Hamburg hat abgestimmt

C. Montgomery Burns 19.07.2010 03:49 Themen: Antifa Bildung Soziale Kämpfe
Die Hamburger Primarschule ist grandios gescheitert. Trotz einer Allianz von Linkspartei bis CDU war es der Masse der Bevölkerung nicht vermittelbar, in Deutschland ein Schulwesen das wenigstens in die Richtung europäischer Standard geht, zu installieren. Am Ende hat die Front aus „Volksinitiative Wir wollen lernen“, FDP, NPD und Springer-Presse gesiegt. Die Grafik der Wahlbeteiligung zeigt, dass es vor allem nicht gelungen ist, die Profiteure der Schulreform in den ärmeren Stadtteilen zu mobilisieren. Hohen Wahlbeteiligungen in wohlhabenen Stadtteilen (60,3 % in Nienstedten, 58.8 % in Blankenese) stehen niedrige Wahlbeteilungen in „sozialen Brennpunkten“ gegenüber (25,3 % in Wilhelmsburg, 12,5 % in Billbrook).  http://statistik-nord.de/fileadmin/maps/referendum_hh_2010/atlas.html
Mit einem Ergebnis von 276.304 Ja-Stimmen gegen 200.093 Nein-Stimmen hat sich die rechtspopulistische Initiative „Wir wollen lernen“ um den Blankeneser Rechtsanwalt Walter Scheuerl klar gegen längeres gemeinsames Lernen durchgesetzt. Die Vorlage der Bürgerschaft, die eine 6-jährige Primarschule enthielt, kam auf 218.065 Ja-Stimmen und 260.989 Nein-Stimmen. Die grüne Bildungssenatorin Christa Goetsch wird in der Presse zitiert mit: „Ich muss ganz unsenatorisch sagen: Es ist ein ziemlicher Scheißtag und eine bittere Enttäuschung.“  http://www.mopo.de/2010/20100719/hamburg/politik/desaster_fuer_goetsch.html So empfinden wohl auch alle Hamburgerinnen und Hamburger, denen an gerechten Bildungschancen für alle gelegen ist. Der gestrige Tag war kein guter, für diejenigen die das extrem selektive deutsche Schulsystem endlich reformieren wollten. Nachdem die Initiative „Eine Schule für alle“, die ein längeres gemeinsames Lernen bis Klasse 10 per Volksbegehren durchsetzen wollte schon im Jahr 2008 gescheitert war, zeigte sich nun, dass gegen den „Bürgerblock“ nicht mal eine Schule für alle bis Klasse 6 durchzusetzen war. Die Signalwirkung auf andere Bundesländer, insbesondere Nordrhein-Westfalen, dürfte verheerend sein.

Dennoch ist nicht alles verloren. Die Schulreform kommt, wenn auch in kastrierter Form. Die Stadtteilschulen werden künftig Haupt- und Realschulen ersetzen und zum Abitur nach Klasse 13 führen. Sitzenbleiben und Büchergeld werden abgeschafft und behinderte Kinder bekommen das Recht, eine allgemeine Schule zu besuchen. Dies konnte auch Scheuerl nicht verhindern. In Berlin hat Klaus Wowereit das Konzept der Hamburger Schulreform mit den Stadtteilschulen übernommen. Die 6-jährige Grundschule musste in Berlin nicht eingeführt werden, da sie seit 60 Jahren Realität ist. In Rheinland-Pfalz, Saarland, Schleswig-Holstein, Bremen und Mecklenburg-Vorpommern ist die Hauptschule auch bereits abgeschafft. In Sachsen, Sachsen-Anhalt, Thüringen und Brandenburg musste die Hauptschule nicht abgeschafft werden, da sie dort nie eingeführt wurde.

