Die Macht von Banken

Wolf Wetzel 18.08.2010 18:13 Themen: Blogwire Globalisierung Soziale Kämpfe
Wenn zur Blockade von Banken aufgerufen wird, hat man es nicht nur mit der Polizei zu tun, sondern mit einem Sack voller Bedenken, Zweifel und Vorbehalte. Die guten Gründen sind einfach zu benennen: Nirgendwo anders liegen Überschneidungen zwischen antisemitischen Stereotype, antisemitischen Verschwörungstheorien und antikapitalistischer Kritik – auf den ersten Blick - so nahe, wie beim Thema ›Banken‹ und ›Finanzkapital‹. Vermeidet man antisemitische Ausdeutungen, wenn man sich der Bedeutung des Finanzsektors nicht stellt, sie nicht wahrnimmt?
Über die Mächtigkeit von Banken … in der Wirklichkeit und im Antisemitismus

Wenn zur Blockade von Banken aufgerufen wird, hat man es nicht nur mit der Polizei zu tun, sondern mit einem Sack voller Bedenken, Zweifel und Vorbehalte. Die guten Gründen sind einfach zu benennen: Nirgendwo anders liegen Überschneidungen zwischen antisemitischen Stereotype, antisemitischen Verschwörungstheorien und antikapitalistischer Kritik – auf den ersten Blick - so nahe, wie beim Thema ›Banken‹ und ›Finanzkapital‹. Vermeidet man antisemitische Ausdeutungen, wenn man sich der Bedeutung des Finanzsektors nicht stellt, sie nicht wahrnimmt?

Wenn man den Finanzsektor in Mittelpunkt einer Kampagne stellt, handelt man sich also schnell den Vorwurf ›verkürzter Kapitalismuskritik‹ ein, womit nichts anderes als der Vorwurf im Raum steht, man bediene antisemitische Stereotype wie die vom ›Spekulanten‹ oder dem ›bösen‹ Finanzkapital.
Dem schließen sich sofort weitere ungeklärte Fragen an: Wer hat diese Krise verursacht? Welche Rolle spielt der Finanzsektor beim Zustandekommen der größten Wirtschaftskrise nach dem Zweiten Weltkrieg? Wer verkürzt wen und was?
Vorausgesetzt, man ist sich einig, dass die Antwort: ›Der Kapitalismus ist an allem schuld‹ zu wenig ist, wird man sich auf die Suche begeben müssen, was sich innerhalb des Kapitalismus in den letzten 20 Jahren verändert hat, welche ökonomischen, politischen und gesellschaftliche Machtverschiebungen stattgefunden haben, die erklären helfen, was fast zum weltweiten Kollaps des Kapitalismus geführt hätte.

Mit diesem Beitrag soll eine Debatte eröffnet werden, in der Hoffnung, das man aufhört, darüber zu reden, was der/die andere gemeint haben könnte, was man ihm/ihr unterstellt, mit dem Ziel darüber zu streiten, was die politisch unterschiedlichen Akteure tatsächlich gesagt haben bzw. dazu sagen werden.

Die Krise hat Gesichter und Namen – Personalisierungsfragen
Auf dem Aktionsfeld ›Banken‹ trifft man automatisch viele prominente Gesichter, wie Josef Ackermann, wie den Präsident des Instituts für Wirtschaftsforschung, Hans-Werner Sinn usw.
Wenn man ihre Bedeutung in Erinnerung ruft, bedeutet das nicht, dass die Krise dadurch bewältigt ist, indem man z.B. Josef Ackermann festnimmt (wie dies der Bundespräsidenten-Kandidat der Linken Peter Sodann machen wollte) und in den Knast steckt. Genauso falsch wäre es zu glauben, diese ›Reizfiguren‹ hätten persönliche Fehler gemacht. Im Gegenteil: In den aller meisten Fällen darf man davon ausgehen, dass sie alles richtig gemacht haben. Sie wissen um die Spielregeln, sie legen sie mit fest, sie wissen, dass sie in der Regel zu ihren Gunsten ausgelegt werden und wenn sie kriminell sind (wie bei den zahlreich aufgedeckten Bestechungs- und Korruptionsverfahren, Steuerhinterziehungsaktionen), können sie sich sicher sein, dass die Strafe (in aller Regel eine Einstellung gegen Bezahlung einer piepsigen Geldsumme) einer Belobigung gleichkommt. Dass Banken und ihre Führungsetagen also Milliarden an Euros ihrer eigenen Bank und ihrer Kunden aufs Spiel setzen (und dabei verlieren) hat nichts mit dem gewissenlosen Charakter der Akteure zu tun, sondern mit einem äußerst kalkulierten Vorgehen, das dieses Risiko ermöglicht, erwartet und ggf. risiko- und haftungslos verstaatlichen und jetzt sozialisieren wird.

Spekulationen über verkürzte Kapitalismuskritik
Wer einen Aufruf macht, eine Bank, mehrere Banken zu blockieren, muss sich mit dem Vorwurf auseinandersetzen, dass damit gemeint sein könnte, dass an der größten Krise des Kapitalismus nach 1945 ›die Spekulanten‹ schuld seien. Damit nähere man sich auf gefährliche Weise dem nationalsozialistischen Weltbild, antisemitischen Verschwörungstheorien. In diesen gibt es den Topus des ›reichen/jüdischen Spekulanten‹, das ›raffende Kapital‹, das das ehrbare, schaffende, arische Kapital in Grund und Boden richtet. Unschwer zu erkennen ist, dass der Spekulant im Antisemitismus eine ethnische, eine rassistische Größe ist, das Gegenbild zum ehrbaren, rechtschaffenen deutschen Volk. Hinter dem antisemitischen Topus des Spekulanten verbirgt sich also weder eine (Deutsche) Bank, noch ein kapitalistisches Wirtschaftssystem, sondern der heimat- und vaterlandslose Jude. Weder in der Ideologie, noch in der Praxis des Antisemitismus ging es, geht es darum, die Macht der Banken, des Finanzsektors anzutasten oder gar zu brechen. Ganz im Gegenteil: »Sie haben an der Zerstörung der Weimarer Demokratie aktiv mitgewirkt und dann Hitlers Rüstungs- und Kriegspolitik unterstützt. Sie haben den Bau von Auschwitz vorfinanziert, an Zwangsarbeit, an der ›Arisierung‹ jüdischen Eigentums, am Auschwitz-Gas Zyklon B, an den Bomben und Granaten nahezu aller Kriege, an den Eroberungen der Deutschen Wehrmacht und der Wiederaufrüstung der Regierung Adenauer kräftig profitiert.« (Bündnis gegen Bankenmacht - Was es will, was es könnte! 2000, Prof. Hans See, seit 2005 Herausgeber der Vierteljahreszeitschrift ›BIG Business Crime‹)
Wer also behauptet, die Kritik am Finanzsektor, die Forderung nach Verstaatlichung bis hin zur Zerschlagung von systemischen Banken bediene antisemitische Ressentiments, bekämpft nicht den Antisemitismus, sondern fällt auf seine antikapitalistische Rhetorik herein.

