Ägypten: Scharmützel, Aufstand, Revolution?

Kippt nun auch Ägypten? Nach der Revolution in Tunesien schwappt die Welle weiter. Seit einem erfolgreichen Attentat durch Islamisten auf seinen Vorgänger 1981 Saddat befindet sich das Land im Ausnahmezustand und wird von ihm autoritär geführt. Die USA und die EU dürften die Ereignisse mit gemischten Gefühlen beobachten, denn Ägypten ist trotz mangelnder Menschenrechte ein enger Partner des Westen. Im Gegensatz zu Tunesien (1 | 2) scheinen islamistische Gruppierungen wie etwa die Muslimbruderschaft auch stärker in die Proteste involviert zu sein. Dies könnte Befürchtungen nähren, dass ähnlich wie im Iran, die grundsätzliche progressive Stoßrichtung der Proteste auch umschlagen könnte. Denn unklar ist, wie sich die politische Ausrichtung der Proteste weiterhin entwickelt. Während eine gebildete Mittelklasse demokratische Reformen erreichen will, kann es der islamistischen Muslimbruderschaft über ihre sozialen Netzwerke in den Slums gelingen, die soziale Frage als ein religiöses Problem antimodernistisch aufzuladen.
Auch weil bisher nicht auszumachen ist, ob der Aufstand erfolgreich sein wird, hält sich die internationale Gemeinschaft zurück und appelliert an Regierung und Demonstranten auf Gewalt zu verzichten und mahnt Reformen an. Ägypten wurde wie viele "Schwellenländer" besonders hart von der Wirtschafts- und Finanzkrise getroffen, was die politischen Spannungen zusätzlich verschärft. Zwar gelang es Mubarack durch Liberalisierungen das Land infrastrukturell und ökonomisch voranzubringen. Nur hat sich das soziale Ungleichgewicht dabei noch verschlimmert, da dies vor allem der Herrschaftsclique nutzte. Da demokratische Reformen in den Ansätzen stecken blieben und stattdessen auf Geheimdienst und Polizei gesetzt wurde, gibt es kaum ein Ventil um Frustration zu katalysieren. Auch gelang es nicht, dass rasante Bevölkerungswachstum unter Kontrolle bekommen und für die Jugend eine sozial abgesicherte Perspektive zu entwickeln.
Interessant dürfte die Rolle der Armee sein. Sie stellt in Ägypten einen Machtfaktor dar und sollte sie sich auf die Seite der Demonstranten schlagen, wie es auch zuvor in Tunesien geschah, dann könnte es eng für Mubarack werden.


Weitere Verweise und Hintergrundinformationen sind dringend erwünscht und werden in den Artikel eingearbeitet.


Lesetipps:
Büttner, Friedemann; Klostermeier, Inge: Ägypten. München 1991
Beinin, Joel; Lockman, Zachary: Workers on the Nile. Nationalism, Communism, Islam, and the Egyptian Working Class, 1822-1954. Cairo 1998
Ibrahim, Ferhad (Hrsg.): Staat und Zivilgesellschaft in Ägypten. Münster 1995
Kienle, Eberhard: A Grand Delusion. Democracy and Economic Reform in Egypt. London 2001
Schimmelpfennig, Monika: Re-Islamisierung und Islamismus. Hintergründe und sozialpolitische Ursachen am Beispiel Ägypten. Marburg 2005
Vatikiotis, P.J.: The History of Modern Egypt. From Muhammad Ali to Mubarak. Vierte Auflage, Baltimore 1991


Update:
Reuters berichtet von bisher fast 1000 Verletzten allein in Kairo. Reporter melden 5 Tote. Unklar ist noch die Rolle der Armee und der Nationalgarde. Diese soll u.a. TV-Stationen schützen, Bilder von Al Jazeera suggerieren jedoch, dass die Armee von den Protestlern freudig begrüßt werden.

