Bildungsproteste in Argentinien werden größer

Stefan Schneider, RIO 22.09.2010 10:43 Themen: Bildung Repression Weltweit
Die Bildungsproteste in Argentinien vertiefen sich immer mehr: Nach der Demonstration am 6. September, an der mehr als 5000 SchülerInnen, Studierende und Dozierende teilgenommen hatten (wir berichteten:  http://de.indymedia.org/2010/09/289440.shtml), wurden die Koordinations- und Mobilisierungsanstrengungen weiter verstärkt.
Den Anfang machte am 10. September eine Asamblea Interestudiantil, eine gemeinsame Versammlung von SchülerInnen und Studierenden von Fachhochschulen und Universitäten, an der mehr als 2000 Menschen teilnahmen. In der bis zum Platzen gefüllten Aula der Medizinischen Fakultät der Universität von Buenos Aires (UBA) gab es, neben Berichten und Diskussionen über die momentane Situation der Schulen, Fachhochschulen und Universitäten, auch Ansprachen von Delegationen der sich in Arbeitskämpfen befindenden Belegschaften von Felfort und ROCA, sowie einer Delegation von ArbeiterInnen der Lebensmittelfabrik Kraft-Terrabusi, die – im Gegenzug für die große Unterstützung seitens der Studierenden bei ihrem Arbeitskampf im letzten Jahr ( http://www.revolution.de.com/revolution/1004/kraft/index.html) – ihre Solidarität mit den Forderungen der SchülerInnen und Studierenden ausdrückten und die Aktionseinheit von ArbeiterInnen und Studierenden und SchülerInnen forderten. Des Weiteren bat eine Delegation von ArbeiterInnen des Autoteileherstellers Paraná Metal um Unterstützung bei ihrem Kampf gegen die Entlassung von 600 ArbeiterInnen, wegen dem sie seit mittlerweile drei Wochen die wichtigste Autobahn des Landes teilweise besetzt halten.

Diese Versammlung repräsentierte aus mehreren Gründen eine neue Qualität der Bildungsproteste:

Zum Einen beschloss die Versammlung einen gemeinsamen Kampf von SchülerInnen, Studierenden und ArbeiterInnen, der sowohl die Forderungen nach mehr Geld für das argentinische Bildungssystem als auch die Forderungen der ArbeiterInnen in ihren Arbeitskämpfen zum Inhalt hat. Zu diesem Zweck wurde unter anderem eine Delegation von Studierenden zur Unterstützung des Kampfes von Paraná Metal zusammengestellt (zum Arbeitskampf bei Paraná Metal vgl. u.a.  http://www.pts.org.ar/spip.php?article16068 (Spanisch)), sowie am 14. September zudem Straßenbesetzungen in ganz Buenos Aires durchgeführt, die den Forderungen Nachdruck verleihen sollten.

Des Weiteren wurde am 16. September – zum 34. Jahrestag der Noche de los Lápices („Nacht der Bleistifte“, bei der während der letzten Militärdiktatur in Argentinien dutzende studentische AktivistInnen verschwunden sind) – gemeinsam mit den Dozierenden, die zeitgleich einen 48-stündigen Streik durchführten, und ArbeiterInnen eine große Demonstration zur „Verteidigung der öffentlichen Bildung“ und gegen die Repression gegen studentische AktivistInnen veranstaltet. Diese Demonstration war letztlich mit fast 30000 TeilnehmerInnen allein in Buenos Aires und weiteren Demonstrationen im ganzen Land der größte soziale Protest in Argentinien seit Jahren. Eine weitere Demonstration gegen Repression und für die Aktionseinheit von ArbeiterInnen und Studierenden fand am 18. September statt, zum 4. Jahrestag des Verschwindens von Julio Lopez (eines Aktivisten gegen die Militärdiktatur) an der ebenfalls mehrere Tausend Menschen teilnahmen.

Schließlich ist die Organisationsform der gemeinsamen Versammlungen aller sich im Kampf befindlichen Gruppen eine ungleich demokratischere Art der Entscheidungsfindung als die bürokratisch organisierten Centros de Estudiantes („Studierendenzentren“, in etwa mit Fachschaftsräten zu vergleichen) und der Federación Universitaria de Buenos Aires (Dachverband der Studierenden von Buenos Aires, ähnlich wie die ASten), deren VertreterInnen dementsprechend um ihren Einfluss fürchten und die Asambleas Interestudiantiles so gut wie möglich boykottieren.

