Leipzig: Kamal K. von Nazis ermordet

Antifaschist_innen 01.11.2010 23:43 Themen: Antifa Antirassismus
Vor wenigen Tagen, in der Nacht zum 24. Oktober, wurde Kamal K. ermordet. Zwei Nazis haben den 19-Jährigen vor dem Hauptbahnhof mit einem Messer angegriffen und mehrfach auf ihn eingestochen. Kamal erlag kurze Zeit später im Krankenhaus seinen schweren Verletzungen. Er ist nunmehr der sechste Mensch, der allein in Leipzig seit 1990 durch nazistisch und rassistisch motivierte Gewalt ums Leben gekommen ist, ein antifaschistisches Bündnis will nicht zulassen, dass Kamal hinter dieser traurigen Statistik verschwindet.
Was genau am 24. Oktober passierte ist bislang noch nicht ganz klar, in öffentlichen Berichten liest sich die Ermordung von Kamal wie folgt:

"Der 19-jährige Kamal K. war nach einem Discobesuch am Sonntagmorgen mit seiner Freundin und einem Bekannten in einer Parkanlage am Leipziger Hauptbahnhof unterwegs gewesen. Gegen 1.40 Uhr wurde er dort von den beiden Männern niedergeschlagen und mit einem Messer verletzt. Er konnte sich noch zur nächsten Straße schleppen, brach dort zusammen und starb wenig später im Krankenhaus."

In einer Pressemitteilung des sächsischen Ausländerbeauftragten, Martin Gillo, wird der Abend jedoch genauer geschildert, so heißt es in der Pressemitteilung vom 30.10.2010:

"In der Nacht vom Samstag auf Sonntag, den 24. Oktober 2010, war er mit seiner deutschen Freundin auf dem Weg nach Hause in einer "Wohnplatte" in der Nähe des Hauptbahnhofs, als er im Park vor dem Leipziger Hauptbahnhof einen Überfall von zwei Männern auf einen sechzehnjährigen Jungen bemerkte. Er trat mutig hinzu, um den Jungen zu retten und wurde sofort von den beiden Männern feige angegriffen und brutal erstochen. Seine Freundin und der überfallene Junge konnten die Täter gegenüber der Polizei identifizieren. Doch jegliche Hilfe kam für Kamal zu spät. Er erlag seinen schweren Wunden am nächsten Tag in der Universitätsklinik Leipzig."

Es wird wohl noch bis zum Gerichtsprozess dauern, bis alle Einzelheiten des Abend geklärt sind, eines steht jedoch fest, einer der Täter ist bekennender Neonazi. Zur Vorführung beim Haftrichter hatte sich der 28-Jährige Daniel K., einer der Täter, zum Schutz vor Fotografen einen Pullover über den Kopf gezogen, auf dem "Kick off Antifacism" stand.

Er war von 2002 bis 2007 in der nordrhein-westfälischen Neonazi-Szene aktiv. Der gebürtige Leipziger Daniel K. zog 2001 aus der Messestadt in die Region Aachen-Düren. Dort fand er wenig später Anschluss bei der militanten "Kameradschaft Aachener Land" (KAL). Beide Täter sind mehrfach vorbestraft. K. wurde im Februar 2007 wegen unterlassener Hilfeleistung rechtskräftig zu einer Geldstrafe verurteilt. Gemeinsam mit dem Anführer der "Kameradschaft Aachener Land" René L., hinderte Daniel K. damals einen anderen Kameraden nicht an der Misshandlung von dessen schwangerer Freundin. Im Juni 2007 verurteilte ihn das Landgericht Aachen wegen Geiselnahme und gefährlicher Körperverletzung zu einer Freiheitsstrafe von 3 Jahren, 3 Monaten. Im Frühjahr 2010 wurde er nach Verbüßung eines Teils der Strafe aus der Haft erlassen.

Der zweite Täter, Marcus E., kann auf ein ähnliches langes Vorstrafenregister und jede Menge Hafterfahrung zurückblicken. Der 32 Jährige saß bereits mehrere Haftstrafen wegen gefährlicher Körperverletzung, Einbruchsdiebstahls und Raubes ab. Zuletzt wurde er im Jahr 2002 durch das Landgericht Erfurt wegen Vergewaltigung und gefährlicher Körperverletzung zu einer Freiheitsstrafe von 8 Jahren, 6 Monaten verurteilt. Erst Mitte Oktober wurde er aus der Haft entlassen.

Heute (1.11.) wurde Kamal in Leipzig beerdigt. Zuvor zogen an die 500 Menschen in einem Gedenkmarsch vom Augustusplatz vorbei am Tatort im Müllerpark zum Nordfriedhof, darunter auch die Familie von Kamal. Auf dem Weg von der Innenstadt zum Friedhof skandierten sie immer wieder "Gerechtigkeit für Kamal". Als der Aufzug den Müllerpark erreichte, kam er kurz zum Stehen. Die Stimmung auf dem weiten Weg war vor allem von tiefer Trauer und Bestürzung geprägt. Es lag aber auch spürbar Wut in der Luft. Als ein Autofahrer "Scheiß Kanacken" in Richtung der Trauernden brüllt, geht die Polizei dazwischen um die Rassisten im Wagen zu schützen, als einige Menschen aus dem Gedenkzug Plastikflaschen werfen. Es blieb nicht nur bei dieser Pöbelei gegen den Zug der Trauernden, so wurde auch aus Fenster gerufen, dass die Menschen gefälligst "Deutsch" sprechen sollen. Die Polizei begleitet den Zug mit einem stärkeren Aufgebot und filmte ihn sogar schon ab, bevor es zu Zwischenfällen mit pöbelnden Rassisten kam.

