Zwangspsychiatrie - Kontinuitäten und Brüche

Niemand ist vergessen! 20.05.2010 20:14 Themen: Antifa Soziale Kämpfe
Im Rahmen der Gedenkaktivitäten anlässlich des 10. Todestages von Dieter Eich, die am 23. Mai 2010 in Berlin-Buch ihren Höhepunkt in einerGedenkdemonstration finden werden, werden auf Indymedia in den kommenden Wochen Texte rund um den Nazimord und den politischen Kontext des Mordes veröffentlicht.

5. Teil der "Niemand ist vergessen"-Artikelserie.

Irren-Offensive Berlin im Werner-Fuss-Zentrum



Mit folgendem Text soll die Betrachtung jüngerer Bucher Geschichte durch die Sichtbarmachung der Geschehnisse in Buch im Nationalsozialismus, am Beispiel des heutigen Heliusklinikums, ergänzt werden. In der damaligen "III. Heil- und Pflegeanstalt" wurden unter anderem unzählige Frauen auf Grundlage des "Gesetz zur Verhütung erbkranken Nachwuchs" zwangssterilisiert. Nach Angaben der Nazis waren es bis zum diesen 1938 insgesamt 730 Frauen. Schätzungen zu folge kamen in Berlin-Buch rund 1194 Menschen durch die Hand von Ärzten und Pflegepersonal um. Wie auch die "Landstreicher_innen" und "Arbeitsscheuen" erfuhren die "Schwachsinnigen" im NS nur wenig Unterstützung aus der Zivilbevölkerung. Sie alle wurden wie die "Arbeitsscheuen" unter dem Schwarzen "Asozialen"-Winkel interniert. Die meisten von ihnen starben allerdings schon vor der Verschleppung in die KZ's auf den Siziertischen der NS-Forschungskliniken. Menschen wurden hier zu Versuchsmaterial für die Erprobung von Giftstoffen und anderen Experimenten. Die Versuche an "Schwachsinnigen" in den Kliniken waren ein wichtiger Bestandteil für die Erprobung der Gaskammern. Im Folgenden sollen Kontinuitäten und Brüche der Zwangspsychiatrie vom NS bis heute aufgezeigt werden.

Die Psychiatrie, wie wir sie heute kennen, ist im 18. Jahrhundert entstanden und gilt als ein Teilbereich der Medizin. Doch von Anbeginn übt sie politische Macht aus und ist ein Mittel zur Herrschaftsausübung. Eben aus der Anerkennung als "Wissenschaft" und ärztliche Praxis heraus ist ihr die Möglichkeit gegeben, Repression auszuüben und dies als "ärztliche Behandlung" zu verschleiern. Die Psychiatrie wendet Mittel der Gewalt an, die dem staatlichen Gewaltmonopol unterliegen oder droht mit ihnen: Menschen werden in psychiatrische Gefängnisse, genannt "psychiatrische Kliniken", eingesperrt, sie werden dort zwangs "behandelt", d.h. in der heutigen Praxis, daß sie gegen ihren Willen mit psychiatrischen Drogen vollgepumpt und auch Elektroschocks (genannt "Elektrokonvulsionstherapie") unterzogen werden. Die Psychiatrie kann darüber hinaus entmündigen lassen (Einrichtung einer "amtliche Betreuung" genannten Vormundschaft). Die Betreffenden werden damit ihrer elementaren Rechte beraubt: Entsprechend der allgemeinen Erklärung der Menschenrechte begeht die Zwangspychiatrie u.a. Freiheitsberaubung und Körperverletzung - allerdings auf Basis nationaler Gesetze. Darüber hinaus entspricht psychiatrische Zwangsbehandlung den Merkmalen von Folter, wie sie in der Antifolterkonvention der UN von 1984 beschrieben wird. Voraussetzung jeglicher psychiatrischer Zwangsmaßnahmen ist die "Diagnose". Die Unterstellung, es gäbe "Geisteskrankheiten" oder moderner ausgedrückt, "psychische Krankheiten", macht es möglich, mißliebige Menschen auszusondern. Mittels Psychiatrie können Menschen, die keine Straftat begangen haben, weggesperrt werden. PsychiaterInnen können aus jeder menschlichen Regung und sogar aus dem Schweigen einer Person eine "psychische Krankheit" herbeiphantasieren. Psychiatrisiert-Werden könnte daher jede/n treffen. Häufig passiert es, wenn jemand bei zwischenmenschlichen Konflikten innerhalb einer Gruppe (z.B. Familie) oder anläßlich sozialer Probleme (z.B. Arbeitsunwilligkeit oder -unfähigkeit) als störend empfunden und "elegant" aus dem Weg geschafft und den herrschenden Verhältnissen angepaßt werden soll. Aber auch politisch Aktive sind besonders gefährdet. So diente beispielsweise die Psychiatrie in der Sowjetunion u.a. dazu, Oppositionelle mittels "Diagnose" wegzusperren. Zu den offensichtlich politischen Skurrilitäten psychiatrischer Worterfindungskunst gehören überdies z.B. "Drapaetomania" - die Tendenz von SklavInnen, ihren Herren zu entfliehen, "Paranoia reformatoria sive politica" - der "Demokratiewahn" sowie die heute noch im "International Classification of Diseases (ICD)" genannten Krankheiten- Katalog der WHO verzeichnete "Paranoia Querulans" - Querulantenwahn. Auch Homosexualität galt sehr lange als "psychische Krankheit" und wurde erst 1973 aus dem "Diagnostic and Statistical Manual of Mental Disorders" (DSM) und erst 1992 aus dem ICD gestrichen.

