Krise und Widerstand in Portugal

Ralf Hoffrogge 24.03.2011 11:11 Themen: Globalisierung Soziale Kämpfe Weltweit
Alle sind dabei: Lehrerinnen, Profs, Krankenschwestern, Hotelangestellte. Mit Fahnen und Bannern, Pfeifen und Hupen - Mehrere Hunderttausend Menschen, Familien, Alte Herren, Kinder und Jugendliche, in zwei riesigen Demonstrationszügen strömen sie zum "Praca Marques Pombal" im Zentrum von Lissabon. Zum ersten mal seit einem ersten Generalstreik im November hat die Portugiesische Gewerkschaftsbewegung alle Kräfte zusammengenommen und zu einem Protest gegen die Krisenpolitik der Regierung aufgerufen.
Anders als Deutschland, das im Auge des Sturms die Krise mit Kurzarbeit ohne grössere soziale Verwerfungen überstand, hat der Zusammenbruch der Finanzmärkte Portugal schwer getroffen. Das Land ist hochverschuldet, zahlt aktuell mehr als sieben Prozent Zinsen für seine Auslandsanleihen und wehrt sich verzweifelt dagegen, unter den EU-"Rettungsschirm" gedrückt zu werden und damit seine finanzielle Souveränität zu verlieren.
Die Alternative für Präsident Socrates besteht darin, die Forderungen der Gläubiger selbst umzusetzen. "Portugal muss sparen - doch politisch ist das nicht einfach durchzusetzen." kommentiert das "Manager-Magazin" in seiner Online-Ausgabe vom Sonntag lapidar.
Und der Widerstand ist in der Tat beachtlich. Im November lähmte ein Generalstreik das Land, am 12. März dieses Jahres folgte eine Demonstration gegen Prekarität und unsichere Arbeitsbedingungen - über 200.000 Menschen versammelten sich, um für würdige Arbeitsverhältnisse zu kämpfen.

Am Samstag, dem 19.3. zogen dann die Gewerkschaften nach. Die Landesweite angekündigte Demonstration im Zentrum von Lissabon erreichte eine Rekordbeteiligung von über 200.000 Menschen. Für die Angestellten des privaten und öffentlichen Sektors gab es getrennte Treffpunkte, wie Lindwürmer treffen sich die beiden riesigen Züge am Praca Marques Pombal und vereinigen sich zu einer Masse. Die Organisation ist gut: -links die Privatangestellten, rechts die Staatsangestellten, jeder im Block seiner Gewerkschaft, hinter den gemeinsamen Fahnen und Symbolen. Viele Rote Fahnen sind es, aber auch die Rot-grüne Landesfahne. Auf dem Banner der Gewerkschaft der Krankenschwestern und -pfleger prangt das rote Kreuz, andere tragen neben den roten Fahnen ihrer Organisation kleine Schwarze Wimpel - Schwarz-Rot, die traditionellen Farben des Anarchosyndikalismus.
Die Menschen sind wütend. Auf zahlreichen T-Shirts wird Präsident Socrates als Lügner mit Pinocchio-Nase parodiert, zentrale Forderung ist nichts anderes als der Sturz der Regierung und ein grundsätzlicher Politikwechsel.

Fünf Prozent Lohnkürzungen haben die Angestellten im öffentlichen Dienst bereits Hinnehmen müssen, weitere Kürzungen im Gesundheits und Rentensystem sind bereits in Planung. Eine Soziologieprofessorin marschiert im "Sindicato dos Professores" mit - einer Gewerkschaft nicht nur für Akademiker, sondern auch für Lehrer und Lehrerinnen, die hier ebenfalls als "Professor" angesprochen werden. Sie ist die einzige aus ihrer Universität: es herrsche ein unglaubliches Klima von Mobbing und sozialem Druck im ganzen Lande. Die Universitätsverwaltung notiere genau, wer sich an Protesten beteilige, die Angestellten und Lehrkräfte fürchten Repressionen. Dies sei nicht nur an den Universitäten, sondern überall so - es herrscht Angst, alles zu verlieren.