Im Antikapitalismus geht es darum, die Macht (auch) von Banken über Menschen und Leben zu verfügen, zu brechen – ganz egal, mit welcher Hautfarbe diese Kapitalverbrechen begangen, mit welcher Ideologie sie verkleidet, in welche Ethik sie verpackt werden.

Die Unterscheidung in ›gutes‹ und ›böses‹ Kapital ist also im besten Fall dumm, im schlechtesten Fall antisemitisch.
Wer mit Staatsanleihen, Rohstoffen oder Aktien spekuliert, handelt nicht weniger moralisch oder ethisch als jene, die ihren Profit aus der Verwertung und Vernutzung von Menschen ziehen. Weder Moral, noch Ethik bestimmen dieses Wirtschaftssystem, sondern die Aussicht auf Gewinn. Das ist die einzige Maxime, die zählt.
Zweifellos spielen ›systemrelevanten‹ Banken eine herausragende Rolle beim Zustandekommen der derzeitigen Krise wie bei der Abwälzung der Krise nach unten (Entlassung von MitarbeiterInnen, Beraterstäbe bei den zahlreichen ›Rettungsschirmen‹, Erarbeitung und Umsetzung von Verarmungsprogrammen). Ihre Rolle und Bedeutung in den Mittelpunkt zu stellen, heißt also nicht, zu vergessen, dass die jeweiligen Regierungen alles getan haben (wie zum Beispiel durch die zahlreichen ›Finanzmarktreformen‹), damit die Finanzinstitute in diesem Finanzkrieg freie Hand haben.
Außerdem trägt der Aktionsaufruf dem besonderen Umstand Rechnung, dass manche Banken mehr als eine privatkapitalistische Bank sind, die bei verlustreichen Geschäften pleite geht. Im Mittelpunkt stehen ›systemrelevante‹ Banken. Diese Bedeutung haben sie nicht, weil besondern fiese Chefs diese Geschäfte führen. Ihr Systemrelevanz bekommen sie aufgrund struktureller Bedingungen: Große Banken wie die Hypo Real Estate, die Commerzbank oder die Deutsche Bank handeln mit einer Quasi-Staatsgarantie, sie üben ein hoheitsstaatliches Monopol aus, indem sie die ›Liquidität‹ dieses Systems garantieren sollen. Diese Unentbehrlichkeit mündet bekanntlich in die einzige kostenlose Lebensversicherung: ›To big to fail‹ (Zu groß, um zu stürzen). Sie können viele ruinieren – nur nicht sich selbst.

Banken – die Rattenlinie der kriminellen Ökonomie
Die zahlreichen Steuerhinterziehungsskandale, der Medienrummel um aufgekaufte CD’s mit Bankdaten von potenziellen Steuerhinterziehern machten in den letzten Monaten und Jahren immer wieder Schlagzeilen. Ab und an musste auch ein Prominenter dran glauben: wie der ›Bäderkönig‹ Eduard Zwick oder der Ex-Post-Chef Zumwinkel. Das ist gut fürs Image – gegen die weit verbreitete Ansicht: die Kleinen hängt man, die Großen lässt man laufen. Letzteres ist Gang und Gäbe – in großem Stil.
Ganz still wird es hingegen, wenn es um die Frage geht: Wer besorgt dieses filigrane Geschäft? Wie kommen die Milliarden ins Ausland, auf Konten von Banken, Stiftungen und Treuhandgesellschaften? Nur noch im ›Tatort‹ oder bei der hessischen CDU (auf einer Raststätte) wird das Geld im Koffer über die Grenze geschafft oder an einen Mittelsmann an einer dunklen Straßenecke übergeben. Im wirklichen Leben besorgen das Banken, diskret, professionell und durch besonders geschultes Personal.
Dieses illegale Tunnelsystem, durch das Milliarden von Euros ins Ausland geschleust werden, ist nicht nur hochkomplex, es ist auch vielseitig verwendbar. Es hat Dual-Use-Charakter: Es werden eben nicht nur vermögende Privatpersonen durch diese Pipelines gelotst, sie sind ein Abfallprodukt einer ganz anderen Form von organisiertem Verbrechen, eines kriminellen Systems, das staatstragende, staatsaffine Aufgaben erfüllt.
Wenn zum Beispiel der Siemenskonzern, der zweifellos eine systemische Größe im ökonomischen und politischen Sinne darstellt, Milliarden spurlos ins Ausland transferiert, dann geht es nur ganz beiläufig, geradezu unbeabsichtigt um Steuerhinterziehung. Der eigentliche, wesentliche Grund sind außerbilanzielle Geschäftsaktivitäten. Wenn Siemens Regierungen kaufen, durch Bestechungen Milliarden-Aufträge akquirieren, dann lässt sich das schlecht im Geschäftsbericht einpreisen und deklarieren. Man braucht also illegale Kassen, aus denen man diese Operationen finanziert. Geld, das keine nachweisbare Herkunft vorweist, Geld, das nicht zurückverfolgbar ist, Geld, das es nicht gibt.
Gewöhnlich benutzt man dafür seine Hausbank, die ihre ganze Kompetenz einbringt, Geld spurlos ins Ausland zu transferieren, um von dort aus besagte Wirtschaftskriminalität in die Wege zu leiten.
Wenn die CDU illegale Spenden von Großfirmen und Millionären in einer Stiftung in Liechtenstein ›waschen‹ lässt, dann braucht sie dafür eine verschwiegene Bank. Mit deren Hilfe wurde die ›Stiftung Zaunkönig‹ gegründet, deren einziges Ziel es war, die Sponsoren aus Industrie und Politik zu anonymisieren. ›Kriegskasse‹ nannten sie es, mit dem Ziel, einen schmutzigen und rassistischen Wahlkampf in Hessen (1999) zu finanzieren, den man ohne diese anonymen Financiers nicht zu gewinnen glaubte.
Aber auch staatliche Institutionen bedienen sich dieses Tunnelsystems: Wenn der Bundesnachrichtendienst/BND den Auftrag von Regierungs- und Oppositionsparteien bekommt, das rätedemokratische Modell der ›Volksmacht‹ im Zuge der ›Nelkenrevolution‹ in Portugal 1974 mit allen Mitteln zu bekämpfen, dann schickt der BND keinen Kofferträger mit 30 Millionen Mark los, um ihn konterrevolutionären Kräften an einem dunklen Ort in Lissabon zu übergeben. Selbstverständlich verfügt auch der BDN über getarnte Auslandskonten, die denselben Weg der Anonymisierung gehen wie den der schlagzeilenträchtigen Steuerhinterzieher.

