Ereignisreiche Tage in Philadelphia

Michael Schiffmann 09.12.2010 19:53 Themen: Antirassismus Repression Weltweit
Am 9. November 2010 konnte ich der Anhörung um das Leben von Mumia Abu-Jamal in Philadelphia beiwohnen. Einen ausführlichen Bericht über die juristischen Hintergründe und Abläufe am Tag selbst schrieb ich für die Neu Rheinische Zeitung:

Mumia Abu-Jamals “Anhörung“ vor dem 3. US-Bundesberufungsgericht
Ein Glasperlenspiel um Leben und Tod
 http://www.nrhz.de/flyer/beitrag.php?id=15924
(oder in der hier beigefügten PDF zu lesen)

Nun möchte ich noch über einige persönliche Eindrücke von der Anhörung und den Tagen drumherum in Philadelphia berichten.
Am Rande der Gerichtsanhörung vom 9. November

In seinem Artikel „Neuer Anwalt, neue Runde“ beschreibt Dave Lindorff, Autor des vielleicht wichtigsten Buchs über den Fall Mumia Abu-Jamals, Killing Time, detailliert die Gerichtsanhörung hierzu am 9. November 2010 in Philadelphia. (1)

Ich selbst hatte die Gelegenheit, bei dieser Anhörung dabei zu sein, und ebenso wie andere Anwesende, mit denen ich sprechen konnte, wie z.B. der Journalist Linn Washington, Suzanne Ross vom New Yorker Bündnis für die Freiheit Mumias, die Filmemacherin Johanna Fernandez und viele andere teile ich die Einschätzung Lindorffs, dass der Verlauf dieses Termins zu vorsichtigem Optimismus berechtigt.

Zugleich muss jedoch gesagt werden, dass nach der letzten Anhörung im Mai 2007, in der es nicht nur um die Bestätigung oder Nichtbestätigung der Todesstrafe ging, selbst gute Kenner der Materie wie Patrick O’Connor (Verfasser von The Framing of Mumia Abu-Jamal) zuversichtlich die Anordnung eines vollkommen neuen Prozess für Abu-Jamal vorausgesagt hatten, was, wie wir nun ja wissen, nicht eingetreten ist.

Wir wissen daher auch diesmal nicht wirklich, wie das Gericht letztlich entscheiden wird. Dies gilt auch trotz der von Lindorff in seinem Artikel genannten noch offenen Berufungspunkte, deren Verhandlung laut Staatsanwaltschaft noch Jahre in Anspruch nehmen könnte.

Wie Mumia Anton Reiner, Linn Washington und mir bei unserem Besuch bei ihm im April 2010 sagte (siehe auch 2. beigefügte PDF), sind solche Verlautbarungen der Anklagebehörde immer mit Vorsicht zu genießen, werden sie doch nie ohne Hintergedanken lanciert. Die angeblichen „Jahre“ könnten je nach Gutdünken der Gerichte schnell auf einige Monate oder sogar Wochen zusammenschrumpfen.

Wachsamkeit im Kampf um Mumias Leben bleibt also dringend geboten, und die von den Mumia-Solidaritätsgruppen bundesweit angekündigten Notfallproteste für den schlimmstmöglichen Fall, die Bestätigung des Todesurteils durch das Bundesgericht und dann den US Supreme Court, bleiben weiter brandaktuell.

Aber auch abgesehen von der Anhörung selbst gab es in den Tagen rund um den 9. November einige andere den Kampf um das Leben und die Freiheit Mumia Abu-Jamals betreffende Entwicklungen, die Erwähnung verdienen.


Anwaltswechsel

Zwei Tage vor der möglicherweise wichtigsten Anhörung für Abu-Jamal im Lauf seiner gesamten Berufungsverfahren hieß es in der Sonntagsausgabe des Philadelphia Inquirer: „Die jüngste Wendung kam, als Abu-Jamals Hauptanwalt Robert R. Bryan sein Mandat niederlegte und dies mit ‚Drohungen‘ von Abu-Jamal-Unterstützern, ‚mich in Misskredit zu bringen‘, begründete.“

Und weiter: „Bryan sagte, es habe unter den Unterstützern Abu-Jamals einen Disput darüber gegeben, welcher Anwalt [d.h., Robert Bryan oder Judith Ritter] bei der Anhörung als Sprecher auftreten solle.“ Wie sich herausstellte, war das dann Judith Ritter, und Robert Bryan war bei der Anhörung weder am Verteidigertisch noch überhaupt im Gerichtssaal anwesend.