Denn in Portugal, dass sich vom Armenhaus am Rande Europas hochgearbeitet hat zu einem Mitglied der EU-Wohlstandszone, droht eine Verelendung breiter Schichten. Im Zentrum Lissabons trifft man auffällig viele Bettler, Manche stellen ein verkrüppeltes Bein oder andere Krankheiten zur Schau, um Mitleid zu erregen. Daneben versuchen zahlreiche fliegende Händler versuchen, den Touristen einige Euros aus der Tasche zu locken - Bilder, wie man sie eher aus Lateinamerika kennt. Viele der Strassenhändler sind Einwanderer aus Brasilien, oder auch Afrikaner aus Angola und Mosambique – den ehemaligen Kolonien Portugals. Von ihnen leben ohne Aufenthaltsstatus in Lissabon. Sie finden oft nur prekäre Beschäftigung. Die Mitglieder der schwarzen Community, die gar keine Arbeit finden, treffen sich regelmäßig an einem Platz in der Altstadt – vor einer Mauer, die von der Stadtverwaltung seltsamerweise mit dem Slogan „Mauer der Toleranz“ geschmückt wurde. Eine noch bitterere Ironie ist weniger offensichtlich: bis ins späte 19. Jahrhundert befand sich genau hier der Sklavenmarkt von Lissabon.
Doch Prekarität ist in Portugal nicht nur eine Frage von Schwarz oder Weiss. Auch alteingesessene Portugiesen halten sich mit Schuhputzen und anderen Dienstleistungen mühsam über Wasser, verkaufen Eßkasstanien und hoffen oft vergeblich auf Kundschaft. Ihr Existenzkampf findet statt vor einer Kulisse aus Konsum und Reichtum - lächelnde junge Gesichter preisen das neueste Mobiltelefon an, Designermode und Anzüge für 500 Euro sind in den Schaufenstern zu bewundern.

Die demonstrierende Soziologin erklärt einige Zahlen zur sozialen Lage: der Mindestlohn liege bei 400 Euro im Monat, manche Rentner und Rentnerinnen müssen mit 100 Euro im Monat auskommen. Dies erklärt die Angst - wer hier seinen Job verliert, der steht vor dem Nichts. Gleichzeitig steigt die Wut, viele Menschen stehen mit dem Rücken zur Wand.
Während wir reden, zieht ein rot-grün geschmückter Protestwagen der Gewerkschaft der Hotelangestellten vorbei. Ein Plakat, geschmückt mit der Landesfahne und zahlreichen roten Nelken verlangt die Verteidigung der Verfassung. Es gehe nicht nur ums Sparen, erklärt mir meine Gesprächspartnerin. Ganz nebenbei versuche die Regierung, elementare Arbeiterrechte einzuschränken. Das Streikrecht soll stark eingeschränkt werden, die Gewerkschaftsfreiheit an sich sei bedroht. Einige der Hotelangestellten gehören zur älteren Generation - Sie haben die Revolution von 1974 noch miterlebt, in der die portugiesische Militärdiktatur gestürzt wurde und ein blutiger Kolonialkrieg sein Ende fand. Die Erfahrung der Unfreiheit ist noch präsent in Portugal - Gewerkschaftsfreiheit ist für die alten Männer nichts Selbstverständliches, sondern etwas Erkämpftes.

Die Hotelangestellten tragen rot-grüne Fahnen mit dem Emblem ihrer Gewerkschaft, einem gefesselten Set von Messer und Gabeln: eine symbolische Drohung. Sollte die Tourismusindustrie durch Streik lahmgelegt werden, käme die Regierung in ernste Schwierigkeiten. Doch die Soziologin ist skeptisch. Sechzig Prozent der Portugiesen würden nicht mehr wählen gehen, Angst und Apathie stünden nebeneinander. Ob die Demonstration etwas bringen wird? Sie wisse es nicht - die Regierung sei uneinsichtig, würde alle Forderungen der Bevölkerung routinemässig ignorieren. Man wolle die Krise aussitzen, Bedürfnisse und Proteste zählen nichts.