Bereits am Mittwoch, den 27. Oktober, kam es zu einer Spontandemonstration von Antifaschist_innen zum Mord vom Kamal und den alltäglichen Rassismus in Leipzig. Ziel der ca. 180 Antifaschist_innen war das Redaktionsgebäude der "Leipziger Volkszeitung", jener Tageszeitung die durch ihre Berichterstattung erheblich zum rassistischen Klima beiträgt. So heißt es auch im Aufruf des "Initiativkreis Antirassismus“:

"Dieser Rassismus ist legal – nur wo er zu Mord und Totschlag übergeht, wird er geleugnet. Polizei und Staatsanwaltschaft haben daher in den Tagen nach Kamals Ermordung beteuert, es lägen keine Anhaltspunkte für ein rassistisches Motiv vor. Tatsächlich sind die Täter der Polizei sehrwohl als „rechtsextrem“ bekannt. Ein Pressefoto zeigt einen der Mörder sogar mit einem Pullover mit der Aufschrift „Kick off Antifascism“. Dass überhaupt zwei Deutsche des Nachts auf Ausländerjagd gehen, ist an sich gesehen scheinbar zu „gewöhnlich“, um schon als rassistisch gelten zu können. So jedenfalls sieht es die Leipziger Volkszeitung (LVZ), die leider einzige örtliche Tageszeitung. Dort wurde der Versuch von Polizei und Staatsanwaltschaft unterstützt, die offenkundige Möglichkeit eines rassistischen Tatmotivs zu verschleiern. Stattdessen wurde am 26.10., zwei Tage nach dem Mord, deutlich darauf hingewiesen, dass „auch das Opfer“ kein „unbeschriebenes Blatt“, sondern „polizeibekannt“ sei. [5] Offenbar wollte die LVZ eine eigene Version des Tathergangs kolportieren: Wenn sich Täter und Opfer tief in der Nacht vor dem Hauptbahnhof begegnen, könnte es ein Streit unter Kriminellen gewesen sein… Dem ist aber nicht so: Kamal wohnt unweit des Hauptbahnhofs, er war auf dem Heimweg von einer Disko. Der „kriminelle“ Hintergrund ist eine Erfindung der LVZ, die aus dem verbreiteten Vorurteil, Ausländer_innen seien per se kriminell, druckreife Fakten produziert. [6]

Im Übrigen bedarf es eines besonders verhärteten Zynismus, einen rassistischen Mord mit dem Hinweis verharmlosen zu wollen, es seien „Kriminelle“ involviert gewesen, die Tat habe also „den Richtigen“ getroffen. Die Redakteur_innen der LVZ wissen sich hier im Einklang mit ihren Leser_innen, die deren Brand-Sätze in den Kommentarspalten sogleich in die ebenso frei erfundene These über angebliches „Drogenmilieu“ gesteigert haben. Nicht ungewöhnlich für die LVZ: Ende August wurde Sarrazin auf Seite 1 gehoben und vom Leitartikler mit den Worten gelobt, er argumentiere „nie in Stammtischmanier dumpf aus dem hohlen Bauch heraus, sondern beschreibt nur ungeschminkt und mit Fakten untermauert unbequeme Wahrheiten.“ [7] Dass Sarrazin mit allem „Recht hat“, bestätigten sogleich 99 Prozent (!) der LVZ-Leser_innen in einer Telefonumfrage. [8] Im Rahmen dieser Debatte hat die LVZ auch dem Moslem-Hasser und national-konservativen Publizisten Udo Ulfkotte ein Interview und damit Platz für die versprochenen rassistischen „Wahrheiten“ eingeräumt. [9]

Was in der Presse so gut wie nie auftaucht, ist eine Auseinandersetzung mit dem rassistisch geprägten Alltag, den Migrant_innen auch in Leipzig durchleben. Nur ein Beispiel sind die Planungen der Stadt aus dem vergangenen Jahr, im Stadtteil Thekla ein neues Asylbewerber_innen-Heim einzurichten. Dessen Standort sollte – laut Stadtratsmehrheit – nach explizit rassistischen Gesichtspunkten ausgewählt werden: Die Bewohner_innen sollten fernab kultureller, sozialer und Bildungseinrichtungen, außerhalb von Wohngebieten und urbanen Zentren massenhaft in „Wohncontainern“ untergebracht werden. Dagegen regte sich Protest [10] – der Plan scheiterte letztlich aber daran, dass der Stadt alle eingeholten Angebote zu teuer waren."

Dieser Initiativkreis plant auch für den kommenden Donnerstag, den 4. November, eine Demonstration unter dem Motto: "Angst und Trauer überwinden – Zusammen gegen Rassismus kämpfen“ um 17:30 Uhr vom Südplatz.

Mit der Demonstration will der Initiativkreis an Kamal erinnern und die Aufmerksamkeit darauf lenken, dass Migrant_innen in Leipzig tagtäglich von Ausgrenzung betroffen sind. Das Problem heißt Rassismus. Dazu zählen aber nicht nur Neonazis, die auf Ausländerhatz gehen, sondern auch die Diskriminierung in Behörden, ausländerfeindliche Gesetze und abwertende Alltagspraxen einiger Teile der hiesigen Bevölkerung.

Weitere Morde von Nazis in Leipzig

Kamal ist der 6. Mensch der von Nazis in Leipzig ermordet wurde. Am 23. August 2008 wurde Karl-Heinz T. nicht weit entfernt von jener Stelle ermordet, an dem auch Kamal starb. Passanten hatten Karl-Heinz T. nach Polizeiangaben am Morgen des 23.August gegen 7.30 Uhr auf einer Parkbank am Schwanenteich bei der Oper entdeckt. Der 59-jährigen Obdachlose war bewusstlos und vom Regen durchnässt. Bei ihm wurden lebensgefährliche Verletzungen am Kopf festgestellt, er war deshalb ins Universitätsklinikum eingeliefert worden.

Knapp eine Woche später, am 29.August, nahm die Polizei einen aus dem Leipziger Umland stammenden 18-Jährigen fest. Dieser gab in einer ersten Vernehmung die Gewalttat gegen den Obdachlosen zu. Die Staatsanwaltschaft ging davon aus, dass der Obdachlose heimtückisch im Schlaf überfallen wurde. Neben den Kopfverletzungen wurden ihm auch Prellungen am ganzen Körper zugefügt. In der Anklageschrift ist von Brüchen im Gesicht, einer Halswirbelfraktur sowie Hirnquetschungen und -blutungen die Rede. Dass die Polizei dem Übergriff auf einen Obdachlosen zunächst keinen hohen Stellenwert einräumte, darauf lässt die Aussage einer Zeugin am zweiten Prozesstag schließen. Die Studentin hatte den leblosen Mann am Morgen entdeckt und gegen 6 Uhr die Polizei im nahen Innenstadtrevier verständigt. Die Beamten zeigten allerdings kein großes Interesse an ihrer über die Gegensprechanlage geäußerten Meldung. Sie sei nicht mal hereingebeten worden und musste auch nicht ihre Personalien angeben, so die Zeugin vor Gericht. Erst anderhalb Stunden später schickte die Behörde jemanden zum Nachschauen von der Ritterstraße an den Schwanenteich. Das bezeichnet selbst die LVZ als "merkwürdig". Für die zuständigen Beamten scheint dieses Verhalten jedoch keine Konsequenzen zu haben.

