erwarten – reichlich durchmischt. Neben gleichgültigen oder defensiven Reaktionen (die bereits bei einigen Tausend zusätzlichen Flüchtlingen den Haushalt der Bundesregierung kollabieren sehen) gab es auch ein starke Minderheit, die durchaus interessiert reagiert hat – eine alte Frau meinte etwa, sie wollte am liebsten gleich 10 Mal unterschrieben, ein ebenfalls betagterer Herr meinte sogar, er könne den Appell nicht mitnehmen – einfach, weil ihm die Sache zu sehr an die Nieren gehen würde. Mit der „Sache“ waren in diesem Fall vor allem die aktuellen Bootsunglücke im Mittelmeer gemeint, auf die während der gesamten Kundgebung immer wieder hingewiesen wurde (allein im April sind über 1.600 namentlich bekannte Menschen auf dem Weg nach Europa ums Leben gekommen – und die tatsächlichen Zahlen dürften noch deutlich höher liegen). Oder genauer: Aufgemacht wurde insbesondere der Umstand, dass derzeit nicht zuletzt deshalb viele Menschen auf die Boote gehen, weil sich Europa weigert, die in Tunesien gestrandeten Flüchtlinge aufzunehmen (wobei genauso wenig aus dem Blick geraten sollte, dass die libysche Regierung als Reaktion auf die Nato-Angriffe die bislang im Namen der EU erfolgte Migrationskontrolle vollkommen eingestellt hat und daher aktuell die Preise für Überfahrten von 2.000 auf 200 Dollar gesunken sein sollen).
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Ergänzungen

Presse zur Aktion

Presse-Surfer_in 06.06.2011 - 08:03
Auf der Webseite der Linken steht ebenfalls ein längerer Bericht zur Aktion:

 http://www.dielinke-bremen.de/nc/politik/aktuell/detail/zurueck/bremennews/artikel/fluchtwege-oeffnen-libyen-fluechtlinge-aufnehmen/

Außerdem war in der taz im Vorfeld der Aktion ein Interview erschienen:

 http://www.taz.de/1/nord/bremen/artikel/?dig=2011%2F06%2F04%2Fa0100&cHash=d8a0ac81e2

"Fluchtwege öffnen"

KUNDGEBUNG Nähme die EU Libyen-Flüchtlinge aus Tunesien auf, müssten die nicht in Lagern leiden

taz: In Tunesien verschärfen sich die Zustände in den Lagern für Flüchtlinge aus Libyen. Ihr nehmt das zum Anlass, hier in Bremen zu demonstrieren?

Olaf Bernau: Deutschland sollte in einer solchen Krisensituation bereit sein, Kontingente von Flüchtlingen ins Land zu lassen, wie es das UN-Flüchtlingshilfswerk fordert. Früher gab es das bei den vietnamesischen Boatpeople oder im Kosovokrieg. Die USA wollen 900 der ca. 6.000 in tunesischen Lagern gestrandeten Flüchtlinge aufnehmen. Deutschland und die EU zeigen dafür bislang keine Bereitschaft. Wir fordern von Innensenator Mäurer, sich dafür einzusetzen.

Was hat der damit zu tun?

Die Bürgerschaft hat im Januar einstimmig beschlossen, Kontingentflüchtlinge aufzunehmen. Darüber muss aber die Innenministerkonferenz entscheiden - einstimmig. Das ist unwahrscheinlich, aber wir setzen uns dafür ein.

Vor ein paar Tagen griffen Tunesier ein Flüchtlingslager in Choucha an. Wie kam es dazu?

Es war ein Progrom gegen Menschen aus Subsahara-Afrika. Ihnen gegenüber gibt es in Nordafrika einen traditionellen Rassismus. Allerdings wurden zu Beginn in Tunesien alle Flüchtlinge mit offenen Armen empfangen. Erst als die internationalen Hilfsorganisationen kamen, wurde die Unterscheidung vorangetrieben.

Inwiefern?

Die Flüchtlinge wurden aufgeteilt. Libyer wurden dezentral etwa in tunesischen Familien untergebracht. MigrantInnen, die in Libyen gearbeitet hatten, wurden mit Geldern der EU in ihre Heimatländer ausgeflogen. In den Lagern blieben diejenigen, in deren Ländern Bürgerkrieg herrscht, Menschen aus dem Sudan oder Eritrea. Von ihnen wurde angenommen, dass sie weiter nach Europa wollen. Wenn die EU die Fluchtwege öffnen würde, müssten Menschen nicht in Lagern eingepfercht werden oder bei der Überfahrt nach Europa in Seenot geraten. Allein im April starben so über 1.000 Menschen. Interview: JPB

Samstag, 12 Uhr, Domsheide

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...pathologische — Doktor Snuggels

toll ... schön aber — stocksauer