Wer glaubt, dass es sich dabei um kleine, ökonomisch vernachlässigbare Größenordungen handelt, der täuscht sich gewaltig: »Der deutsche Staat wird durch Steuerhinterziehung jährlich um schätzungsweise 100 Milliarden Euro betrogen. Dies sagte Finanzminister Peer Steinbrück am Donnerstag im Bundestag in der Debatte über das neue Gesetz gegen Steuerflucht.« Basler Zeitung vom 7.5.2009
Die Macht des Finanzsektors – wer regiert wen?
Hinter dem Wort ›Systemrelevanz‹ von großen Banken verbirgt sich keine Übertreibung, sondern ökonomische Macht. Die HypoReal Estate z.B. hatte in ihren Geschäftsbilanzen ›toxische‹, also wertlos gewordene Papiere in der Größenordnung eines fast kompletten Bundeshaushaltes : »Die Hypo Real Estate ist (…) dabei, toxische Wertpapiere und ganze Unternehmensbereiche im Volumen von bis zu 210 Milliarden Euro in eine große ›Bad Bank‹ auszugliedern und sich damit von diesen Risiken zu trennen.« (FR vom 20.7.2010)
Wäre dieser Verlust realisiert worden, die Bank also Pleite gegangen, hätte in der Tat die Gefahr einer ›systemischen‹ Kettenreaktion bestanden, die den gesamten Finanzsektor zur Erliegen gebracht hätte. Im Sinne der Systemerhaltung musste also diese Bank ›gerettet‹ werden, indem der Staat durch ihre Verstaatlichung und Gründung einer ›Bad Bank‹ für diese Verluste aufkam. ›Too big to fail‹, zu groß, zu mächtig, um zu fallen, nennt man dieses Prinzip in der Business Class. Anders formuliert: Eine so große Bank kann selbst angesichts ihres drohenden Unterganges als Erpresser auftreten und überleben. Welche Macht hat also eine ähnlich bedeutsame Bank (z.B. die Deutsche Bank) im Normalbetrieb, wenn es ihr gut geht? Sie kann und betreibt Wirtschaftspolitik, in der Regierung, mit der Regierung, außerhalb der Regierung: Wenn ein großer Kredit eines Automobilkonzernes refinanziert werden soll, dann stellt diese Bank Bedingungen: zum Beispiel (mehr) Entlassungen, Senkung der Lohnstückkosten usw. und diktiert damit direkt die Arbeitsbedingungen der Lohnabhängigen.
Wenn der Deutsche Bank Chef Josef Ackermann nach Athen fliegt, um sich dort als Architekt der Verarmungsprogramme vorzustellen, dann macht er das im Auftrag der deutschen Bundesregierung bzw. der EU.
Wenn die seit Jahren geforderten und verkündeten ›Regulierungen‹ im Finanzsektor in allen wesentlichen Punkten scheitern, dann liegt das nicht nur am fehlenden Willen der Bundesregierung, sondern vor allem an der Macht der Banken, die letztendlich ihre Regulierung selbst bestimmen. Von daher kann man der lapidaren Feststellung des Filmemachers Hubert Seipel (Regisseur des Portraits ›Die Welt des Josef Ackermann‹) nur zustimmen, wenn er mit Blick auf die gegenwärtige Bundeskanzlerin feststellt: ›Sie dachte, sie sei an der Macht, dabei ist sie nur an der Regierung.‹
Nichts anders sagt einer der es wissen muss, CSU-Chef Horst Seehofer: »Bei vielen Menschen herrscht der Eindruck, dass diejenigen, die gewählt werden, keine Macht haben, und diejenigen, die Macht haben, werden nicht gewählt.«