All das löste naturgemäß beträchtliche Verwirrung nicht nur in den USA, sondern auch international aus, zumal es bisher kein öffentliches Statement von Mumia Abu-Jamal selbst gibt. Es gibt jedoch Stellungnahmen wichtiger Unterstützerinnen und Unterstützer von Abu-Jamal in den USA, sowohl in einer Presseerklärung als auch auf einer Pressekonferenz.

Auf der Pressekonferenz (und einer internen Besprechung danach) legten langjährige Aktivistinnen und Aktivisten für Abu-Jamal wie Suzanne Ross, Pam Africa, Frances Goldin, C. Clark Kissinger, Heidi Bogosian und andere den Ablauf der Ereignisse überzeugend dar.

Wichtig ist in diesem Zusammenhang erstens, dass diese Darstellung vom gesamten New Yorker Komitee zur Rettung Mumia Abu-Jamals getragen wird, das sich seit zwanzig Jahren ausschließlich der Sammlung von Geld für Abu-Jamals Verteidigung widmet und für einen Großteil der zustande gekommenen Summen verantwortlich zeichnet, und zweitens, dass niemand unter den Unterstützern Abu-Jamals in den USA ihr bisher widersprochen hat.

Aufgrund all dessen scheint der hier skizzierte Ablauf der Ereignisse nicht in Zweifel zu stehen:

Es war Mumia Abu-Jamals eigener und ausdrücklicher Wunsch, bei der Anhörung am 9. November ausschließlich von Judith Ritter als Sprecherin vertreten zu werden, ein Anliegen, dass er seinem Hauptverteidiger Robert Bryan seit einem Jahr wiederholt vorbrachte. Auch mit dem Vorschlag Bryans, die Sprecherzeit unter Ritter und Bryan aufzuteilen, war Abu-Jamal nicht einverstanden.

Ein Kompromiss konnte nicht erreicht werden, und am 3. November entschied Abu-Jamal sich, Robert Bryan zu entlassen, was diesem am 4. November in einem Brief seines Mandanten mitgeteilt wurde. Daraufhin reichte Bryan am 5. November beim Gericht sein Entlassungsgesuch ein, dem umgehend entsprochen wurde.

Seitdem ist Robert Bryan nicht mehr Anwalt Abu-Jamals und vertritt ihn weder vor dem 3. Bundesberufungsgericht, vor dem jetzt eine Entscheidung anhängig ist, noch irgendeinem anderen Gericht. Angesichts der schwierigen, ein Jahr währenden Auseinandersetzungen, die dieser Trennung vorausgingen, ist es wohl nicht wahrscheinlich, dass Abu-Jamal sie für spätere Verhandlungen rückgängig machen wird – entscheiden kann das nur Bryans nunmehriger Ex-Mandant selbst.


Erstmals seit Langem: Öffentliche Debatte in Philadelphia in Sachen Abu-Jamal

Die erwähnte Pressekonferenz fand am Nachmittag des 8. November, also einen Tag vor dem Gerichtshearing selbst statt, stellte sich aber für diesen Tag nur als Auftakt zu einem Event heraus, das einen seit Langem fälligen Umschwung in der politisch und medial gesteuerten Anti-Mumia-Stimmung in Philadelphia signalisieren könnte.

In einer Anwandlung, die im Nachhinein selbstmörderisch anmutet und schwer zu verstehen ist, hatte der konservative afroamerikansiche Filmemacher Tigre Hill, Autor des Films „Barrel of a Gun“, in dem Abu-Jamal nicht nur des Mordes an dem Polizisten Daniel Faulkner, sondern auch der vorsätzlichen Planung dieses Mordes bezichtigt wird, öffentlich zur Vorführung seines Films mit anschließender Diskussion aufgerufen.

Protagonisten der rein afroamerikanischen Debatte: auf der einen Seite Hill selbst und der erst kürzlich gewählte Bezirksstaatsanwalt Seth Williams, auf der anderen Seite die langjährige Mumia-Aktivistin und Autorin des gerade herausgekommenen Abu-Jamal-Films „Justice 101“ Johanna Fernandez und der progressive Rechtsanwalt Michael Coard aus Philadelphia.