Ein junger Mann, der Flugblätter einer kleinen sozialistischen Gruppe verteilt, ist ebenfalls nicht zufrieden mit der Bewegung. Die Demonstration findet an einem Samstag statt: ausserhalb der Arbeitszeit. Seit dem letzten Generalstreik im November habe die Gewerkschaftsbewegung keine grösseren Mobilisierungen gestartet. Dennoch, oder gerade deshalb ist er heute dabei - es muss endlich weitergehen, der Druck erhöht werden. Der junge Mann ist gut informiert über die Lage in Europa, seine Gruppe hat Partnerorganisationen in Deutschland, Schweden und anderswo - sogar die Berliner Landespolitik ist ihm nicht fremd... Sein Flugblatt ruft zu einer sozialistischen Wende auf - er zieht weiter, um es zu verteilen. Viel zu wenige Flugblätter gebe es, meint er, seine Gruppe sei eine von wenigen, die sich mit sozialistischen Positionen einmischt. Die wut scheint da, aber vielleicht fehlt die Orientierung? Socrates, der Lügner mit Pinnochionase, nennt sich selbst einen Sozialisten.

Doch nicht nur die Flugblätter verlangen mehr - zahlreiche T-Shirts zeigen das Bild von Che Guevara ein Volksheld nicht nur für Jüngere, sondern ein Symbol auch für manch älteren Herren. Auch die Kommunistische Partei PCP hat zur Demonstration aufgerufen. Sie sei klein, meint die Soziologin - nur 7% der Stimmen. Die PCP ist die älteste Partei Portugals. Gegründet im jahre 1921 feiert sie in diesem Jahr ihr 90-jähriges Bestehen, in der Stadt hängen noch Plakate und Einladungen zu den Feierlichkeiten. Doch es ist keine Zeit für Nostalgie. Unter den Jahreszahlen 1921-2011 steht der Slogan "Um Projecto de Futuro" - Ein Projekt für die Zukunft. Daneben die Worte "Freiheit, Demokratie, Sozialismus". Um nichts anderes geht es vielen hier - die Existenznot vieler Menschen, er Angriff auf die Gewerkschaftsrechte: in Portugal geht es ums ganze.
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Ergänzungen

Veranstaltung in Berlin (7.4) über Portugal

BUKO 24.03.2011 - 12:37
Portugal: Widerstand gegen die neoliberale "Krisenbewältigung"

Im Gegensatz zu den anderen europäischen "Krisenländern" sah es in Portugal lange so aus, als würden größere soziale Proteste ausbleiben. Diese Zeiten sind offenbar vorbei. Am 12. März 2011 demonstrierten mehr als 200.000 Menschen in Portugal gegen die zunehmende Prekarisierung ihrer Lebensumstände, sei es durch Arbeitslosigkeit oder Lohnkürzungen. Die Initiatoren der Proteste waren weder Parteien noch Gewerkschaften, sondern prekarisierte Unorganisierte.

Noch ist offen, ob der 12. März lediglich ein kurzes Strohfeuer ist oder weitere selbstorganisierte Proteste folgen. Ebenso denkbar ist, dass die linken Oppositionsparteien und die Gewerkschaften versuchen, die sichtbar gewordene Unzufriedenheit doch zu kanalisieren und daraus zu schöpfen. Sicher ist aber: Die Zeit der schweigenden Unzufriedenheit ist in Portugal vorbei.

Ismail Küpeli (Bundeskoordination Internationalismus) wird über die neoliberale "Krisenbewältigung", die aktuelle politische Regierungskrise und die wachsenden sozialen Proteste in Portugal berichten.

Berlin, 7.4., 19 Uhr in der Meuterei (Reichenbergerstr. 58)

12. März und 19. März

Ralf 24.03.2011 - 13:15
Zur Klarstellung, weil es vielleicht etwas verwirrend ist: Es gab in Portugal drei größere Protestbewegungen seit 2010: Einen Generalstreik am 24.11.2010, eine Demonstration von Prekarisierten mit 200.000 TeilnehmerInnen am 12. März 2011 und eine große Gewerkschaftsdemo mit ähnlich vielen TeilnehmerInnen am 19. März 2011. Der große Artikel beschreibt den 19.3.2011, die Ergänzung oben bezieht sich auf den Protesttag der Prekären am 12.3.

Erstaunlich ist, dass die Demo der unorganisierten Prekären in Portugal genauso groß ist wie die Gewerkschaftsdemo, für die landesweit mobilisiert wurde. Ob beide Bewegungen zu einer Protest-Einheit finden, ist unklar.