Unverkürzte Wege zu weit entfernten Zielen
Die gut gepflegte Schimäre von den skrupellosen Bankern (selbstverständlich sind damit die ›schwarzen Schafe‹ gemeint – zum Schutz der Herde) und der dadurch in Mitleidenschaft gezogenen ›Realwirtschaft‹ hat in vielen gängigen Wirtschaftskommentaren Hochkonjunktur. Diese Unterscheidung ist nicht nur irreführend, sie ist vor allem total falsch. Banken fungieren heute mehr denn je als zentrales Ketten- und Steuerungsglied zwischen ›Privatwirtschaft‹ und ›Staatsaufgaben‹. Sie sind überall engagiert und involviert: als Herausgeber und Dealer von ›riskanten Finanzprodukten‹ genau so, wie als Großaktionäre von Konzernen. Banken gehören heute selbstverständlich zu den politischen ›Beraterstäben‹ jedweder Regierung, wobei die Frage, wer wen regiert durchaus gestellt werden kann.
Diese systemische Aufgabe und Rolle der Banken steht im Mittelpunkt, ein Weg, der folglich nicht bei der Bank aufhört, sondern von dort aus weitergegangen werden kann und soll.
Antonio Negri: »Der Gegner heute ist das Kapital in Gestalt des Finanzkapitals; das sogenannte Realkapital, das Kapital, das ›Profit hervorbringt‹, ist darin ebenso vollständig absorbiert wie die verschiedenen anderen Gestalten des Kapitals, die Grundrente, das zinstragende Kapital etc. Das Finanzkapital selbst ist produktives Kapital. Von daher ist es idiotisch, das Finanzkapital als eine ›ungesunde‹ Form des Kapitalismus anzugreifen. Das Finanzkapital heute repräsentiert den wahren Ausbeuter, es steht im Zentrum des sozialen Verhältnisses, in dem sich alle Formen der Ausbeutung, der Verwertung des Lebens verdichten.« (Der marxistische Philosoph Antonio Negri über verfehlte Kritik und neue Bedingungen der Ausbeutung, TAZ vom 9.5.2010)

Der Finanzsektor – ein Verursacher der Krise?!
Die Kampagne gegen den Finanzsektor stellt bewusst die Groß-Banken in den Mittelpunkt der Aktionen. Bekanntlich ist im antisemitischen Weltbild das ›raffende‹, also das Finanzkapital Quelle allen Übels, mit dem klar formulierten Ziel, den Kapitalismus gegen seine angeblichen ›Auswüchse‹ zu retten.
Welche Bedeutung hat der Finanzsektor tatsächlich? Was hat das Wissen und die Analyse von der systemischen Bedeutung des Finanzsektors mit seiner antisemitischen Ausdeutung zu tun? Vermeidet man die antisemitische Ausdeutung, wenn man sich der Bedeutung des Finanzsektors nicht stellt, sie nicht wahrnimmt?
Man darf davon ausgehen, dass die Commerzbank eher an einer Untertreibung, als an einer Übertreibung der Krisenkosten interessiert ist. Wenn man dies mitberücksichtigt, ist das Ergebnis der Studie aus dem Jahr 2009 mehr als überraschend: »Die Finanzkrise wird die Weltwirtschaft laut einer Studie bis Ende dieses Jahres rund 10,5 Billionen Dollar (7,3 Billionen Euro) kosten. Das ergab eine Berechnung von Commerzbank Research, wie die Tageszeitung ›Die Welt‹ berichtet. ›Wir haben uns in der Finanzkrise zwar an hohe Summen gewöhnt, aber dieser Betrag ist einfach unglaublich‹, sagte Jörg Krämer, Chefvolkswirt der Bank, dem Blatt. Je Erdenbewohner belaufen sich die Kosten damit auf etwas mehr als 1500 Dollar.
Rund 1,6 Billionen Dollar Verlust entstanden demnach bei Banken durch Abschreibungen und Pleiten. Die Commerzbank-Forscher stützen sich hier auf Zahlen des Nachrichtenanbieters Bloomberg. Die Wertverluste an Wohnimmobilien in den USA und England, die besonders von der Immobilienkrise heimgesucht wurden, lagen laut Notenbanken und einer Schätzung der Commerzbank insgesamt bei 4,65 Billionen. Der aus der Finanzkrise folgende Einbruch der Weltwirtschaft kostete in den beiden vergangenen Jahren zudem rund 4,2 Billionen Dollar.
Die Commerzbank-Volkswirte unterstellten dabei, dass die Weltwirtschaft ohne die Krise so stark gewachsen wäre wie im Durchschnitt der vorherigen Jahre. Tatsächlich war das Wachstum 2008 aber deutlich niedriger: 2009 dürfte die Weltwirtschaft erstmals seit 60 Jahren wieder schrumpfen. So errechnet sich der Gesamtverlust.
Die Commerzbank hat auch die Zahlen für Deutschland errechnet: Demnach gehen der hiesigen Volkswirtschaft 237 Mrd. Dollar verloren: Auf 104 Mrd. belaufen sich die Abschreibungen deutscher Banken. Das niedrigere Wirtschaftswachstum 2008 und 2009 wird 133 Mrd. Dollar an Bruttoinlandsprodukt (BIP 2008: rund 3600 Mrd. Dollar) kosten, wie die Commerzbank prognostiziert. ›Die Einkommensverluste, die wir am BIP messen, sind viel stärker als in normalen Krisen‹, sagt Krämer. Die Kosten der Finanzkrise dürften in Zukunft noch steigen: Denn in der Rechnung nicht enthalten ist etwa das gedämpfte Weltwirtschaftswachstum für die kommenden Jahre, das Experten infolge der Krise erwarten. Außerdem werden viele Geldhäuser noch weitere Wertberichtigungen vornehmen müssen. Der Internationale Währungsfonds rechnet damit, dass die Banken bis Ende 2010 schlimmstenfalls insgesamt bis zu vier Billionen Dollar abschreiben müssen.«  http://www.handelsblatt.com/politik/oekonomie vom 29.8.2009

Angesichts dieser unvorstellbaren Summen fällt es selbstverständlich schwer, ihnen eine politische Größe zu geben. Eine vage Vorstellung davon bekommt man, wenn man sich diesen Vergleich vor Augen hält:
»Allein in 13 europäischen Staaten gibt es Banken, deren Bilanzvolumen das Bruttoinlandsprodukt übersteigt.« (Gerhard P. Hofmann, Vorstandsmitglied im Bundesverband der Deutschen Volks- und Raiffeisenbanken, FAZ vom 18.8.2010)

Wenn man also festhält, dass Banken mit einem Geschäftsvolumen von nationalen Regierungen eine entscheidende Bedeutung für die gegenwärtige Wirtschaftskrise (und ihre Sozialisierung) haben, dann bedient man damit keine antisemitischen Weltbilder, sondern stellt sich zu aller erst der Wirklichkeit kapitalistischer Verhältnisse.