Update #2
Reporter vor Ort berichten via Al Jazeera, dass erbost zur Kenntnis genommen wird, dass Tränengasgranaten die Aufschrift 'Made in USA' tragen. Scheinen aber insgesamt zuversichtlich nicht nur Mubarak, sondern das gesamte System zu stürzen. Zur außenpolitischen Dimension:
21.27 Der Lexington Blog des Economist diskutiert die Optionen für die amerikanische Regierung, mit den Protesten in Ägypten umzugehen. Die USA stehen vor einem Dilemma. Einerseits ist Präsident Mubarak seit vielen Jahren ein wichtiger Verbündeter, die ägyptische Armee von amerikanischen Soldaten trainiert und mit Waffen aus den USA ausgestattet.Andererseits hat Präsident Obama 2009 in Kairo eine große Rede gehalten, mit der er die Beziehungen seines Landes zur muslimischen Welt erneuern wollte. Fände sich Washington am Ende auf der Seite eines alten Diktators wieder, der seine Macht mit brutaler Unterdrückung durchgesetzt hat, wären die USA in der Breite der arabischen Bevölkerung abermals diskreditiert. Deshalb wohl die vorsichtige Strategie, die sich ungefähr so zusammenfassen lässt: Ja, Mubarak ist ein Verbündeter, Gewalt können wir aber nicht hinnehmen und stellen uns deshalb auf die Seite der “Reform“ (was immer damit gemeint ist). (kpm)( via).

Und ein weiterer Hintergrundbericht zum Verhältnis des 'Westen' und Ägypten von der SZ.

Update #3
Die Proteste scheinen ziemlich große Dimensionen angenommen zu haben. Mehrere Polizeistationen wurden Ziel direkter Aktionen. Teile der politischen und wirtschaftlichen Elite sollen nach Angaben von Al Jazeera via Privatjet das Land verlassen haben. Einen guten Eindruck über die Dynamik der Proteste liefert das Zeitblog:
21.43 Karim El-Gawhary ist Korrespondent der tageszeitung in Kairo. Hier beschreibt er, wie selbst er, der seit zwanzig Jahren aus dem Land berichtet, von der Größe und Wucht der Proteste überrascht wurde. Und zitiert den Chefredakteur einer örtlichen Zeitung: “Unsere Jugendlichen rennen zehn Schritte voraus, und weder die Politik noch wir Journalisten kommen hinterher.” Das scheint das Besondere der Proteste in Tunesien, Ägypten, vielleicht auch anderenorts in der arabischen Welt zu sein: Die Jungen denken anders, als wir es gewohnt sind, agieren moderner, als wir es erwarten, sie sind mutig – und es sind viele. (kpm)

Update #4Während das Zeitblog seine Live-Berichterstattung beendet hat, meldet SPON, dass in kürze der Parlamentssprecher in eine wichtige Meldung verbreiten wird.
Wir bleiben weiterhin online und beobachten die Entwicklungen.

P.S. Natürlich würden wir am liebsten "grass-roots" Quellen benutzen, wir bitten um Verständnis, dass wir uns hauptsächlich auf "Mainstreammedien" berufen, da etwas anderes uns momentan nicht zugänglich ist.

Update #5

Die Anzahl der Toten wird nun mit insgesamt 18 angegeben. Angeblich soll sich Mubarak demnächst äußern.

Update #6
Wird das reichen?
Mubarak hat seine Rede gehalten. In peinlicher Art und Weise versuchte er sich der Opposition anzubiedern. Die Proteste seien nur aufgrund der 'politischen Freiheit' möglich gewesen. Gleichzeitig kündigte er an, die Regierung aufzulösen und eine neue zu benennen. Er stehe an der Seite der Armen und beschwört den 'nationalen Dialog'. Zumindest aus dem was wir bisher aus Ägypten hören, ist zu bezweifeln, dass dies das letzte Kapitel des Aufstandes sein wird.

