Stuttgart 21 - Ende des Faktenchecks

jopi 01.12.2010 13:28 Themen: Blogwire Soziale Kämpfe
Nach 6 Wochen ging in Stuttgart ein öffentlicher "Faktencheck" über das geplante Großprojekt S21 und die von GegnerInnen desselben vorgelegte Alternative "K21" mit einem Schlichterspruch des CDU/Attak Mitglieds Heiner Geissler zu Ende. Hier meine persönliche Einschätzung dieser Übung:
S21 steht für den aufwändigen Bau eines angeblich leistungsfähigeren Tiefbahnhofs in Stuttgart, der wesentliche stadtplanerische Implikationen hätte, K21 steht für den ökologisch bedachtsamen Ausbau des existierenden Kopfbahnhofs.

Schlusspunkt des Verfahrens war ein "Schlichterspruch" von Heiner Geissler. Er befürwortete die Fortsetzung des Projekts S21 mit gewissen Nachbesserungen, die man u.a. in der Süddeutschen nachlesen kann. Zwar vergass er nicht, die Bahn zu tadeln und die Gegner zu loben, aber letztendlich hat sich der weise alte Mann für den Bau des umstrittenen Tiefbahnhofs und gegen einen Volksentscheid ausgesprochen.

Vor einiger Zeit habe ich mich mit ziemlicher Faszination über den Ablauf des Faktenchecks geäussert, weil ich fand, dass sich in dieser Versammlung sehr schön zeigte, wie ein Austausch "auf Augenhöhe" zwischen einer mächtigen Allianz aus Bahn und Landesregierung einerseits und einer Protestbewegung andererseits aussehen kann, und wie komplizierte es ist, ihn zu ermöglichen.
( http://de.indymedia.org/2010/11/293505.shtml)

Es war mir ein Genuss, zu beobachten, wie VertreterInnen des Establishment es offenbar kaum aushielten, sich vor Leuten, die sie als weit unter ihnen stehend und jedenfalls inkompetent betrachteten, für ihre Planungen zu rechtfertigen - und wie sie in dieser Faktencheck-Veranstaltung genau dazu gezwungen wurden. Sogar Geisslers freundlich-patriarchale Plaudereien und autoritären Zurechtweisungen haben mich nicht geärgert, ich fand sie dem Reality-TV Format der Gespräche angemessen, sozusagen als Entspannungsübungen und Erhöhung des Unterhaltungspotentials.

Nun ist der geschützte Raum der Gespräche geschlossen, es wurde ein Schlichterspruch verkündet, und plötzlich habe ich den Eindruck, das ganze hat die Protestbewegung letztendlich eher geschwächt als gestärkt. Informationsvermittlung und mediale Aufmerksamkeit hin oder her.

Der Tenor der Medienberichterstattung ist: Die Bahn hat den Schlichterspruch akzeptiert, die Protestbewegung nicht. Erstklässler in Sachen Demokratie, wissen letztere offenbar nicht, dass man sich einem Schlichterspruch zu beugen hat - auch wenn der ausdrücklich darauf hinwies, dass das Recht auf Demonstrationen bestehen bleibt.

Die ganze Mühe des mehrwöchigen Faktenchecks ist nun auf den Schlichterspruch reduziert, der nun schlicht und einfach eine weitere Legitimierung des umstrittenen S21 Vorhabens darstellt. Und die vom Schlichter auf der Basis der von den Projektgegnern vorgetragenen Kritik geforderten Nachbesserungen werden in ein paar Wochen oder Monaten mit dem Hinweis auf Sachzwänge in die Mottenkiste verfrachtet werden.

Gleichzeitig sind die Medien - auf Grundlage der Aussagen von Schlichter, Gegnern und Befürwortern - voll des Lobes für die demokratische Erneuerung, die sie in dieser Schlichtungsaktion sehen. Geschwärmt wird von der Direktdemokratie in der Schweiz, wo sehr viel mehr Entscheidungen an der Stimmurne getroffen werden. In Anbetracht der Entscheidungen, die 'das Volk' in der Schweiz im letzten Jahr vom Minarettverbot bis zur Ausschaffungsinitiative getroffen hat, finde ich diesen Jubel zumindest merkwürdig. Linke in der Schweiz erkennt man daran, dass sie bei jeder Abstimmung für die Verliererseite stimmen, und das seit mindestens 20 Jahren.