(Groß-)Banken – Verlierer und Profiteure des Finanzkrieges zugleich
Zu Recht fragt man sich, wie das möglich ist. Im normalen kapitalistischen Alltag ist man entweder Verlierer oder Gewinner. Beides zugleich geht – für gewöhnlich – nicht. Wie kann man also ruinöse Geschäfte in der Größenordnung von mehreren Staatsbankrotts betreiben und gleichzeitig weitermachen wie bisher? Das Geheimnis ist schnell gelüftet: Man muss sich nur sicher sein, dass andere für die Verluste aufkommen!
Auch hier lohnt es sich, einige Legenden zu zerstören, um dieses Paradoxon zu begreifen.
Die erste Legende betrifft die von den Großbanken und Regierung unisono verbreitete Täuschung, die Finanzkrise sei ein amerikanisches Phänomen, deutsche Banken seien darin kaum involviert. Im Gegensatz zum US-amerikanischen Casino-Kapitalismus hätten sich deutsche Banken an diesen ›riskanten‹ Finanzgeschäften kaum beteiligt. Das glatte Gegenteil ist der Fall: Die Deutsche Bank gehörte zu den führenden Designern jener ›riskanten‹ Finanzmarktgeschäfte.
»Inzwischen wissen wir, dass deutsche Geldinstitute mehr als ein Fünftel des Weltvolumens problematischer oder notleidender Kredite und Wertpapiere in ihren Büchern versteckt hatten.« (Leo Müller, Bankräuber, Econ-Verlag 2010, S.99)
Viele der deutschen Banken, die Pleite gegangen sind oder mit Staatshilfe gerettet werden mussten, hatten also genau diese Finanzinnovationen in ihren Geschäftsbüchern - schließlich wollten alle an den traumhaften Renditen von 20 Prozent und mehr partizipieren.
Dementsprechend überproportional waren und sind die Verluste deutsche Großbanken im Vergleich zu anderen europäischen Banken.

Die zweite Legende betrifft die öffentlich eingeräumten Verluste dieses Finanzcrashes. Offiziell sind Verluste der (heute verstaatlichten) HypoReal Estate in Höhe von103,5 Milliarden Euro in Form von Staatsgarantien und 7,7 Milliarden Euro als Eigenkapital gedeckt. Tatsächlich beruht bereits diese unglaubliche Summe auf einem (Bilanzierungs-)Schwindel, für den Banken und Regierung verantwortlich zeichnen: »Die Hypo Real Estate ist (…) dabei, toxische Wertpapiere und ganze Unternehmensbereiche im Volumen von bis zu 210 Milliarden Euro in eine große ›Bad Bank‹ auszugliedern und sich damit von diesen Risiken zu trennen.« (FR vom 20.7.2010)
Die staatliche Bad Bank, mit dem orwellschen Namen ›FMS Wertmanagement‹, ist also nichts weiter als die fortgesetzte Verschleierung von Verlusten, ein Bilanzbetrug, den niemand verfolgen wird, solange Banken und Regierung dies in Eintracht tun.

Die dritte Legende hält sich bis heute: Einige ›verantwortungslose‹ (Groß-)Banken hätten ihr Eigenkapital und das der Kunden ›verbrannt‹, aber nicht alle. Hartnäckig wird behauptet, dass die Deutsche Bank z.B. eine solche solide Ausnahme bilde. Schließlich sei sie die einzige Großbank, die auf staatliche Hilfen verzichtet hätte. Tatsächlich wäre auch die Deutsche Bank pleite, wenn nicht (andere) Staaten in Milliardenhöhe für Verluste von Banken und Versicherungen aufgekommen wären, an denen die Deutsche Bank beteiligt war: Ohne die Staatshilfen für den US-Versicherungskonzern AIG (8,5 Milliarden US-Dollar), die deutsche Hypo Real Estate (2 Milliarden US-Dollar) und die IKB (ca. 0,5 Milliarden US-Dollar), wäre die Deutsche Bank 2008 höchst wahrscheinlich insolvent gewesen. (Harald Schumann, Journalist und Buchautor (›Die Globalisierungsfalle‹/›Der globale Countdown‹),  http://www.kontext-tv.de/node/50)

Das Verhältnis von Finanzkapital zu anderen Quellen kapitalistischer Akkumulation
Zu aller erst ist die Unterscheidung von Finanzkapital und Industriekapital eine notwendige analytische Größe, um Entwicklungen und Verschiebungen innerhalb kapitalistischer Sektoren genauer zu erfassen und einzuordnen. Diese Unterscheidung hat nichts mit einem vermeintlich ›bösen‹ Finanzkapital und einem ›guten‹ und angeblich ›produktiven‹ Kapital zu tun, sondern mit den unterschiedlichen Bedingungen, die diese Kapitalien vorfinden und nutzen.
Wenn ein Autokonzern im Durchschnitt 5 bis 10 Prozent Rendite erwirtschaftet, während Investitionen im Finanzsektors Renditen von 20 – 100 Prozent bringen, dann folgen die Kapitalströme keinem skrupellosen Instinkt, sondern wirtschaftlicher Renditelogik. Diese Verschiebung von Kapitalströmen ist nicht das Ergebnis von besondern gierigen Investoren, sondern gewolltes Ergebnis politischer Vorgaben, die über die zahlreichen so genannten Finanzmarktreformen ein klar benanntes Ziel hatte: Kapital durch ›attraktive‹ Bedingungen in die jeweiligen nationalen Standorte, in die jeweiligen Finanzmetropolen (City London, Wall Street, Frankfurt) lenken, um mit dem dort gebundenen Kapital Weltmarkt- und Weltmachtpolitik zu betreiben.
Tatsächlich trifft man diese analytische Trennung in der Unternehmenspolitik großer Konzerne kaum noch vor: Der Autokonzern Porsche z.B. hatte durch Beteiligungen an ›riskanten‹ Finanzmarktprodukten 2008 mehr Gewinne erzielt, als durch den Verkauf von Autos.