Während in der letzten Woche, bis zum bisherigen Höhepunkt der Proteste am Donnerstag, waren 35 Schulen und mehrere Fakultäten der UBA sowie der Fachhochschulen der Hauptstadt besetzt, zusätzlich zu einigen besetzten Schulen und Fakultäten im ganzen Land. Gegen diese massive Protestbewegung setzen die Regierung der Stadt und die Bundesregierung eine zweigeteilte Strategie ein:

Bis zum Donnerstag benutzte die Regierung der Stadt um Mauricio Macri (von der konservativ-neoliberalen PRO) eine Strategie der Härte, die die SchülerInnen und Studierenden unter anderem damit beantworteten, dass sie während der Demonstration Macri mit der Militärdiktatur verglichen und eine Puppe von Macri vor seinem Büro verbrannten. Seitdem ist die Macri-Regierung ein wenig verhandlungsbereiter geworden und machte mehreren besetzten Schulen Angebote zur Verbesserung ihrer Lage. Daraufhin haben die meisten Schulen (bis auf 5) ihre Besetzungen temporär aufgegeben, mit der Ankündigung, die Besetzungen wieder aufzunehmen, wenn sich die Lage nicht schnellstens bessert. Zu diesem Zweck wird es am 23.9. wieder eine Demonstration zum Bildungsministerium der Stadt geben, um dieser Ankündigung Nachdruck zu verleihen.

Währenddessen versucht die nationale Regierung um Präsidentin Cristina Fernández Kirchner die SchülerInnen zu kooptieren, indem sie die Legitimität ihrer Kämpfe gegen die rechte Stadtregierung vermeintlich anerkennt, und sie gleichzeitig von den Protesten der Studierenden abzutrennen – die ja ihre eigene Machtbasis in Frage stellen, und welche sie daher mit ähnlicher Härte wie Macri bekämpft und einsperren lässt.

Vor dem Hintergrund dieser Situation wird der Protest noch einige Zeit weitergehen. Die wichtigsten Ziele der nächsten Zeit sind dementsprechend die Vertiefung der demokratischen Organisationserfahrungen in Asambleas Interestudiantiles, regional und national; die weitere Koordinierung mit Dozierenden und ArbeiterInnen, die bisher schon einige Früchte getragen hat; sowie die Vorbereitung auf weitere Proteste während der Diskussion des Haushalts 2011 im nationalen Parlament. Währenddessen stehen in den nächsten Tagen weitere Diskussionen in öffentlichen Kursen sowie weitere Aktionen wie Straßenbesetzungen und landesweite Demonstrationen auf dem Plan, unter anderem zur Unterstützung eines neuerlichen Arbeitskampfes bei Kraft-Terrabusi in Folge des Todes einer Arbeiterin durch unzureichende medizinische Versorgung im Betrieb ( http://www.pts.org.ar/spip.php?article16067 (Spanisch)) sowie zur Unterstützung der Kampagne für das Recht auf Abtreibung, welches es in Argentinien immer noch nicht gibt. Dies zeigt auch, dass der Anspruch der Bildungsproteste mittlerweile weit über die reine Forderung nach mehr Geld hinausgekommen ist und sich auch auf anderen Gebieten der Kirchner-Regierung in den Weg stellt.

von Stefan Schneider, Revolutionäre Internationalistische Organisation (RIO),  http://www.revolution.de.com

Verfolge die argentinischen Bildungsproteste auf  http://www.tvpts.tv/estudiantesenlucha (Spanisch)
Creative Commons-Lizenzvertrag Dieser Inhalt ist unter einer
Creative Commons-Lizenz lizenziert.
Indymedia ist eine Veröffentlichungsplattform, auf der jede und jeder selbstverfasste Berichte publizieren kann. Eine Überprüfung der Inhalte und eine redaktionelle Bearbeitung der Beiträge finden nicht statt. Bei Anregungen und Fragen zu diesem Artikel wenden sie sich bitte direkt an die Verfasserin oder den Verfasser.
(Moderationskriterien von Indymedia Deutschland)

Ergänzungen

revolution.de.com contra Aufstand?