Weitere von Nazis Ermordete in Leipzig:

Klaus R., 43 Jahre alt. Er wurde am 28. Mai 1994 von einer Gruppe von Sechs Nazis in seiner Wohnung über mehrere Stunden Misshandelt und schließlich zu Tode geprügelt.

Bernd G., 43 Jahre alt. Er wurde am 8. Mai 1996 in Leipzig-Wahren nach einer Sauftour von drei Rechtsextremisten auf brutalste Weise von ihnen zusammengeschlagen und erstochen. Die Leiche versenkten die drei Täter im Ammelshainer See, wo sie eine Woche später gefunden wurde. Die Nazis brachten Bernd G. um weil er homosexuell war.

Achmed B., 30 Jahre alt. Er wurde am 23. Oktober 1996 auf der Karl-Liebknecht Straße (Südvorstadt) vor einem Gemüseladen durch einen Messerstich ins Herz getötet, als er seinen zwei "deutschen" Kolleginnen zu Hilfe kommen wollte, die von zwei Nazis attackiert und als »Türkenschlampen« bezeichnet worden waren. Die beiden Nazis waren den ganzen Tag schon unterwegs und bedrohten mehrmals mit ihrem Messer Menschen, bis sie schließlich B. ermordeten.

Nuno L., 49 Jahre alt. Am 4. Juli 1998 wurde er von acht Männern im Alter zwischen 18 und 20 Jahren in Leipzig zusammengeschlagen. Er starb am 29. Dezember 1998 in Portugal an den Folgen der Verletzungen. Die Täter gaben vor der Tat an, dass sie sich aufmachen wollten, um "Ausländer hacken" zu gehen. Grund war ein verlorenes Deutschlandspiel gegen Kroatien.

Ein Bericht zu dem Mord aus dem Jahre 1998 und zu dem Versuch der Regierung Morde durch Nazis zu vertuschen findet sich hier:

Die verschwiegenen Toten - Behörden vertuschen Ausmaß der rechtsradikalen Gewalt

Eine Überischt zu den durch Nazis ermordeten Menschen in Deutschland findet sich hier:

Todesopfer rechter Gewalt 1990 - 2010

Erinnert sei auch an Marwa El-Sherbini, die in Dresden von einem Ausländerhasser erstochen wurde. Wie damals will auch heute die örtliche Presse zum Mord an Kamal, nichts von einem rassistischen Tatmotiv wissen.

Am 1. Juli 2009 wurde Marwa El-Sherbini im Amtsgericht Dresden auf grausame Weise getötet. Marwa, bekennende Muslima aus Dresden, zeigte einen Neonazi an als dieser sie als „Terroristin“, „Islamistin“ und „Moslemschlampe“ beschimpft hatte. Das Amtsgericht Dresden verurteilte Alex W. zu einer Geldstrafe gegen die er später in Revision ging. Als es dort zur Hauptverhandlung kam, bei welcher auch Marwa als Zeugin vorgeladen war, ereignete sich der rassistische und brutale Mord. Der Neonazi stürmte mit den Worten „Du hast kein Recht zu leben!“ auf Marwa zu und erstach sie mit 16 Messerstichen. Als der Ehemann versuchte ihr zur Hilfe zu kommen wurde dieser von einstürmenden Polizisten angeschossen. Marwa, welche ein dreimonatige altes Kind im Brauch trug, erlag ihren Verletzungen noch im Gerichtssaal. Ihr Mann konnte nur durch die schnellen Hilfsmaßnahmen des Anwalts vor dem Tod bewahrt werden. Der dreijährige Sohn wurde Zeuge dieser grausamen Taten.


Pressespiegel zum Mord an Kamal:

Pressespiegel


Alle weiteren Informationen zur Demonstration am 4. November:

Initiativkreis Antirassismus


Kampagne zur Erinnerung an jene Menschen, die von Nazis Weltweit ermordet wurden:

Siempre Antifascista


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Ergänzungen

vollständiger Aufruf zur Demonstration

hier 01.11.2010 - 23:56
Angst und Trauer überwinden – Zusammen gegen Rassismus kämpfen!

Vor wenigen Tagen, in der Nacht zum 24. Oktober, starb unser Freund und Kollege Kamal. Zwei deutsche Rassisten haben den 19-Jährigen vor dem Hauptbahnhof mit einem Messer angegriffen und mehrfach auf ihn eingestochen. Kamal erlag kurze Zeit später im Krankenhaus seinen schweren Verletzungen. Sie wurden ihm zugefügt, weil ihn seine Mörder nicht für „deutsch“ gehalten haben – Kamal kam aus dem Irak. Wir trauern um ihn. Er ist nunmehr der sechste Mensch, der allein in Leipzig seit 1990 durch nazistisch und rassistisch motivierte Gewalt ums Leben gekommen ist, und wir werden nicht zulassen, dass Kamal hinter dieser traurigen Statistik verschwindet.

Seine Ermordung bezeugt, dass rassistische Denk- und Handlungsweisen in unserer Gesellschaft weit verbreitet sind und bedrohliche Ausmaße annehmen. In einer Gesellschaft, die sich entschlossen gegen Diskriminierung und menschenfeindliche Einstellungen wendet, wäre Kamal kein Opfer geworden. Für die aktuellen Zustände jedoch betont das sächsische Antidiskriminierungsbüro (ADB): „Rassismuserfahrungen und strukturell bedingte Ausschlüsse in zentralen Lebensbereichen sind eine gesellschaftliche Realität in Sachsen“ [1], und diese Realität stellt sich denen, die als nicht-deutsch gelten, feindlich gegenüber. Die Opferberatung der RAA Sachsen ergänzt, dass körperliche Angriffe gegen Migrant_innen „lediglich ein weiteres Ereignis in der Kette ihrer täglichen Rassismus- und Ausgrenzungserfahrungen“ darstellen. [2] Das ist offenbar keine Übertreibung: Eine kürzlich veröffentlichte Studie der Friedrich-Ebert-Stiftung weist nach, dass etwa 35 Prozent der Ostdeutschen tatsächlich ausländerfeindlich sind – mit Aufwärtstrend im ganzen Land. [3]

Ein rassistischer Mord ist vor diesem Hintergrund weder Zufall noch Ausnahme, sondern passt in das aufgehetzte Klima der laufenden Zuwanderungs- und Integrations-“Debatten“, die sich – entgegen dem moralischen Vorwand von Publizist_innen wie Thilo Sarrazin, man wolle „Tabus“ brechen – seit Jahren wiederholen. [4] Es wiederholt sich darin auch die autoritäre Forderung der Mehrheitsgesellschaft gegenüber Migrant_innen, sich laufend für ihr schieres Dasein zu rechtfertigen. Diese unverschämten Ansprüche an Migrant_innen werden von dem überwiegenden Teil der Bevölkerung mitgetragen, der sich für die Interessen und Bedürfnisse von „Ausländern“ keinen Deut interessiert und sie vorzugsweise als Störfaktor der öffentlichen Ordnung, Risiko für die innere Sicherheit und Auslöser von Kriminalität stigmatisiert.