Das Hamburger Wahldesaster bekam im übrigen noch dadurch einen bitteren Beigeschmack, da Bürgermeister Ole von Beust relativ überraschend zurücktrat und nun durch den Law-and-Order-Freak Christoph Ahlhaus ersetzt wird. Im Falle Walter Scheuerl wird nun über Parteigründungsambitionen gemunkelt. Als hätte Hamburg den ganzen Scheiß nicht schon einmal erlebt...
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Ergänzungen

Hamburg ist ein bischen wie Italien

Alf 19.07.2010 - 11:24
Hamburg erinnert mich ein bischen an das nördliche Italien, dort wo Berlusconi und Lega Nord ihre Hochburgen haben und Mussolini bis heute als grosser Volksheld gilt. In Hamburg bekommen rechte Menschenhasser wie Schill, Scherl, Kusch etc. Mehrheiten, wichtige Naziführer wie Rieger, Worch und co leb(t)en dort unbehelligt, dubiose Abmahnanwälte und korrupte Richter bestimmen die "Rechts-Szene", Polizei und Innenverwaltung sind Teil der lokalen Mafia, Journalisten die über den Sumpf aus mafiosen Strukturen, Rechtsextremisten und korrupten Politikstrukturen berichten, müssen um ihre körperliche Unversehrtheit fürchten (Neß, Gilani, Haack, diverse FSK-Redakteure etc).

na ja

hamburgerin 19.07.2010 - 14:31
... daß die "herkunfstelite" heute bzw. gestern "gewonnen" hat, überrascht eigentlich nicht, daß immerhin über 200.000 für eine auch inhaltliche veränderung in unseren stadtteilen gestimmt hat, finde ich ein gutes zeichen,die stadtteilschulen bilden darüberhinaus eine kleine chance, irgendwann das alte elitär-selektive bildungssystem zu kippen --- wenn hier einige bemerken, daß viele event. "pro" menschen nicht zur abstimmung gegangen sind, liegt auch daran, daß sie gar nicht abstimmen durften -- leider sind auch die momentanen volksbegehren an die nationalität und nicht an der hier lebenden bevölkerung orientiert --
ansonsten zeigt es nur, wenn ich die bemerkungen der gegener der geplanten "Reform" noch mal rekapituliere( " kinder werden gezwungen, mit schwachen und schlechten in einem raum zu sein") daß die asozialität der akademiker und reichenelite eigentlich nur eine einzige konsequenz den "klassenkampf" verschärft

in dem sinne

Wahlbeteiligung

@abgestimmt 19.07.2010 - 18:42
Es ist korrekt, daß nur jene abstimmen durften, die einen deutschen Pass besitzen. Aber selbst unter diesen war die Beteiligung in sozial schwächeren Stadtteilen gering. In Wilhelmsburg wählten nicht 25% aller Menschen über 18, sondern 25% aller Wahlberechtigten. In Blankenese über 50% - bei einer geringeren Bevölkerung.

Lächerlich bürgerliche Schulreform

Ernesto Hernandez 19.07.2010 - 20:15
Die geplante Schulreform in Hamburg spiegelte nicht den Willen nach einer wahren Veränderung unseres Schulsystems hin zu mehr sozialer Gerechtigkeit wider, sondern wie immer einen faulen Kompromiss. Was hier zur Wahl stand war keine gemeinsame Schule für alle, sondern lediglich zwei Jahre länger Grundschule zusammen mit einem moderneren kapitalistischen Selektionssystem. Dafür hat die Regierung und vor allem die GAL (Grünen) die Quittung bekommen.

Es war auch kein Schritt in die richtige Richtung, sondern ein bisschen Gutes mit einigem Schlechten und ganz viel Murks und Unsicherheit. Die Quittung bekam aber vor allem auch die Partei Die Linke und die Gewerkschaften, welche übereilig und opportunistisch wie immer alle Konzepte von einer Schule für alle (was 2008 noch gefordert wurde) über Bord warfen und sich rückgratlos in die Pro-Schulreform-Propaganda einreihten.