Was also ist schiefgelaufen an diesen Schlichtungsgesprächen, diesem Faktencheck?
Ich glaube, das Problem liegt in einem ganz grundsätzlichen Missverständnis, nämlich der Annahme, nach dem Austausch entgegengesetzter Positionen sei der Prozess abgeschlossen. Eigentlich müsste die gemeiname Lösungssuche - mit anderen Worten, die Auseinandersetzung - weitergehen. Die S21 Gegner haben durch ihre Kritik zahlreiche Vorschläge zur Verbesserung von S21 gemacht. Eigentlich wäre jetzt die Bahn dran, Vorschläge zur Verbesserung von K21 zu machen. Aber das war nie vorgesehen.

Wenn Bahn und Regierung behaupten, sie hätten gelernt, dass man die Bürger früher "miteinbeziehen" müsse in die Planung von Großprojekten, dann ist das die reine Augenwischerei. Diese Position geht davon aus, daß, wenn die Bürger rechtzeitig informiert würden, sie sich von der Brillianz und Kompetenz der Mächtigen sowieso überzeugen lassen würden. So wie die Kinder in der Krippe in die Gestaltung des Tagesablaufs miteinbezogen werden - erst Liedchen singen oder erst Spiele im Stuhlkreis? Miteinbeziehen ist keine Partizipation. Das Aufgreifen von ein paar Forderungen - hier einen Baum weniger fällen, da ein Lippenbekenntnis gegen Grundstückspekulation - stellt kein Ernstnehmen der Gegenbewegung dar, sondern eine widerstrebend gewährte Beschwichtigung.

Dass es auch anders geht, zeigen einige Projekte auf städtischer Ebene - zugegebenermassen weniger komplex und weniger teuer, aber immerhin ein Beispiel dafür, wie Bürgerbeteiligung auch aussehen kann. Zum Beispiel, vor einigen Jahren das Projekt Park fiction im Hamburger Stadtteil St.Pauli. Dort war die Überbauung eines freien Platzes mit Elbblick geplant, es gab eine Bürgerinitiative dagegen, die die Gestaltung dieses Platzes als nachbarschaftlichen Treffpunkt vorantrieb, gemeinsam konzipierte und letztendlich durchsetzte. Oder, letztes Jahr, als die Stadt Hamburg einen vor allem von KünstlerInnen bewohnten Strassenzug aufgrund massiver Proteste von einem Spekulanten zurückkaufen musste. Wenn sich die Mühlen der Bürokratie auf lokaler Ebene umpolen lassen, warum dann nicht auch bei einem grösseren Projekt wie S21?

Die Gründe, die für die Unumkehrbarkeit von S21 angegeben wurden, sind zum einen Finanzen, zum anderen politische Entscheidungsprozesse. Die Bahn würde das Geld, das sie in die bisherige Planung und den Beginn der Bauarbeiten gesteckt hat, verlieren, und müsste dazu Konventionalstrafen für bereits abgeschlossene und nicht eingehaltene Verträge zahlen. Dieses Geld würde sie auf dem Rechtsweg vom Land oder der Stadt zurückklagen. Nun ja, ist es nicht die Verantwortung der Bahn, ein Projekt geplant zu haben ohne die Einwände der Betroffenen berücksichtigt zu haben? Und könnte man den Vertragspartnern nicht sagen, sorry, höhere Gewalt, gezahlt wird nicht - wie bei einer Enteignung von Grundstücken im Zuge von Bauvorhaben? Beides wäre ein aus praktischer Notwendigkeit geborener Angriff auf Privateigentum und kapitalistische Wirtschaftsorganisation - und darum kam es wohl von vornherein nicht in Frage.