Wolf Wetzel 18.8.2010
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Ergänzungen

die Macht des Kapitals mittels seines Geldes

Peter H. 18.08.2010 - 22:35
Der Artikel ist ausgesprochen informativ und trifft den Nagel auf den Kopf!
Das übermäßige Eindreschen auf die Banken hat einen unangenehmen Beigeschmack und könnte bzw. kann auch aus der rechten Ecke kommen. Es kommt also darauf an, die Macht der Banken einerseits zu erkennen, andererseits sie aber nicht losgelöst vom kapitalistischen Ganzen zu betrachten. Genau auf einen solchen Spagat ist hinzusteuern.
Es ist zu erkennen, dass das Geld, umgewandelt in Kapital, stetig am Zirkulieren ist, so dass es zwangsläufig bei Banken sowohl Halt (Depot, Hortung, Wertsteigerung etc.)nimmt, als auch dessen Umleitestelle/Zwischenstation, (Konten) sowie Vergabeplatz (Kredite)ist. Dort führt das Geld und auch dessen umgewandeltes Kapital also hin, dort strömt es aber auch weiter und sei es in Form von Aktienpaketen der Banken bei Firmen, so dass es zu einer Verquickung von Bank, - u. Industrikapital kommt in mehr oder minder ausgeprägter Form. Mithin kommt diesen Instituten eine herausragende Rolle zu, die noch dadurch gesteigert wird, dass bedingt durch den tendenziellen Fall der Profitrate, zusehens
die Rendite in der Realwirtschaft beeinträchtigt sind,bzw. nicht oder nicht ausreichend eingesetzt werden kann, so dass zwangsläufig Kapital in den Finanzsektor hineinfließt und sich dort als Finanzkapital umsetzt. Angekoppelt daran. entwickelt sich ein fiktives Kapital bzw. dieses ist Teil des Finanzkapitals. Regelmäßig steigt jenes zu einer Blase auf, die bekanntlich irgendwann platzt. Hoffnungen zerstieben und auch der Schwindel, der jedem fiktiven Kapital anhaftet, findet so seine Grenzen, teils bei dessen Akteuren, teils bei den Sparern. Damit nicht genug, der bürgerliche Staat, als Garant auch dieses Kapitalgebahrens nebst seiner Bewegungen, springt ein und zwar mit den Geldern der Steuerzahler. Die Folge davon ist, dass Banken an Ansehen büßen, ja nicht selten regelrecht verhaßt sind.
Da nun Banken eine herausragende Rolle im Kapitalismus spielen, sind politische Aktionen gegen diese nicht nur sinnvoll, sondern regelrecht erforderlich. Bei diesen Aktionen kommt es allerdings sehr darauf an, dass sie so aufklärerisch geschehen, dass an ihnen (Banken) exemplarisch das Gesamtsystem einbezogen bzw. aufgezeigt wird, auf dass ersichtlich werde, dass Banken auch nur ein Teil des Systems sind, wenn auch in herausrragenden Position.

Presseerklärung zur Aktionskonferenz

noName 19.08.2010 - 20:15
Am 21. August 2010 wird in Frankfurt/Studierendenhaus der Johann Wolfgang Goethe-Universität zwischen 11 und 20 Uhr eine bundesweite Aktionskonferenz stattfinden. Schwerpunkt wird sein, den Aktionsaufruf der AG Georg Büchner zur Blockade einer Finanzzentrale in Frankfurt am 18. Oktober 2010 vorzustellen.

Im Mittelpunkt der Aktionskonferenz wird – nach einer Mittagpause – ein gemeinsames Plenum stehen, das das Blockade-Belagerungskonzept vorstellt, diskutiert und beschließt.

Zentrales Anliegen ist es, die bisherigen UnterstützerInnen und Trägerinnen des Aktionsaufrufes zu aktiv Beteiligten zu machen und neuen Gruppen und Organisationen die Möglichkeit zu geben, sich an der Umsetzung und Durchführung des Tag X zu beteiligen.

Im Rahmen der Aktionskonferenz wird vor der staatseigenen Kreditbank für Wiederaufbau/KfW, Palmengartenstraße 5-9, gegen 18 Uhr eine ›Blockade zur Probe‹ stattfinden. Neben der unmittelbaren Nähe zum Universitätsgelände spielt auch die besondere Bedeutung dieser staatseigenen Bank eine Rolle. Schließlich beweisen die bis heute über 10 Milliarden Euro an Verlusten in Zuge der Finanzkrise, dass neben privaten Banken auch Staatsbanken am Wettlauf nach traumhaften Renditen beteiligt waren.
 http://www.georg-buechner.org/2010/08/presseerklarung-zur-aktionskonferenz-am-21-august-2010-im-studierendenhaus-in-frankfurtmain/

Widerstand als Breitensport

oName 19.08.2010 - 23:11
ak 552, Werner Rätz
Über Zielbestimmungen und Umsetzungsmöglichkeiten von Blockadekonzepten

WABS - Widerstand als Breitensport - nannte sich eine Aktionsgruppe in Bonn Mitte der 1980er Jahre. Sie war beteiligt an mehreren Aktionen, wie z.B. der Blockade des Bundesministeriums für Wirtschaftliche Zusammenarbeit (BMZ) in Bonn am 21. Oktober 1983 im Rahmen der Großaktionen der damaligen Friedensbewegung. Ihr Name bringt auf den Punkt, um was es für die Linke, die radikale zumal, in ihren Überlegungen über Aktionsformen gehen muss: Wie kann es gelingen, Angebote zu entwickeln, die zum Mitmachen einladen, die es immer mehr Menschen ermöglichen, ihren Widersprüchen zum Bestehenden auch im praktischen Tun Ausdruck zu verleihen?