Allein diese rassistische Konstellation ist eine Bedrohung für hier lebende Migrant_innen. Ob längst eingebürgert, nur „geduldet“ oder ohne „Papiere“: Ihnen wird der Zugang zur Gesellschaft und die Teilhabe am öffentlichen Leben systematisch verwehrt. Mehr noch, durch Verweis auf wahlweise Blut und Gene, Hautfarbe und Sprache, Pass und Arbeit, Religion und Kultur wird bereits die Eignung für diese Teilhabe vehement bestritten und die Sortierung der Bevölkerung anhand dieser Kriterien begründet. Somit bleiben auch rassistische Ideologien im Alltag relevant – jedenfalls treffen sie seltener auf Widerworte denn auf Beifall. Der Alltagsrassismus wird damit nicht nur befördert, sondern er hört auch auf, „nur“ eine Sammlung von Vorurteilen zu sein, über die man leicht aufklären kann. Wenn sich Hetzer wie Sarrazin – und er steht hier stellvertretend für seine „politische Klasse“ – aktiv bemühen, gegen Migrant_innen noch mehr Vorwände aus den Ressorts Rassekunde, Volkswirtschaft und Nationalismus starkzumachen, tut es nicht wunder, wenn jemand diese Vorwände ernst nimmt und sich am Nächstbesten vergreift.

Der staatliche Rassismus der Bundesrepublik – ob militärisch an den europäischen Außengrenzen, in Uniform von Polizei und Zoll im Inneren oder im Anzug hinter einem Behördenschalter – hat in den letzten Jahrzehnten ohnehin gezeigt, dass es hier noch nie ein Tabu war, „Ausländer“ zu erniedrigen, ihnen mit Zwangsmaßnahmen zu begegnen oder Gewalt anzutun. Dieser Rassismus ist legal – nur wo er zu Mord und Totschlag übergeht, wird er geleugnet. Polizei und Staatsanwaltschaft haben daher in den Tagen nach Kamals Ermordung beteuert, es lägen keine Anhaltspunkte für ein rassistisches Motiv vor. Tatsächlich sind die Täter der Polizei sehrwohl als „rechtsextrem“ bekannt. Ein Pressefoto zeigt einen der Mörder sogar mit einem Pullover mit der Aufschrift „Kick off Antifascism“. Dass überhaupt zwei Deutsche des Nachts auf Ausländerjagd gehen, ist an sich gesehen scheinbar zu „gewöhnlich“, um schon als rassistisch gelten zu können.

So jedenfalls sieht es die Leipziger Volkszeitung (LVZ), die leider einzige örtliche Tageszeitung. Dort wurde der Versuch von Polizei und Staatsanwaltschaft unterstützt, die offenkundige Möglichkeit eines rassistischen Tatmotivs zu verschleiern. Stattdessen wurde am 26.10., zwei Tage nach dem Mord, deutlich darauf hingewiesen, dass „auch das Opfer“ kein „unbeschriebenes Blatt“, sondern „polizeibekannt“ sei. [5] Offenbar wollte die LVZ eine eigene Version des Tathergangs kolportieren: Wenn sich Täter und Opfer tief in der Nacht vor dem Hauptbahnhof begegnen, könnte es ein Streit unter Kriminellen gewesen sein… Dem ist aber nicht so: Kamal wohnt unweit des Hauptbahnhofs, er war auf dem Heimweg von einer Disko. Der „kriminelle“ Hintergrund ist eine Erfindung der LVZ, die aus dem verbreiteten Vorurteil, Ausländer_innen seien per se kriminell, druckreife Fakten produziert. [6]

Im Übrigen bedarf es eines besonders verhärteten Zynismus, einen rassistischen Mord mit dem Hinweis verharmlosen zu wollen, es seien „Kriminelle“ involviert gewesen, die Tat habe also „den Richtigen“ getroffen. Die Redakteur_innen der LVZ wissen sich hier im Einklang mit ihren Leser_innen, die deren Brand-Sätze in den Kommentarspalten sogleich in die ebenso frei erfundene These über angebliches „Drogenmilieu“ gesteigert haben. Nicht ungewöhnlich für die LVZ: Ende August wurde Sarrazin auf Seite 1 gehoben und vom Leitartikler mit den Worten gelobt, er argumentiere „nie in Stammtischmanier dumpf aus dem hohlen Bauch heraus, sondern beschreibt nur ungeschminkt und mit Fakten untermauert unbequeme Wahrheiten.“ [7] Dass Sarrazin mit allem „Recht hat“, bestätigten sogleich 99 Prozent (!) der LVZ-Leser_innen in einer Telefonumfrage. [8] Im Rahmen dieser Debatte hat die LVZ auch dem Moslem-Hasser und national-konservativen Publizisten Udo Ulfkotte ein Interview und damit Platz für die versprochenen rassistischen „Wahrheiten“ eingeräumt. [9]

Was in der Presse so gut wie nie auftaucht, ist eine Auseinandersetzung mit dem rassistisch geprägten Alltag, den Migrant_innen auch in Leipzig durchleben. Nur ein Beispiel sind die Planungen der Stadt aus dem vergangenen Jahr, im Stadtteil Thekla ein neues Asylbewerber_innen-Heim einzurichten. Dessen Standort sollte – laut Stadtratsmehrheit – nach explizit rassistischen Gesichtspunkten ausgewählt werden: Die Bewohner_innen sollten fernab kultureller, sozialer und Bildungseinrichtungen, außerhalb von Wohngebieten und urbanen Zentren massenhaft in „Wohncontainern“ untergebracht werden. Dagegen regte sich Protest [10] – der Plan scheiterte letztlich aber daran, dass der Stadt alle eingeholten Angebote zu teuer waren.