Und die politischen Entscheidungsprozesse - wenn die bestehenden rechtlichen Möglichkeiten für einen Volksentscheid ausgeschöpft sind, dann muss man eben neue schaffen. Wobei natürlich nicht gesagt ist, dass die Mehrheit für das von den S21 Gegnern vorgeschlagene Projekt K21 stimmen würden. Schliesslich ist die diskursive Macht des Status Quo, das Vertrauen in Experten des Establishment, die Vernünftigkeit der Sachzwanglogik nicht zu unterschätzen.

Mein Fazit ist: So lehrreich der Stuttgarter Faktencheck im Hinblick auf das diskursiv-rhetorische Unterlaufen etablierter Machtstrukturen war, der Beginn einer basis- und konsensorientierten Demokratie war er nicht. Nach dem Schlichterspruch von Heiner Geissler ist die ganze Übung wieder in der alten parlamentarisch-repräsentativen Logik gelandet. Was zählt, ist letzten Endes nicht der Diskussionsprozess auf Augenhöhe, sondern der Schlichterspruch - obwohl der, wie alle zugeben, für niemanden bindend ist. Dadurch, dass Geissler S21 befürwortet und gleichzeitig akzeptiert hat, dass der Prozess der Auseinandersetzung abgeschlossen ist, hat er dem Grossprojekt zusätzliche Legitimation verschafft. Die Öffnung in der politischen Struktur hat sich so schnell wieder geschlossen, wie sie sich geöffnet hatte. Bahn und Regierung können zur üblichen Planung hinter verschlossenen Türen zurückkehren, die Protestbewegung kann weiter auf der Strasse agitieren - Zwei geschlossene und voneinander abgetrennte Welten, die sich allenfalls bei den Polizeikordons berühren, die die Bauarbeiten schützen werden.

Hätte die Protestbewegung den Faktencheck ablehnen bzw. nicht initiieren sollen? Im Hinblick auf die Stärke des Protests wäre das womöglich besser gewesen. Längerfristig denke ich aber, dass der Lernprozess nicht zu unterschätzen ist. Wie wäre es, Taktiken zu entwickeln, mit denen man durchsetzen kann, dass sich das vielgelobte "Gespräch auf Augenhöhe" nicht nur in einem geschützten, zeitlich eingeschränkten Raum vollzieht, sondern permanent?
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Ergänzungen

Nach der Schlichtung ist vor den Demos

Berliner S21-Gegner 01.12.2010 - 14:51
Tja, da die Schlichtung jetzt erledigt ist (Danke für den Artikel) sollte mensch sich wieder auf die Strasse begeben.

Samstag, 4. Dezember 14 Uhr Stuttgarter Hauptbahnhof Demo wegen Schlichtungsende

Samstag, 11. Dezember 14 Uhr Stuttgarter Hauptbahnhof/Vorplatz

Hier noch ein Video von der letzten Demo "Wir klagen an"

 http://www.youtube.com/watch?v=P3VGcb8an3A

ja, guter tzext

tagmata 01.12.2010 - 14:57
seh ich ähnlich.

es ist vor allem jetzt wirchtig, von der dichotomie s21/k21 wegzukommen und das, wie du so schön sagst, "sich vor Leuten, die sie als weit unter ihnen stehend und jedenfalls inkompetent betrachteten, für ihre Planungen zu rechtfertigen" zu forcieren.

das ist vielleicht die take home message: rechenschaft muß manchmal erzwungen werden - und KANN erzwungen werden. wir brauchen exakt das, was gorbatschow damals mit "glasnost" meinte.

als parole also:

"glasbruch im kristallpalast der macht!"

Geisslers Schlichterspruch ist o.k.

Sylke 01.12.2010 - 21:04
Zunächst: Was die Kritik an den beiden voneinander abgetrennten "Welten" (Bahnmanagement/Regierung/Politelite hier - machtlos demonstrierender "Pöbel" da) betrifft, stimme ich absolut zu!