Dazu wurde der Wahlkampf von beiden Seiten mit einer Inhaltlosigkeit bis zum geht nicht mehr geführt. Reiner Populismus, ohne viel Inhalt und mit ganz viel Halbwahrheiten. Bei der Pro-Schulrefom-Demo wussten viele Schüler_innen nicht einmal, um was es gerade geht. Sprüche wie "für eine bessere Schule" war meistens der ganze Inhalt der Kampagne.

Aber auch das spiegelt Hamburg ganz gut wider. Der Kommentar "jedes Volk erhält das was es verdient" ist angesichst eines solchen "Volksentscheid" mehr als daneben. Die Mehrheit der Bevölkerung, die Arbeiterklasse, fand in beiden Vorlagen nicht wider, was sie verdient und fordert, und das ist das Ergebnis.

@Ernesto Hernandez

Monty 19.07.2010 - 20:58
Das ist nun wirklich Unsinn.

Die Linke, die GEW und viele Einzelpersonen, die die Schulverbesserer unterstützt haben, stehen für gemeinsames Lernen bis Klasse 10. Deshalb hat Die Linke auch nicht dem "Hamburger Schulfrieden" zugestimmt. Es ist aber ja an den aktuellen Vorgängen deutlich zu sehen, wie schwer so etwas durchsetzbar ist. Jetzt ging es "nur" darum, die Primarschule zu retten. Und wieso muss ein Kompromiss immer gleich ein fauler Kompromiss sein?

Die Arbeiterklasse hat in ihrer Mehrheit beide Vorlagen gar nicht erst gelesen. Das Problem ist, dass viele Menschen in der "Unterschicht" nicht daran glauben, dass sie irgendetwas bewirken können. Deshalb war ihre Forderung auch nicht "Eine Schule für alle", für die sie 2008 hätten unterschreiben können, sondern sie haben einfach keine.

Und aus dem Hause [´solid]/SAV kann ich außer Phrasen keine Lösung für dieses Problem hören.

Eine Frage der Hegemonie

Katrin Wallkake 20.07.2010 - 09:19
Das Abstimmungsverhalten jener hamburger Bevölkerungsschichten, die gemeinhin unter dem Begriff Prekariat geführt werden, verweist auf das Dilemma einer Linken, die den Anspruch auf diskursive Interventionsfähigkeit und die Reichweite der Argumentation der eigenen Inhalte und Ziele aufgegeben hat. Denn eine studentisch und jugendkulturell geprägte Linke, die sich mit der Reproduktion ihres Milieus begnügt und Menschen, die nicht ihren kulturellen Code teilen unter den generellen Verdacht der Anhängerschaft zu Volksgemeinschaftsideologien stellt, hat den Anspruch auf gesellschaftliche Wirkungsmacht ihrer Inhalte aufgegeben. Oder gab es etwa in Hamburg eine gezielte Kampagner, die versuchte diesen armseligen Kompromiss in der Bildungspolitik an jene zu vermitteln, die es betrifft?
Wie bereits im Falle des Bildungsstreiks zeigt sich, dass die Ideologie des Neoliberalismus keineswegs in sich zusammengebrochen ist, wie in linken Zeitschriften zu lesen war, sondern unabhängig vom Verlauf der Krise von der Mehrheit der Menschen tief verinnerlicht wurde - auch und gerade von jenen, die nicht zu den Profiteuren gehören. Egal ob Bildungsstreik, Krankenversicherung, Hartz IV oder Hamburger Primarschule: die Deutungsangebote der Linken erreichen ihre Adressaten nicht.

@ Katrin Wallkake

Entdinglichung 20.07.2010 - 15:40
wobei ich davon ausgehe, dass gerade die GegnerInnenschaft vieler die Schulreförmchen ablehnender Menschen sich weniger aus neoliberaler Ideologie sondern aus ("älterer") status- und besitzverhafteter Ideologien der Bourgeoisie und der Mittelschichten speisst, die einfach Distinktionsgewinne gegenüber den ProletInnen realisieren wollen ... was bleibt ist, dass es derzeit keine Partei gibt, die in HH die rechts von der Mitte stehenden Mittelschichten mehrheitlich einbindet und eine bourgeoisie die unter einer "Führungskrise" leidet

p.s.: warum nicht einmal eine proletarische Demo durch die Nobelviertel an Alster und Elbe machen (kann mensch mit Zwischenkundgebungen vor den Konsulaten diverser Staaten verbinden, Anlässe gibt es genügend)?