Auch das ist keine Provinzposse, sondern entspricht dem Trend der Bundespolitik, Migrant_innen nach ihrem „Nutzen“ für die Volkswirtschaft zu bewerten und damit umgekehrt ganze Bevölkerungsteile für minderwertig zu erklären, zu prinzipiell gescheiterten Existenzen, die man sich – zumal als Nationalist_in – vom völkischen Leib und daher aus Deutschland raus halten solle. Dass solche Argumentationen von allen Schichten der mehrheitsdeutschen Bevölkerung zumindest akzeptiert werden, zeigt, dass staatliche Politik (in Deutschland bedeutet dies eine Zuwanderungspolitik ohne Asylrecht und eine polizistische Abwehr von Migrant_innen) einerseits von den menschenverachtenden Einstellungen verhetzter Bürger_innen andererseits nicht zu trennen sind. Sie bilden den Resonanzboden, auf dem ein rassistischer Gewaltexzess erst möglich wird.

Das ist die bittere Wahrheit: Die rassistischen Täter haben in genau diesem Kontext gemordet. Und daher heißt unsere Aufgabe: Rassismus den Boden entziehen, Rassist_innen niemals und nirgends gewähren lassen. Unsere Solidarität gilt den Opfern rassistischer Angriffe, unser gemeinsamer Kampf den tagtäglichen menschenfeindlichen Zumutungen dieser Gesellschaft.

* Angst und Trauer überwinden – Zusammen gegen Rassismus kämpfen!
* Kommt zur antirassistischen Demonstration: Donnerstag, 4. November, 17.30 Uhr, Südplatz

Wenn ihr nicht nach Leipzig kommen könnt, rufen wir euch zu zeitgleichen Solidaritätsaktionen in anderen Städten auf. Rassismus gibt es überall!




Fußnoten
[1] Antidiskriminierungsbüro Sachsen: Rassismus auf Sächsisch, in ADB (Hrsg.): Rassismus in Sachsen. Aktuelle Perspektiven, Leipzig 2010: S. 14.
[2] RAA Sachsen e.V.: Rassistische Angriffe in Sachsen – ‚Das Problem sind nicht nur die Nazis‘, a.a.O.: S. 48.
[3] Brähler, Elmar/Decker, Oliver u.a.: Die Mitte in der Krise. Rechtsextreme Einstellungen in Deutschland 2010, Berlin 2010.
[4] Darauf verweist etwa die lesenswerte Resolution der Initiative „Demokratie statt Integration“ unter www.demokratie-statt-integration.kritnet.org
[5] LVZ v. 26.10.2010, S. 17. „Polizeibekannt“ zu sein ist für Migrant_innen durch behördliche Zwangserfassung fast unvermeidbar, aber auch für etwa die Hälfte der deutschen Jugendlichen nicht ungewöhnlich.
[6] Weitere Beispiele dafür hat das Dokumentationsprojekt „chronik.LE“ gesammelt: www.chronikle.org/ereignis/neulich-lvz-brutaler-auslaender-schwarzen-haaren-polnischer-ladendieb
[7] LVZ v. 26.08.2010, S. 1.
[8] LVZ v. 28.08.2010. Vgl. dazu auch den Artikel „Das Problem heißt Rassismus“ in der Herbstausgabe der „Leipziger Zustände News“, online unter www.chronikle.org/leipziger-zustaende/news-2010-02
[9] LVZ v. 27.08.2010. Zur Behandlung der „Integrationsdebatte“ durch die LVZ hat das „Forum für kritische Rechtsextremismusforschung“ unlängst ein Statement veröffentlicht: www.diffusionen.de/2010/10/05/leipzig-braucht-eine-debatte-uber-rassismus/
[10] Mehr dazu: initiativkreisintegration.blogsport.de

weiteres zur LVZ und ihrem Rassismus

findet sich hier 02.11.2010 - 00:14
Stellungnahme des Forums für Kritische Rechtsextremismusforschung (FKR) zur „Integrationsdebatte“ in der Leipziger Volkszeitung


„Deutschland schafft sich ab“ – glaubt man der Leipziger Volkszeitung (LVZ), so gibt es an dieser Meinung und den damit verbundenen Aussagen Thilo Sarrazins nicht viel zu rütteln. Und, so ein zweiter Eindruck, den die Lektüre der Zeitung in den letzten Wochen hinterlassen hati, in Leipzig möchte auch niemand daran rütteln: Telefonumfrage und Leser_innenbriefe sind eindeutig in ihren ‚realsozialistischen’ Zustimmungswerten. Die Zeitung gebärdet sich als Sprachrohr der vermeintlich einhelligen ‚Volksmeinung’. Kritische Stimmen bleiben unterrepräsentiert. All das ist kein Problem, so könnte argumentiert werden, sondern übliches Gebaren einer Tageszeitung, die sich auf ein bestimmtes politisches Klientel festgelegt hat. Allerdings gibt es mindestens zwei Gründe, die Berichterstattung dieser Zeitung anders zu bewerten und für die öffentliche Diskussionskultur in Leipzig einmal mehr eine Differenzierung einzufordern: Einerseits ist die LVZ als einzige lokale Tageszeitung (neben der Bild) hegemonial meinungsbildend für die politische Öffentlichkeit in Leipzig und gehört zu den meistzitierten deutschen Regionalzeitungen. Andererseits reproduziert die LVZ mit ihrer Berichterstattung bewusst oder zumindest fahrlässig rassistische Argumentationsmuster.

Einmal mehr verliert die LVZ dabei die Grenzen der journalistischen Sorgfaltspflicht aus dem Auge. Natürlich gäbe es an der aktuell in Deutschland wieder aufgewärmten „Integrationsdebatte“ und an der Rolle der Medien darin auch grundsätzlich vieles zu kritisieren. Als eine in Leipzig arbeitende Organisation ist es uns aber ein besonderes Anliegen, dem von der LVZ behaupteten Konsens einer „Migrationskritik“ etwas entgegenzusetzen. Wir glauben nicht, dass wir mit dieser Kritik allein sind und rufen daher dazu auf, den aktuellen Anlass als Motivation für einen erneuten Anlauf zur Herstellung einer kritischen, menschlichen und demokratischen Öffentlichkeit in Leipzig zu nehmen.

Die LVZ spricht im Zusammenhang mit ihrer Berichterstattung über den ,Fall Sarrazin‘ von einer „Integrationsdebatte“, die sie als längst überfällig bewertet. Inhaltliche Kritik an den Behauptungen Sarrazins sucht man vergeblich. Die grundsätzlich zustimmende Haltung der LVZ kommt im Titel eines Kommentars von Politik-Redakteur Armin Götz zum Ausdruck: „Sarrazin hat nicht in allen Punkten recht“ (LVZ vom 30.08.2010). Geht es zu Beginn der Debatte um Sarrazins Buch, ist mit anerkennendem Unterton vom „Provokateur“, dem „umstrittenen“ und „streitbaren“ Volkswirt mit „streitbaren Thesen“ und einer „unbequemen Meinung“ die Rede. Von einem „Querdenker […], der niemals Anlass zum Zweifel an seiner demokratischen Gesinnung gegeben hat“, der „immer schon gut für einen saftigen Aufschlag“ii war. Sarrazin erscheint als derjenige, der eine längst überfällige und für Deutschland notwendige Debatte „auslöst“, „anheizt“ und dabei Lob für seine angeblich wissenschaftliche Argumentation erhält: „Er argumentierte nie in Stammtischmanier dumpf aus dem hohlen Bauch heraus, sondern beschrieb nur ungeschminkt und mit Fakten untermauert unbequeme Wahrheiten, die niemand aus einer übertriebenen Political Correctness heraus aussprechen wollte“ (Thilo Boss, LVZ vom 26.08.10)iii.