Soll es darum gehen, Menschen zum Mitmachen zu bewegen, so zielt Radikalität zuallererst darauf, sie dazu zu bringen, in ihrem praktischen Widerspruch einen Schritt weiter zu gehen als bisher. In diesem Verständnis steht die Zuspitzung von Forderungen, die Ausgefeiltheit von Texten, die unmissverständlichste Form des Widerspruchs oder die klarste Dokumentation des Bruchs mit dem System daher nicht an erster Stelle.

Die Aktionsgruppe Georg Büchner, die mit dem Vorschlag für die Blockade einer Großbank oder der Deutschen Börse am 18. Oktober gerade sehr viel Zustimmung erhält, formuliert: "Die Radikalität des Aktionsaufrufs misst sich nicht an den Forderungen, sondern an der verabredeten und umgesetzten Praxis." Es geht also nicht darum, dass wir möglichst radikal sind, sondern dass möglichst viele die Radikalität, zu der sie bereit und in der Lage sind, auch praktizieren.

Vor dem Hintergrund dieser grundsätzlichen Erwägung scheint mir ein Blick auf die aktuelle Debatte um Aktionen der globalisierungskritischen Bewegung im kommenden Herbst besonders interessant.
Das Ziel ist die Überwindung unmenschlicher Verhältnisse

Vorab, damit es keine Missverständnisse gibt: Es geht um Widerstand gegen zutiefst unmenschliche und gewaltförmige Verhältnisse. Das Ziel ist deren Überwindung und im ersten Schritt der Bruch mit ihnen und nicht, eine große Zahl von Leuten für irgendetwas zu mobilisieren. Die anderen oben genannten Aspekte von Radikalität werden also nicht gleichgültig, sie stehen lediglich nicht im Vordergrund, wenn es darum geht, die Aktionsformen zu bestimmen. Die beiden notwendigen Elemente einer solchen Entscheidung sind zwar eng miteinander verbunden, müssen aber gedanklich getrennt werden, damit klar ist, um was es jeweils geht.

Zunächst muss das politische Ziel einer Aktion bestimmt werden. Bei der Aktionsgruppe Georg Büchner heißt es: "Angesichts eines selbst erwirtschafteten Schadens von über einer Billion Euro stellt jeder Tag, an dem dieses Bankengeschäft ruht, keinen Verlust, sondern einen gesellschaftlichen Gewinn dar." Fast wortgleich hatten wir 27 Jahre früher im Aufruf für die BMZ-Blockade geschrieben: "Wir wollen durch unsere Blockade erreichen, dass im BMZ an diesem Tag nicht zur Ausbeutung und Unterdrückung der Völker der ,3. Welt` beigetragen wird."

Der politische Kern des Anliegens besteht also in der Intervention in den Alltag der kapitalistischen Praxis. Wir tun das dort, wo wir es als die Menschen, die wir sind, können. Und wir tun es so, dass wir für die Gegenseite den Schaden anrichten, zu dem wir in der Lage sind. Wir sind keine Beschäftigten im Betrieb, die streiken können, sondern BankkundInnen oder Solidaritätsbewegte. Aber auch in diesen Rollen sind wir nicht handlungsunfähig. "Im Kern geht es um einen Streik, einen gesellschaftlichen Streik, der den ,Betriebsfrieden` aufkündigt, in dem wir uns als ihren Mehrwert, als Quelle ihres Reichtums verweigern. In einer Wirtschaftsordnung, die uns nur als ,Kostenfaktoren` führt, wollen wir den Preis erhöhen." (AG Georg Büchner)

In die Umsetzung dieser politischen Zielbestimmung müssen sich nun die Aktionsformen einfügen. Angemessen und richtig ist jetzt das, was es möglichst vielen erlaubt, sich zu beteiligen. Dabei gibt es zwei Aspekte, die zusammengehören, aber gedanklich zu trennen sind: Zum einen die Frage nach subjektiven Unerfahrenheiten, Unsicherheiten, vielleicht sogar Ängsten, die man bearbeiten kann, und zum anderen, welche "objektiven", also außerhalb unseres Wollens liegenden Widersprüche und Probleme existieren.

Der erste Punkt betrifft natürlich all das, was den rein praktischen Ablauf der Aktion angeht. Manche Dinge muss man halt schlicht üben. Öffentlichkeit ist ein wichtiger Punkt: Die Beteiligten müssen sich vor der Aktion kennenlernen. Vertrauen entsteht durch Kontakt und Wissen voneinander. Reden und sich sehen ist wichtig, tatsächliches gemeinsames Agieren noch mehr. Nicht zufällig haben solche Großaktionen meist Kerne von Gruppen und Personen, die schon auf eine gemeinsame Praxis zurückblicken. 1983 waren das die Mittelamerika-Solidaritätsgruppen, für den 18. Oktober entstand eine erste Struktur aus der Erfahrung um und in Dresden in diesem Frühjahr: "Die Erfahrung, dass unterschiedliche politische Konzepte und Vorgehensweisen nicht gegeneinander stehen müssen, sondern sich über ihren gemeinsamen Kern definieren und finden, war für uns alle wohltuend und produktiv. Gleiches galt und gilt für eine politische Praxis, die nicht das eigene (favorisierte) Vorgehen durchzusetzen versucht, sondern das Gemeinsam-Mögliche. Die Intention, möglichst viele für möglichst wenig Symbolpolitik zusammenzubringen, hat uns allen aus dem Herzen gesprochen."
Es ist nichts Verwerfliches daran, das Richtige zu tun

Das muss dann verbreitert werden, möglichst viele müssen schon lange vor der Aktion mit einbezogen werden, damit vor Ort nie zu vermeidende Unsicherheiten möglichst gering gehalten werden können. Da sind lokale Treffen, Blockadetrainings, die Bildung von Bezugsgruppen sehr wichtig. Letztere dienen nicht nur der Einbettung der Einzelnen und können zusätzlich Leute integrieren, die sich spontan der Aktion anschließen, sondern stellen natürlich auch eine Grundlage dar, auf der Kommunikations- und Entscheidungsstrukturen in der Aktion möglich sind. Zwar sollte das alles nicht verabsolutiert werden (wo es bestehende Gruppenstrukturen gibt, muss man sie nicht durch Bezugsgruppen verdoppeln), aber die Wirkung von Ritualen darf auch nicht unterschätzt werden. Sie geben Vertrauen untereinander und Sicherheit nach außen.