Update #6
Nach letzten Meldungen sollen etwa 20 Menschen bei den Protesten ums Leben gekommen sein. Die meisten davon in Suez. Soweit beobachtbar wird die Rede Mubaraks als unzureichend zurückgewiesen.

Update #7 Obama versucht den Spagat
Der Präsident den USA hat während einer Pressekonferenz versucht einen Spagat zu vollführen. So erklärte er auf der einen Seite, dass Ägypten (meint: das ägyptische Regime) ein enger Verbündeter ist, mahnte jedoch gleichzeitig Reformen an. So forderte er u.a. weitere Tote und allgemein Gewalt zu vermeiden, außerdem forderte er den freien Zugang ins Internet incl. der sozialen Netzwerke. Menschenrechte gelten überall auch in Ägypten so Obama.

Update #8
Trotz der Aufrufe des staatlichen Fernsehens gehen im Land wieder auf die Straße. 35 Menschen sollen bei den gestrigen Auseinandersetzungen ums Leben gekommen sein.

Update #9
Aus Alexandria werden schwere Zusammenstöße gemeldet. Die 'Sicherheitskräfte' sollen dabei auch wieder scharf schießen. Die Anzahl der Opfer des Aufstandes werden beständig nach oben korrigiert. Insgesamt könnten mehr als 50 Menschen ums Leben gekommen sein.

Update #10
Die Regierung hat die Kontrolle verloren. Zehntausende versammeln sich auf den zentralen Plätzen ägyptischer Städte. Reporter berichten gegenüber Al Jazeera, dass dieser Aufstand sich quer durch die Gesellschaft zieht. Jung und Alt, arm und reich, Muslime und Christen gehen auf die Straße. Die Zahl der Toten soll Medienberichten auf über 100 gestiegen sein. Doch die Angst die durch 30 Jahre Regime die Bevölkerung lähmten, scheint nun wie weggeblasen.

Update #11
Nach Angaben von Al Jazeera, sollen 3 Menschen vor dem Innenministerium erschossen worden sein. Einer der Toten wurde wie im Fernsehen zu sehen war durch die Menge getragen. Etwa 1000 Menschen hatten versucht das Ministerium zu stürmen.

Update #11
Die Großdemonstration in Kairo ist momentan friedlich. Das Militär hält sich extrem zurück. Ein Großindustrieller hat sich bereits aus der Leitung der Regierungspartei zurückgezogen, meldet das staatliche Fermsehen.

Update #12
Einflußreiche Geistliche haben Al Jazeera zur Folge erklärt, dass dies das Ende des Mubarak-Regime sei. Auf TV-Bildern ist zu sehen, wie Demonstranten auf Armeefahrzeuge klettern und die ägyptische Flagge schwenken. Die Situation scheint insgesamt friedlich zu sein, auch wenn Augenzeugen von Schüsse in der Nähe der Staatsbank berichten. Es sieht augenblicklich nicht danach aus, dass die Armee gegen die Opposition eingesetzt wird. Allerdings gibt es Berichte wonach an anderen Stellen das Militär gegen Demonstranten vorgegangen sein soll. Trotz einer Ausgangssperre demonstrieren Zehntausende für das Ende des Regimes.

Update #13
Ein Sprecher der Muslimbruderschaft äußerte gegenüber Al Jazeera, dass das Regime nun den Preis für die Zusammenarbeit mit 'westlichen Regimen' und der 'Islamophobie' zahle. Gleichzeitig stritt er ab, dass die Muslimbruderschaft Ambitionen hätte, die Macht zu übernehmen. Man spreche sich für einen friedlichen Transfer der Macht aus, und wolle ein gewählten Präsidenten und ein gewähltes Parlament.

Update #14
Der Geheimdienstchef und Chefunterhändler im israelisch-palästinensischen Konflikt Omar Soliman ist zum Vizepräsidenten ernannt worden. Seit 30 Jahren gibt es damit zum ersten Mal einen Stellvertreter für den Präsidenten.