Kritische Stimmen: zu zaghaft, zu spät

Auch die LVZ berichtet und kommentiert nicht monolithisch. Insbesondere das Kulturressort veröffentlichte durchaus kritische Beiträge, und in letzter Zeit scheint sich das Blatt auch bezogen auf die Leser_innenbriefe zu wenden. Jedoch: die kritischen Artikel kamen erst, als die Debatte schon im vollen Gange und auch die (suggestive) TED-Umfrageiv bereits abgeschlossen war. Die Redakteur_innen im Politik- und Lokalteil hatten ihre Marke bereits gesetzt. Die kritischen Wortmeldungen kamen zu spät, um einen anderen Ton anzuschlagen. Und so wichtig und erwähnenswert sie sind: sie blieben zaghaft. Kritisierten den Auftritt Sarrazins bei Beckmann als „müde Verkaufsshow“ (Jürgen Kleindienst, 01.09.2010)v. Mathias Wöbking zerlegte im Kulturteil genüsslich die Behauptung, Sarrazin sei ein Tabubrecher (02.09.2010).vi Es wurden Kritiker_innen interviewt und widersprechenden Meinungen auf diesem Wege ein wichtiger Platz im Blatt eingeräumt. Aber eine eigene kritische Positionierung, eine inhaltliche Infragestellung von Sarrazins „Thesen“ blieb aus. Dies wird anderen überlassen, die entweder in Interviews selbst sprechen oder von den Redakteur_innen sozusagen vertreten werden. Autor_innen anderer Ressorts haben demgegenüber scheinbar kein Problem damit, ihre grundsätzliche Zustimmung zu Sarrazins Thesen zu äußern und den Bundespräsidenten zu kritisieren, der „ohne Not seine Neutralität aufgegeben“ (Anita Kecke,06.09.2010)vii habe, um Sarrazins Entlassung aus dem Bundesbankvorstand zu fordern.

Ungleich mehr Raum als kritische Stimmen bekommen die positiven Leser_innen-Zuschriften, die zunächst unter Titeln wie „Viel Lob für Sarrazin“ (30.08.2010) und „Viel Zuspruch für Sarrazin“ (06.09.2010) in Szene gesetzt werden.viii Das am 6. September veröffentlichte Schreiben des Vorsitzenden der „Freien Bürgerstimme Baden“, eines weit außerhalb des LVZ-Einzugsgebiets ansässigen antimuslimischen Vereins aus dem Dunstkreis der völkisch-nationalistischen „Deutschland-Bewegung“, zeigt, für welche Diskurse die LVZ-Berichterstattung Anschlüsse bietet. In der Rubrik „Lesertelefon“ sprechen Anrufer_innen von einer „unberechtigten Hetze gegen Sarrazin“, für den sie stattdessen „Respekt und Hochachtung“ fordern (LVZ vom 04.09.2010, S. 18).

Von „roten Linien“ und „überfälligen Debatten“

Lediglich Sarrazins eindeutig rassistische Behauptung, bestimmte Verhaltensweisen vererbten sich genetisch und bestimmte Bevölkerungsgruppen teilten bestimmte Gene, stößt ressortübergreifend auf Kritik und wird als das Überschreiten einer „roten Linie“ beschrieben. Sie wird aber nicht ob ihrer menschenverachtenden Implikationen kritisiert, sondern verniedlichend als „Einlassungen zur Genetik“ bezeichnet und als Ballast für Sarrazins „eigentliches Anliegen“ dargestellt und bedauert. Die LVZ sieht also nicht den offensichtlichen Rassismus von Sarrazins Äußerungen als Problem, sondern stellt die Kritik daran als Ablenkungsmanöver von Debattenverweigernden dar, als plumpe Versuche, die Glaubwürdigkeit Sarrazins einzuschränken, als „Vorwand“, um „sich vor der grundsätzlichen Diskussion zu drücken“ (Armin Görtz, LVZ vom 30.08.2010)ix. Dass das rassistische Weltbild dieses Mannes auch die Interpretation der von ihm herangezogenen Daten beeinflussen könnte, kommt für die LVZ nicht in Frage und ist somit auch keiner Diskussion wert.

Damit nicht genug: Der einzige inhaltliche Kritikpunkt, den LVZ-Autor_innen an Sarrazins Äußerungen selbst artikulieren (dass die Gen-Behauptung nämlich Unsinn sei), wird als nebensächlich und für die Argumentation unwesentlich abgetan. Ernst nehmen müsse man ihn auch nicht: die Äußerungen seien „abstrus“ und „verquast“, ein „abenteuerlicher Ausflug in die Erblehre“ (Görtz, 30.08.2010), Sarrazin gebe sich damit als „Spinner“ zu erkennen. Und Politik-Redakteur Reinhard Urschel gibt der SPD sogleich mit: „,Spinner‘ ist kein Ausschlussgrund“ (02.09.2010).x Stattdessen fordert der Leiter des Wirtschaftsressorts, Thilo Boss, in einem Leitartikel, die „von Sarrazin angestoßene Zuwanderungsdebatte jetzt als Katalysator für eine bessere Integration zu verstehen und nicht pauschal als eine populistische Grenzüberschreitung zu geißeln, die dem Rechtsextremismus Vorschub leistet.“ Nicht Sarrazin habe ein Problem, sondern die bundesrepublikanische Gesellschaft und ihre politische Elite (Boss, 26.08.2010). Man dürfe Sarrazin nicht stigmatisieren, nur weil er massenweise Menschen als unproduktiv und überflüssig abwertet. Hartz-IV-Empfänger_innen, Muslim_innen und die Bewohner_innen des „tonangebenden linksliberalen Milieus“ (Zehrt, LVZ vom 27.08.2010) mögen sich bitte nicht so haben.