? 22.09.2010 - 16:13
Man sollte nicht vergessen, daß Trotzkisten und andere ML-Gruppen damals 2001 bei der Niederschlagung der Aufstände und der Asamblea-Bewegung einen wichtigen Part innehatten. Die Studentenproteste jetzt sind wohl nur ein gezieltes Luft-Ablassen, völlig ungefährlich für den status quo.

Niederschlagung?

Trotzkist 22.09.2010 - 17:26
Ein ganz schön heftiger Vorwurf – gerade angesichts der Tatsache, dass einige Mitglieder trotzkistischer Gruppen bei den Aufständen von 2001 und 2002 ermordet wurden. Willst du das irgendwie belegen?

@?

Entdinglichung 22.09.2010 - 17:38
hast du irgendeinen Beleg für deine These ... Fakt ist, dass sich gerade ein Teil der "nicht-ideologischen" und "undogmatischen" Piquetero-Organisation oder parteiungebundenen Gruppen wie Barrios de Pie nach 2001 mit Staatsknete haben ködern und domestizieren lassen oder sich sogar in Kirchners "Frente para la Victoria" eingliedern durften ... zugegebenermassen ist das sektiererische Herumgehacke mancher argentinischer K- und T-Gruppen (z.B. der PO oder der PCR/PVP) sehr problematisch und z.T. total kontraproduktiv aber da mit Pauschalvorwürfen zu kommen ist unangebracht ... ansonsten weitere Bilder und Berichte von den derzeitigen Protesten hier:  http://anred.org/article.php3?id_article=3706 &  http://anred.org/rubrique.php3?id_rubrique=25

Meeting in Brazil

Wicky 24.09.2010 - 15:21
ANEL (national autonomous student organisation in Brazil) will have national meeting next week!

Who can help to translate important texts on the "Global Wave" into Portuguese?
The meeting will be a great opportunity to get ANEL on board for the "Global Wave" ~

Contact:  http://emancipating-education-for-all.org

zahlendreher oder keine ahnung von argentina?

checker 26.09.2010 - 23:02
"Diese Demonstration war letztlich mit fast 30000 TeilnehmerInnen allein in Buenos Aires und weiteren Demonstrationen im ganzen Land der größte soziale Protest in Argentinien seit Jahren"

30.000 (in worten dreißig-tausend) in buenos aires nennt ihr den größten sozialen protest in argentinien seit jahren? seit wieviel jahren? vierteljahren? zwölftel-jahren?

30.000 ist für buenos aires nicht sooo derbe viel, sorry das sagen zu müssen, aber da kommt n haufen mehr leute zu demos etc. als hier, gerade in buenos aires...
30.000 wär für ne provinz-metropole groß, aber für buenos aires stemmen das in guten zeiten die studis alleine. auch die verbindung studis und arbeitnehmende ist keine neue sache, sondern dort schon seit jahren usus. siehe alleine die proteste letzten jahres zu terrabusi, an der studierende großen anteil hatten.

Beiträge die keine inhaltliche Ergänzung darstellen

Verstecke den folgenden Kommentar

Revolution heißt Aufstand! (und noch mehr)

BeobachterIn 22.09.2010 - 17:46
@? Das auch Gruppen, die sich trotzkistisch nennen nicht vor Fehlern gefeit sind, dürfte klar sein. Dass solche Kräfte allerdings eine reaktionäre Niederschlagung eines Aufstands befürworten, wäre dann doch ein krasser Bruch mit trotzkistischen Grundsätzen. Kannst du da vielleicht ein konkreteres Beispiel geben, was du meinst?
Die Leute von revolution.de.com haben das ganz sicher nicht verteidigt (das Gegenteil dürfte der Fall sein).

Was aber wichtiger ist:
Die StudentInnenproteste könnten tatsächlich in nichts als heißer Luft enden. Der Artikel beschreibt aber gerade, die Entwicklung hin zu einer relevanten Bewegung. Wenn die Studis tatsächlich Unterstüztung von ArbeiterInnen bekommen, steigt ihre Schlagkraft um ein Vielfaches.