Der Anti-Mumia-Film Hills dürfte für die wenigen anwesenden „Killt-Mumia-endlich“-Fans eine herbe Enttäuschung gewesen sein, denn er brachte außer der absurden These, Abu-Jamal habe seit seinen Tagen in der Black Panther Party schon immer vorgehabt, einen Polizisten (in der Panthersprache von damals: „a pig“) umzubringen und das am 9. Dezember 1981, als Daniel Faulkner getötet und Abu-Jamal verhaftet wurde, zusammen mit seinem Bruder Billy kalt geplant in die Tat umgesetzt, nur langweilige Klischees und wenig Neues.

Es ist nicht übertrieben zu sagen, dass Fernandez und Coard in der anschließenden Diskussion aus Hill und dem neuen höchsten Ankläger Philadelphias, der lauthals verkündete, er halte Abu-Jamal für schuldig und wolle für seine Hinrichtung sorgen, Kleinholz machten.

Unter lautem Beifall des Publikums demontierten sie die abstruse Grundthese des Films und wiesen nach, dass Hill und Williams trotz angeblich intensiver Beschäftigung nicht einmal über die elementarsten Fakten in diesem Mordfall Bescheid wussten. Hätte die Veranstaltung, die von einer für eine Medienplattform in Philadelphia arbeitende Moderatorin geleitet wurde, noch ein wenig länger gedauert, wäre dies noch deutlicher geworden; vermutlich insistierten Hill und Williams deshalb nach den angesetzten 60 Minuten, jetzt müsse Schluss sein.

Der erwähnte Film von Johanna Fernandez und Kouross Esmaeli „Justice 101“ löste bereits bei seiner – zeitgleich mit dem Film Tigre Hills stattfindenden – Premiere in Philadelphia am 21. September 2010 ein überraschend positives Echo aus und wird demnächst auch in der Bundesrepublik zu sehen sein. Er sollte dazu beitragen, das Bewusstsein über den Fall Mumia Abu-Jamals auf ein neues Niveau zu heben.


Eine neue kriminaltechnische Untersuchung - das Tor zu Mumias Freiheit?

Auch wenn nach der (zumindest vorläufigen) Entlassung von Hauptanwalt Robert R. Bryan durch Mumia Abu-Jamal noch viele Fragen bezüglich der zukünftigen Arbeit der Verteidigung ungeklärt sind, steht offenbar fest, dass die von Robert Bryan bei einem Skype-Interview mit Berliner AktivistInnen am 19. August angekündigte neue kriminaltechnische Untersuchung der Ereignisse vom 9. Dezember 1981, die im Tod des Polizeibeamten Daniel Faulkner und der Verhaftung, dem Schuldspruch und dem Todesurteil gegen Abu-Jamal resultierten, weitergeführt werden soll.

Mit ihr beauftragt wurde eines der renommiertesten Ermittlungsbüros der USA in San Francisco. Angesichts der zahllosen von AktivistInnen, JournalistInnen, BuchautorInnen und anderen trotz fehlender professioneller Mittel nachgewiesenen Ungereimtheiten, Unmöglichkeiten und Lügen der offiziellen Tatversion, mit der Abu-Jamal zum Mörder gestempelt und zum Tod verurteilt wurde, kann man den Ergebnissen einer solchen rigoros, mit modernsten Mittel und wissenschaftlich durchgeführten Untersuchung nur höchst optimistisch entgegensehen.

Es wird nun wichtig sein, dass es der Verteidigung Mumia Abu-Jamals in gleich welcher Zusammensetzung gelingt, die dafür erforderlichen erheblichen Mittel – Robert Bryan sprach von $ 100.000 – einzuwerben. Noch ist nichts spruchreif, aber ein Plan, der derzeit diskutiert wird, könnte sein, öffentlich darzulegen, was für Nachforschungen im Einzelnen erforderlich sein werden und dann prominente (und relativ wohlhabende) Unterstützerinnen und Unterstützer zu bitten, ihren Beitrag von $ 1.000, 2.000 oder 5.000 in den Ring zu werfen und so denen, die nur wenig geben können, Mut zu machen, dass es geschafft werden kann.