Dabei wird nicht nur übersehen, dass Sarrazin bereits in seinem Interview mit der Zeitschrift „Lettre International“ im September 2009 von – vererbbaren – Unterschieden im durchschnittlichen Intelligenzquotienten verschiedener Bevölkerungsgruppen schwadronierte und auch sonst sozialdarwinistisch argumentierte, weswegen seine Äußerungen in einem von Sarrazins Berliner SPD-Ortsverein beauftragten wissenschaftlichen Gutachten als eindeutig rassistisch eingestuft wurden. Mit der „Rote Linie“-Rhetorik werden zugleich alle Aussagen Sarrazins bis auf die zum angeblichen „Juden-Gen“ als ernstzunehmende, wichtige Wortmeldungen geadelt. Somit wird auch als „unstrittig“ dargestellt, dass es so etwas wie „Parallelgesellschaften“ gebe und von diesen, wie von „Flüchtlingen“, „Ausländern“ und „Migranten aus Entwicklungsländern“ eine grundsätzliche Gefahr für die deutsche Gesellschaft ausgehe. Die „Integrationslücken“ könne man nicht „einfach mit Vanillesoße zugießen“ (Kecke, LVZ vom 06.09.2010).

Die Rahmung der Debatte als „Integrationsdebatte“ oder „Migrationskritik“, die „Migration“ mit „Integrationsproblemen“ quasi in eins setzt, greift – kein Wunder! – auf andere mit diesen Begriffen verknüpfte Themen über. Die Verbindung zu lokalen Geschehnissen und Problemlagen liegt nahe, Sarrazin und die LVZ liefern die Interpretationsvorlage dafür gleich mit. Ein Beispiel aus dem Leser_innenforum bei LVZ-Online: Aus einem Bericht über 42.258 Leipziger Bürger_innen mit einem so genannten Migrationshintergrund, die es laut einer statistischen Erhebung der Stadt gibt,xi folgern die Online-Kommentator_innen prompt: „[Das] ist nur eine Bestätigung der Thesen von Herrn Sarrazin – doppelt soviel Kinder doppelt so hohe Arbeitslosenquote liegen nur dem Staat auf der Tasche und bringen nichts.“xii Ein anderer Online-Kommentar zieht den konsequenten Schluss: „Das sind exakt 42.258 Menschen zu viel.“xiii Dass die LVZ keine Veranlassung sieht, diese wie andere rassistische Auslassungen redaktionell zu moderieren bzw. zu kommentieren, ist dabei fast schon nebensächlich. Anscheinend erkennt die große Mehrheit der Redakteur_innen nicht einmal, wie gefährlich ihre undifferenzierte Berichterstattung ist.

Von „Meinungsdiktatur“ und Umsturzvisionen

Opportunistisch schließt sich die LVZ ihren aktivsten Leser_innen an, die in einer TED-Umfrage zu 99 Prozent Sarrazins Thesen zugestimmt hatten (28.08.2010), und malt den Teufel einer Meinungsdiktatur gegenüber dem vermeintlichen „Volkswillen“ an die Wand. Vom „Querdenker“ (LVZ) zum „Selbstdenker“ (Leserbrief) ist es nicht mehr weit. Sarrazin erscheint als Sprachrohr des ‚Volkes‘, der „unbequeme Wahrheiten“ mutig ausspricht und damit „die Deutschen erreicht“. Zum angeblich nicht von der Hand zu weisenden „Integrationsproblem“, der als antagonistischer Konflikt zwischen den „Deutschen“ und bestimmten Migrant_innen dargestellt wird, kommt der populistische Bruch hinzu: ,Die da oben‘ ignorierten die Anliegen des ‚Volkes‘, das dann auch prompt damit droht, sich zu wehren. Die glücklosen Versuche von Teilen der SPD, sich von Sarrazins rassistischen Äußerungen zu distanzieren, werden ebenso wie die Entbindung Sarrazins von seinen Aufgaben bei der Bundesbank als Angriffe auf die grundrechtlich verbriefte Meinungsfreiheit skandalisiert und erscheinen als das eigentliche parteischädigende Verhalten. So wird verharmlost und zum Kavaliersdelikt erklärt, was viele denken mögen, was aber deswegen nicht weniger menschenverachtend ist. Als Bedrohung für die Demokratie und eigentlich kritikwürdig erscheint die Kritik an Sarrazin, die mit dem Ende der Meinungsfreiheit in Verbindung gebracht wird – garniert mit DDR-Parallelen. Es gehe jetzt um „wesentlich mehr“, nämlich „darum, wie sich Wähler mit Volksvertretern identifizieren. Und es geht darum, wie eine Gesellschaft mit Andersdenkenden umgeht. Sollte der Bundespräsident ein Berufsverbot aussprechen, wird dies sicherlich zu einem führen: Zu mehr Politikverdrossenheit“ (Boss, LVZ vom 03.09.10).

Als wäre das noch nicht genug, bietet die LVZ dem Publizisten Udo Ulfkotte ein Forum für die Verbreitung seiner unerträglichen rassistischen und populistischen Behauptungen, die noch deutlich weiter gehen als Sarrazins Thesen.xiv Verschwörungstheoretisch konstruiert Ulfkotte dort eine billionenschwere „Integrations- und Migrationsindustrie“ herbei, die unterstützt durch „eine Schar von naiven Politikern“ „ausschließlich für Zuwanderer“ arbeite. Er schreibt von angeblich verheerenden Auswirkungen für die „ethnisch deutsche“ Bevölkerung und setzt Einwanderung – die er als skrupellosen Import von Migranten bezeichnet – mit der Verabreichung von „Gift“ an die „Einheimischen“ gleich. Demokratischen Politiker_innen wird unterstellt, unter Zuhilfenahme von Migrant_innen gezielt Wohlstand und Werte der „Deutschen“ zu vernichten, wobei der „Wille der Bevölkerung […] mit Füßen getreten“ und „für anormal erklärt“ werde. Neben der Unart, Menschen und ihr Existenzrecht nach ihrer wirtschaftlichen „Nützlichkeit“ für „ethnische Deutsche“ zu bewerten, erschreckt vor allem das von Ulfkotte auf die Zukunft projizierte Bild: Die Bevölkerung werde „aufwachen“, sagt er voraus, und dann werde mit „den Politikern“ gewaltsam „abgerechnet“.xv

Das Problem heißt Rassismus

Spätestens hier werden die Grenzen eines Gesellschaftsbildes deutlich, das nicht problematisch zu finden vermag, was „die Mitte“ denkt und tut, das „rote Linien“ braucht, um ein Problem zu erkennen und erst bei offensichtlichen NS-Parallelen aufhorcht, das Rassismus und organisierte Neonazis so in eins setzt, dass es Alltagsrassismus gar nicht sehen kann. Ob Sarrazin persönlich ein Rassist ist oder nicht, tut für die Bewertung seiner Argumente ebenso wenig zur Sache wie die Frage, wie viele Menschen ihm zustimmen.