Update #15
Ein Regierungssprecher wird auf Al Jazeera hart angegangen. Die Ernennung eines Vizepräsidenten sei nicht die Forderung der Bevölkerung. Der Sprecher behauptet jedoch, dass sei das Zugeständnis der Regierung. Welche Aufgaben der Vizepräsident hat bleibt unklar. Omar Soliman ist international anerkannt und hat als Geheimdienstchef gute Verbindungen zur Armee und den 'Sicherheitskräften' und könnte als Vermittler auftreten. Der Regierungssprecher bezeichnet die Protestler als 'Mob' und beklagt Plünderungen und Brandschatzungen.

Update #16
Ahmed Schafik wird als Ministerpräsident berufen. Als ehemaliger Chef der Luftwaffe verfügt er ebenfalls Ansehen beim Militär. Ob Mubarak damit einen geordneten Rückzug vorbereitet ist unklar. Die Demonstranten protestieren weiter auf den Straßen. Ein Sprecher der Armee sagte gegenüber Al Jazeera, man werde - auch bei anderslautenen Befehlen nicht auf die Demonstranten schießen.

Update #17
Eine Augenzeugin berichtet auf Al Jazeera berichtet von Schüssen und starker Rauchentwicklung in einem anderen Stadtteil Kairos. Es wird auch von MG-Feuer berichtet.

Update #18
Auf Al Jazeera sind Bilder zu sehen, die das geplünderte Nationalmuseum zeigen. Die Aufnahmen stammen von gestern. Heute haben Demonstranten und Armee gemeinsam vor Museen Stellung bezogen, um eine Wiederholung solcher Ereignisse zu verhindern.

Update #19
Augenzeugen berichten davon, dass 'Kriminelle' Polizeistationen geplündert und dabei Waffen erbeutet hätten. Diese ziehen jetzt durch die Viertel und plündern. Von der Polizei die zwar in der Lage war rund 100 Menschen zu erschießen, ist nichts zu sehen, echauffiert sich ein Augenzeuge auf Al Jazeera.

Update #20
Die Zahl der Demonstranten auf den Straßen soll zurückgehen. Eine Ursache dafür sein, dass sich die Bevölkerung vor Plünderungen schützen will und aus diesem Grund zurück zu ihren Häusern geht. SPON berichtet davon, dass Israel Touristen und Angehörige von Diplomaten ausgeflogen hat. Das Innenministerium hat unterdessen die Bevölkerung aufgerufen ihren Besitz zu beschützen. Das Militär wird verstärkt um die Sicherheitslage zu verbessern.

Update #21
Schwere Anschuldigungen auf Al Jazeera. Die Plünderungen und Brandschatzungen nehmen zu und Augenzeugen berichten, dass dahinter Anhänger des Regime stecken. Anwohner hätten einige Plünderer, die auf Motorräder unterwegs sind, gestoppt und bei ihnen Ausweise gefunden, die sie als Staatsbedienste identifizieren.

Update #22
Die öffentliche Ordnung bricht immer mehr zusammen. Medienberichten zur Folge soll es in einigen Städten zu Zusammenstößen zwischen Plünderer und ad hoc gebildeten Bürgerwehren kommen. Die Polizei hat sich komplett von den Straßen zurückgezogen.

Update #23
Sie geändertes Abstract oben.

Update #24
Ägypten steht auf der Kippe - Eine Einschätzung von Telepolis.

Update #25
Immer mehr Menschen strömen in Kairo zusammen. Zentrum der Proteste ist wieder der Tahrir-Platz. Al Jazeera ist unterdessen nicht mehr überall im Land zu empfangen. Der Nachrichtensender berichtet von Massenausbrüchen aus Gefängnissen. Mehr als 5000 Häftlinge sollen entkommen sein, darunter auch führende Mitglieder der Muslimbruderschaft.

Update #25Mubarak ist zurückgetreten.