Der Kampf um das Leben und die Freiheit Mumias geht einer extrem gefährlichen, aber auch sehr hoffnungsvollen Zeit entgegen. Oder wie der russische Aktivist Boris Kagarlitzky einmal über das chinesische Schriftzeichen für „Krise“ schrieb:

Die Chinesen veranschaulichen diesen Begriff mittels der Einheit der beiden Zeichen für „große Gefahr“ und „große Möglichkeit“. Die Frage ist, welche Seite die Oberhand behält.



________

(1) im englischen Original erschien Dave Lindorffs Bericht hier:

Round Two: Third Circuit Court Panel Re-Hears Issue of Abu-Jamal's Death Penalty on Orders of Supreme Court (10. Nov. 2010))
 http://www.thiscantbehappening.net/node/300


in gekürzter dt. Übersetzung in der Tageszeitung Junge Welt:

Hoffen auf neuen Prozeß (8. Dez .2010)
 http://www.jungewelt.de/2010/12-08/061.php?sstr=Mumia|Dave|Lindorff
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Ergänzungen

Demo für Mumias Freilassung in Berlin

am Samstag 09.12.2010 - 20:11

Sa., 11. Dezember, Berlin: Demonstration:

Free Mumia Now! Freiheit für alle politischen Gefangenen! Weg mit der Todesstrafe überall!

14:00 Heinrichplatz, Berlin Kreuzberg - U1/8 Kottbusser Tor
Abschluss US Botschaftn Brandenburger Tor
zusammen mit Soligruppen für Leonard Peltier und den Cuban Five

heisse Suppe/Getränke auf der Abschlusskundgebung


Info: www.mumia-hoerbuch.de

Fotos von Mumia-Solikundgebung vor Gericht

in Philly am 9. November 09.12.2010 - 20:59

Während der Gerichtsverhandlung demonstrierten druassen über 500 UnterstützerInnen von Mumia Abu-Jamal. Im gerichtssaal waren weitere ca. 150 UnterstützerInnen anwesend.

mehr Infos zu dem Film "Justice On Trial"

Internetfund 09.12.2010 - 23:43

Im Artikel wird "Justic On Trial", ein neuer Film über Mumia Abu-Jamal erwähnt.

Auf der Indymedia Seite von Philadelphia finden sich dazu ein Artikel - und zwar im Zusammenhang mit dem FOP gesponserten Propagande Film "Barrel Of The Gun".

Media Justice On Trial In Philadelphia -- The duel of two films about Mumia Abu-Jamal
 http://www.phillyimc.org/en/media-justice-trial-philadelphia-duel-two-films-about-mumia-abu-jamal


gemeinsame anreise aus kiel zur demo nach b

free mumia! plenum kiel 10.12.2010 - 11:48
Gemeinsame Anreise aus Kiel zur FREE MUMIA!-Demonstration am 11.12.2010
nach Berlin:
Wir fahren mit der bahn – treffpunkt: „an den fahrkartenautomaten“/Kieler
Hbf. // 7.20 Uhr (seid pünktlich, um 7.44 fährt der zug los).
Kommt in massen.


Free Mumia!-Plenum Kiel - www.freemumiakiel.blogsport.de

Grußbotschaft von Pam Africa, Philadelphia:

The VOICE - Refugee Community Germany 10.12.2010 - 13:16
In Bewegung, deutsche Mumia UnterstützerInnen

Danke für all die Arbeit, die ihr über die Jahre geleistet habt. Danke euch dafür,
dass ihr immer an der Auseinandersetzung teilnehmt - auf der Straße - und auch für
das Entsenden von Leuten nach Philadelphia, um mit uns zusammen den Kampf für
unseren Bruder Mumia Abu-Jamal und gegen die rassistische Unterdrückung der
Regierung zu führen.

Eine Sache ist sicher: während wir hier in den USA gegen die Regierung kämpfen, um
Mumias Unschuld aufzuzeigen - danken wir euch, dass ihr zu euer Regierung geht, zu
euren Medien und auf die Straße, um zu zeigen, dass Mumia nicht nur aus dem
Gefängnis freigelassen werden muss, weil er keinen fairen Prozess hatte. Sondern
weil Beweise auch deutlich machen, dass Mumia unschuldig ist - genau wie alles
darauf hindeutet, dass ihr nicht aufgeben werdet.


Ona Move!

Weg mit der rassistischen Todesstrafe!

Freiheit für alle politischen Gefangenen!


Video Botschaft im Original:

 http://www.youtube.com/watch?v=1XpoMz7PXQo