Hier hätte die an anderer Stelle geforderte „Sachlichkeit“ in der Debatte ihren richtigen Platz. Deutschland braucht keine Einwanderungsdebatte, jedenfalls nicht nach Sarrazinschem Muster – die gibt es schon längst und nicht zufällig verweisen die Parteien jetzt auf ihre bereits gesetzlich sanktionierte Strenge mit angeblich „Integrationsunwilligen“. Nein: die LVZ braucht eine Rassismusdebatte – oder Leipzig endlich eine andere Zeitung.

Sarrazins Thesen sind nicht revolutionär, nicht neu, nicht „unbequem“. Sie provozieren niemanden. Sie sind langweilig und rassistisch. Dass sie in der LVZ nicht als solches diskutiert werden, ist der eigentliche Skandal.

Quelle:

 http://www.engagiertewissenschaft.de/de/inhalt/Leipzig_braucht_eine_Debatte_ueber_Rassismus


Fußnoten im Text:

i Grundlage der Analyse ist die Berichterstattung zwischen dem 25.8. und dem 15.9.2010
ii Maja Zehrt: „Eine Art Dauerdelikt“, LVZ vom 27.08.2010, S. 3
iii Thilo Boss: „Deutschland braucht Einwanderungsdebatte“, LVZ vom 26.08.10, S. 1
iv Die Frage lautete:“Hat Sarrazin mit seinen Thesen zur Einwanderung Recht?
v Jürgen Kleindienst: „Müde Verkaufsshow“, LVZ vom 01.09.2010, S. 11
vi Matthias Wöbking: „Endlich sagt das mal einer“, LVZ vom 02.09.2010, S. 9
vii Anita Kecke: „Sarrazin auch Problem für die Union“, LVZ vom 06.09.2010, S. 3
viii Im Laufe der „Debatte“ wurden auch die hier veröffentlichten Stimmen kontroverser.
ix Armin Görtz: „Sarrazin hat nicht in allem Recht“, LVZ vom 30.08.2010, S. 3
x Reinhard Urschel: „,Spinner‘ ist kein Ausschlussgrund“, LVZ vom 02.09.2010, S. 3
xi „8,4 Prozent der Leipziger haben einen Migrationshintergrund“, LVZ online vom 13.09.10,  http://nachrichten.lvzonline.de/leipzig/citynews/84-prozent-der-leipzige...
xii Kommentar von „Meine Wenigkeit“ zum Artikel  http://nachrichten.lvz-online.de/leipzig/citynews/84-prozent-derleipzige...
xiii Kommentar von „Nino“ zum selben Artikel
xiv Der ehemalige FAZ-Autor publizierte bereits in dem völkisch-nationalistischen Blatt „Junge Freiheit“ und veröffentlicht inzwischen im rechtslastigen Kopp-Verlag. Dessen selbsterklärtes Ziel ist es, „Tabuthemen, Political Correctness und Zensur in unserer Gesellschaft“ zu thematisieren. Entsprechend finden sich im Verlagsprogramm viele verschwörungstheoretische und esoterische Machwerke. Neben einer kürzeren Fassung des Ulfkotte-Interviews, das am 27. August in der Printausgabe der LVZ erschien, gibt es auf der Internetseite der Zeitung eine Langversion des Gesprächs zum Download.
xv „Wir sind nicht das Weltsozialamt“. Interview mit Udo Ulfkotte. Fragen: Olaf Majer. Kurzfassung: LVZ vom 27.08.10, S. 3; Ankündigung auf S. 1 im Artikel „Integrations-Debatte: Sarrazin soll Bankposten abgeben“; Langfassung unter  http://www.lvz-online.de/download

antimuslimischen Rassismus (HH)

Anarcho-Kommi 02.11.2010 - 13:07

Erscheinungsformen, Kritik und Analyse
des antimuslimischen Rassismus

Vom 10. – 12. Dezember 2010 findet an der Hochschule für Angewandte Wissenschaften (HAW) in Hamburg ein Wochenendseminar zum Thema antimuslimischen Rassismus statt.

Es wird darum gehen, mit Vorträgen und Workshops einen differenzierten Rassismusbegriff zu erar­beiten und für die aktuellen Ausdrucksweisen des antimuslimischen Rassismus zu sensibilisieren.
Es geht nicht darum – wie dies in einigen „interkulturellen“ Ansätzen gemacht wird – eine Religion „richtig zu verstehen“, oder die Lebensweisen bestimmter Communities „authentisch“ darzustellen. Denn das Problem sind nicht die „Objekte“ des Rassismus*, sondern die rassistischen Diskurse und die Rassismusträger_innen sowie die Strukturen, die die konstruierten „Objekte“ erst in spezifischer Form entstehen lassen.

Als Referent_innen sind u. a. eingeladen: Prof. Iman Attia, Dr. Manuela Bojadzijev, Prof. Gazi Caglar, Prof. Sabine Schiffer, Jugendliche ohne Grenzen (JOG), Integration-Nein-Danke!, Beratungsstelle ReachOut. Und als Abschluss-Performance die antirassistische Show Edutainment Attacke mit Noah Sow und Mutlu Ergün!


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*Beim antimuslimischen Rassismus ist es der als muslimisch identifizierter Mensch („die Moslems“) und/oder „der Islam“ das Objekt.

Kurzaufruf

auf Arabisch 02.11.2010 - 22:00

Gespräch mit "Initiativkreis Antirassismus"

radio corax 03.11.2010 - 13:12
Zwei Neonazis ermorden vor einigen Tagen in Leipzig den 19jährigen Iraker Kamal K.. Sie prügeln vor den Augen zweier Freunde auf ihn ein und stechen ihm ein Messer in den Bauch. Er starb wenige Straßen entfernt. Die Täter, der 28jährige Daniel K. und der 32jährige Markus E. wurden festgenommen, einer von ihnen trug dabei ein Sweatshirt mit der Aufschrift „Kick off Antifascism“. Offensichtlich ist Kamal aus rassistischen Gründen umgebracht worden. Der Initiativkreis Antirassismus Leipzig hatte auf entsprechende Indizien - im Gegensatz zur Berichterstattung der lokalen Medien - bereits in der vergangenen Woche hingewiesen. Radio Corax sprach mit einem Vertreter der Initiative.

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