Aber: der Schlichterspruch von Geissler war doch weise? Ein Ausstieg ist angesichts der damit verbundenen Kosten von rund 1,5 Milliarden (!) Euro ziemlich absurd. Mal davon abgesehen, dass man dafür ein paar Jahre früher hätte "aufmucken" müssen als erst jetzt, wo schon Verträge abgeschlossen, Aufträge vergeben worden sind etc.

Also hat er das naheliegende getan: Sich genau angehört, was die wesentlichen Kritikpunkte an S21 sind - und in genau diesen Punkten umfangreiche Nachbesserungen gefordert. Außerdem wurde der besonders kritische Punkt Immobilienspekulation meiner Meinung nach überraschend zufriedenstellend gelöst (öffentliche Stiftung), ebenso wie der Schutz des Baumbestands im Park, etc. pp.

Viel anders hätte diese Schlichtung, realistisch betrachtet, doch kaum ausgehen können...

Im übrigen hat der Verlauf der Schlichtung für mich gezeigt, dass jenseits von simpler Parolendrescherei auf Pro- und Anti-S21-Demos die Materie hochkomplex ist, eigentlich nur von ausgewiesenen Fachleuten überhaupt sachkundig beurteilt werden kann (und selbst die sind, wie gesehen, recht unterschiedlicher Meinung) und dass jedenfalls keine der beiden Seiten argumentativ so klar "in Führung" lag, dass man sagen hätte können: das jeweils eine Konzept ist objektiv dem jeweils anderen deutlich unter- oder überlegen. Letztlich haben beide Konzepte (S21 und K21) ihre jeweiligen Vorzüge und Nachteile.

Also hat Geissler das naheliegende getan, und ein - wie ich finde - weises, sinnvolles und sachgerechtes Schlichter-Urteil gesprochen.

Mediation ist Herrschaftsinstrument

michael wilk 02.12.2010 - 10:03
Liebe Leut,
allen Warnungen zum Trotz wurde sich auf ein Schlichtungsverfahren eingelassen, obwohl es bei dieser Konfliktlage nix zu schlichten gibt. Mediations- und Schlichtungverfahren haben zum Ziel Konflikte "von der Straße weg- hin zum Verhandlungstisch zu bringen". Diese Erkenntnis ist nicht neu, es gibt dazu jede Menge Material und vor allem auch Erfahrung mit bereits durchgeführten Verfahren. Das wohl in der BRD bekannteste, ist das Mediationsvefahren zum Bau der neuen Nordbahn am Frankfurter Flughafen. Dieses hatte klar zum Ziel, den Konflikt zu deeskalieren. Die Landesregierung und Flughafenbetreiber hatten eine Höllenangst vor Auseinandersetzungen wie zu Zeiten der Startbahn-West. Die Flughafen BI´s hatten sich deshalb damals, nach fundierter Analyse des Vorschlags, in großer Mehrheit dem Verfahren verweigert. Die Gemeinden und Verbände die teilnahmen, sehen sich jetzt, nachdem die Landebahn trotz zehnjähriger Auseinandersetzung gebaut wird, ge- und enttäuscht, weil noch nicht mal das im Mediationsverfahren versprochene "Trostpflaster" Nachtflugverbot konsequent umgesetzt wird. Nochmal: Verfahren dieser Art haben- und das ist erklärtes Ziel- den Sinn, den Widerstand zu spalten, auf eine diffuse Verhandlungsebene zu ziehen und vor allem die Akzeptanz in der Bevölkerung herzustellen. Also Vorsicht! Wir sind gerne bereit unsere Erfahrungen und Ergebnisse zu Verfügung zu stellen. Kontakt über www.aku-wiesbaden.de Grüße Michael Wilk

Kritische Einschätzungen der S21 Schlichtung

jop 03.12.2010 - 17:52
Attac hat einige kritische Kommentare zur Stuttgarter Schlichtung aufgelistet - sehr lesenswert:

 http://www.attac.de/aktuell/stuttgart21/schlichtungs-debatte/

Beiträge die keine inhaltliche Ergänzung darstellen

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Guter Text — danke

@sylke — gemeint

@ gemeint — Sylke