Für letzteres ist auch die Öffentlichkeit der gesamten Vorbereitung von eminenter Bedeutung. Unsere Sprechposition ist die, dass wir absolut im Recht sind. Wir tun, was gesellschaftlich und politisch notwendig und richtig ist. Da ist nichts Anrüchiges oder gar Verwerfliches dran, nichts, für das man sich schämen müsste, und ohne jede falsche Bescheidenheit dokumentieren wir diesen Anspruch auch öffentlich. Damit unterscheide ich deutlich von einer Begründung für die Öffentlichkeit des Zivilen Ungehorsam, wie sie manchmal aus gewaltfreien Zusammenhängen geäußert wird. Da geht es darum, dass man zu den juristischen Konsequenzen des eigenen Handelns stehen müsse, wenn man Gesetze bricht. Wer das für sich so sieht, mag es so halten; ich selbst finde nichts Verwerfliches dabei, wenn AktivistInnen versuchen, die juristischen Konsequenzen eines völlig legitimen Handelns möglichst gering zu halten. Allerdings ist die Zuverlässigkeit der untereinander getroffenen Absprachen absolut vorrangig.

Um die Menschen diesbezüglich nicht zu überfordern, muss rechtzeitig geklärt werden, wer welche Risiken eingehen will und kann. Damit das offen und ohne Vorbehalte geschehen kann, ist es wichtig, keine Hürden zu errichten, die für das Erreichen des Aktionsziels nicht unvermeidlich sind. Geradezu beispielhaft hat das Block G8 für Heiligendamm formuliert: "Kündigt an, dass Ihr bei der Kampagne Block G8 mitmacht. Schon im Vorfeld des Gipfels wollen wir mit Tausenden Absichtserklärungen öffentlich Druck gegen die G8 machen", hieß es dort. Und weiter: "Bildet Gruppen vor Ort und bereitet Euch gemeinsam auf die Blockaden in Heiligendamm vor." Außerdem: "Erklärt Euch solidarisch durch die Unterzeichnung der Solidaritätserklärungen." Und schließlich: "Organisiert Veranstaltungen bei Euch vor Ort."

Da sind alle möglichen Ebenen (öffentlich selbst Verantwortung für die Aktion übernehmen, praktisch mitmachen, solidarisch unterstützen, informieren) angeboten, jedeR kann die eigene Rolle selbstständig bestimmen. Das umfasst auch, dass Teile der Bewegung, die sich an der ungehorsamen Aktion nicht beteiligen, so weit einbezogen werden sollten, dass sie nicht öffentlich auf Konfrontation gehen. Bei der BMZ-Blockade wurde das über einen Beschluss des Koordinationsausschusses der Friedensbewegung gewährleistet und auch für den 18. Oktober wird ähnliches vorbereitet.
Die Unmöglichkeit, über die Gewaltfrage nicht zu reden

Damit ist dann indirekt der letzte und immer kritischste Punkt angesprochen: die sogenannte Gewaltfrage. Wer sie stellt (oder sich stellen lässt), hat verloren, weil sie, einmal gestellt, nur noch als Grundsatzfrage diskutiert wird. Ich weiß nicht, ob das systematisch gar nicht anders möglich ist, aber real ist es genau so: Die einen verlangen "Gewaltfreiheit" und meinen völlig Unterschiedliches und Unvereinbares damit, von Legalität und Anerkennung der staatlichen Ordnung bis zu durchaus berechtigten Fragen der taktischen Klugheit in der Aktion. Die anderen verteidigen ihr Recht auf Widerstand und die Souveränität der eigenen Entscheidung. Wenn so aus der "Gewalt" oder der "Gewaltfreiheit" eine Frage des Prinzips geworden ist, gibt es keine Vermittlung mehr zwischen den Positionen. Aussagen wie "gewaltfrei oder militant, Hauptsache Widerstand" funktionieren da nicht, weil prinzipielle PazifistInnen sie natürlich nicht tragen können.

Genau deshalb ist es auch unmöglich, über die "Gewaltfrage" nicht zu reden. Die Menschen wollen wissen, auf was sie sich einlassen, was real vor Ort geplant ist. Dazu haben sie ein Recht. In der Friedensbewegung der 1980er Jahre war dieser Punkt besonders emotionalisiert, weil viele - auch Nicht-Gewaltfreie - glaubten, dass dieses Thema nur in strenger Legalität zu vermitteln sei. Die Solidaritätsgruppen befanden sich dagegen in enger Kooperation mit bewaffneten Bewegungen des Südens. Die Lösung bestand immer darin, das Gespräch ganz eng auf die konkrete Aktion und die dort zur Debatte stehenden Aktionsformen zu begrenzen. Das ist nicht ganz einfach, weil es bei allen Beteiligten Erfahrungen gibt, die zu Misstrauen Anlass geben. Die einen befürchten, vor Ort mit einer Praxis konfrontiert zu werden, die sie nicht mittragen wollen und können, die anderen haben immer wieder Entsolidarisierungen erlebt.

Im Entwurf eines Textes, der die Gemeinsamkeiten der Aktionen dieses Herbstes ausdrücken soll, schreibt die AG Georg Büchner: "Wir werden uns weder die Gewaltfrage stellen, noch vor ihr zu Kreuze kriechen." Das ist insoweit richtig, als es ausdrücken soll, dass die Grundsatzdebatte fruchtlos ist. Aber mit der zweiten Satzhälfte wird diese eben doch wieder aufgerufen. Ich kenne bisher kein erfolgreiches Beispiel, wo solche Formulierungen gelungen sind. Doch mir reicht es völlig, was da im Text ebenfalls steht: "Wir wissen um unsere Aktionsformen, was wir uns zutrauen, was wir gemeinsam verabredet haben. Unser Protest zielt auf eine politische Konfrontation."

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