Ein Fehler und zwei Bemerkungen

Soeren 20.07.2010 - 20:46
Natürlich gibt es in Sachsen-Anhalt Hauptschulen!
Außerdem wurde ja nicht gegen die Reform ansich gestimmt, nur die 6 Jährige Grundschule wurde von "Wir wollen Lernen" bekämpft.
Nirgendwo steht geschrieben, dass eine 6 Jährige Grundschule an miesen Leistungen etwas ändert oder ob dadurch die Abhängigkeit von Finanzmitteln und Bildungsgrad abgeschwächt oder geändert wird ....

verzichtbarer Artikel

AnKa 21.07.2010 - 07:30
Obwohl ich sicherlich ins Kalkül der Reformbefürworter passen würde -Migrationshintergrund, Arbeiterkind - habe ich meine Schwierigkeiten mit der Reform und auch mit dem unsachlichen Artikel. Die Reformgegnerinitiative ist sicherlich nicht rechtspopulistisch.
Problematisch an der Reform ist vor allem, dass es keine wissenschaftliche Grundlage für den Nutzen der Maßnahmen gibt. Extrem hoher organisatorischer Aufwand, sehr ideologisch geführte Debatte (auf allen Seiten) und am Ende wenig Nutzen für die Schüler. Die Maßnahmen, die erwiesenermassen die Lernleistungen von schwächeren Schülern fördern - kleine Klassenstärke, Förderunterricht und bessere Lehrerausbildung ließen sich mit einfachen umsetzen. Stattdessen wird eine emotionale Klassenkampf Debatte geführt, die am Ende einen Scherbenhaufen hinterlässt und eine Stadt spaltet. Etwas mehr politischer Professionalismus hätte uns allen mehr gebracht. Und das Klassenkampfgelabere in den einschlägigen Foren macht hoffentlich den Schreibern wenigstens gute Stimmung, ansonsten ist es nämlich unerträglich.

Hauptschulen in Sachsen-Anhalt

Monty 21.07.2010 - 11:18
Nun, es gibt in Deutschland 16 verschiedene Schulsysteme und es ist wirklich nicht leicht, dort noch durchzublicken. Es ist anscheinend so, dass in Sachsen-Anhalt "Hauptschulklassen" und "Realschulklassen" bestehen, die dann aber gemeinsam in der "Sekundarschule" unterrichtet werden.  http://www.sachsen-anhalt.de/LPSA/index.php?id=fldigdmq1vafk

direkte demokratie

knochenjochen 22.07.2010 - 02:43
es ist wie neulich in berlin mit der abstimmung über "pro reli". damals schon schrieb irgendwer in der jungle world sinngemäß, es sei erschreckend, dass mensch heutzutage bei volksentscheiden die schlechte politik der regierenden gegen noch viel beschissenere ideen aus der bevölkerung verteidigen müsse. so auch jetzt in hh. der gesetzentwurf ist nicht gold, aber das was jetzt bei rausgekommen ist, ist hinterweltlerischer kartoffelbrei. vielleicht sind volksentscheide doch keine so gute sache, wenn das "volk" so scheiße ist wie das deutsche...

Beiträge die keine inhaltliche Ergänzung darstellen

Zeige die folgenden 12 Kommentare an

Wen interessiert das Ganze? — Prekariat Familienvater

Achso — egal

Springer — Monty

@Italien — hamburg

abgestimmt — ist halt so

Front aus FDP und NPD? — Bödefeld

scheuerl/schill? — matt1109