Unter der Herrschaft der Nationalsozialisten gipfelte die psychiatrische Verfolgung in systematisches Massenmorden. Die von den Ärzte-Nazis vorgenommene Selektion war sowohl in den Gaskammern der Psychiatrien als auch in den Vernichtungslagern an der Rampe entscheidend. Und der "nahezu unaussprechliche Höhepunkt deutscher Psychiatriegeschichte" war, daß die Psychiater_innen sagten, sie "behandeln", wenn sie mordeten. Im Folgenden sollen entlang der Beschreibung der historischen Entwicklungen strittige Aspekte in der Gedenkpolitik und der Diskussion um die Psychiatrie als Politikum beleuchtet werden. Zum Einstieg sei an den berüchtigten "Pannwitz-Blick", den der jüdische Schriftsteller und Chemiker Primo Levi in Auschwitz gesehen hatte, erinnert. In seinem Buch "Ist das ein Mensch" beschreibt er, wie er von Herrn Pannwitz, dem Chef der chemischen Abteilung von Auschwitz "begutachtet" wird: "Als er in seiner KZ-Uniform auf der anderen Seite des Schreibtisches stand, sah Dr. Pannwitz ihn an, als blicke er auf einen Fisch im Aquarium". In diesem Blick las Primo Levi: "Dieses Dingsda vor mir gehört einer Spezies an, die auszurotten selbstverständlich zweckmäßig ist. In diesem besonderen Fall gilt es, festzustellen, ob nicht ein verwertbarer Faktor in ihm vorhanden ist." An dieser Beschreibung ist Folgendes bemerkenswert: Bei Dr. Pannwitz handelt es sich zwar nicht um einen Arzt, doch sein Blick ist der typische Blick der Psychiater und anderer Ärzte, mit dem sie ihr Gegenüber als "andersartig", "entartet", "erbkrank" und "minderwertig" zu identifizieren such(t)en. Dieser entmenschlichende Blick genügte zur Selektion in den Tod. Die Nazi-Verbrechen sind zweifellos in ihrer Qualität und Quantität einzigartig. Doch dieser Blick und die dahinter stehenden pseudo-wissenschaftlichen Ideologien sind keine Eigenheit der Nazis. Die Nazis hatten lediglich - in (bisher) einzigartiger Weise - in die Tat umgesetzt, was bereits lange vor ihrer Machtergreifung gewünscht und diskutiert wurde. Die ideologischen Wegbereiter der Nationalsozialisten sind die VertreterInnen der politischen Strömungen und angeblich wissenschaftlichen Theorien und Praktiken mit den Bezeichnungen "Sozialdarwinismus", "Eugenik" (später: "Rassenhygiene"), und "Rassenanthropologie", die gegen Ende des 19. Jahrhunderts begannen, populär zu werden. Sie alle behaupteten eine "Überzeugung von der Ungleichheit der Menschen", die darauf hinauslief, eine "Minderwertigkeit" bei biologistisch bestimmten Menschengruppen auszumachen. Biologismus läßt sich beschreiben als "Weltanschauung, nach der scheinbare oder tatsächliche biologische Merkmale von Menschen oder Ableitungen aus der Natur zur Grundlage von sozialer Organisierung und sozialem Verhalten gemacht werden". Dazu zählt auch der Antisemitismus, der sich von einer religiös bestimmten Judenfeindlichkeit zu einer biologistisch, auf "Rassenlehre" begründeten, Judenfeindlichkeit wandelte. Aufbauend auf sozialdarwinistisches Denken und den Anfängen der Genetik entstand die Eugenik. Die EugenikerInnen behaupteten, daß menschliche, soziale Eigenschaften vererbbar seien. Einer der führenden Eugeniker beschrieb die Eugenik als "die Wissenschaft von der Aufwertung der menschlichen Rasse durch verbesserte Fortpflanzung". Eugenische Maßnahmen zielten nach den Vorstellungen der Eugeniker auf die angebliche Verbesserung des Erbgutes einer Bevölkerung sowohl durch "positive Auslese", z.B. Förderung "genetisch gesunden" Nachwuchses als auch durch die "negative Auslese", der Beseitigung angeblich "minderwertigen" Erbgutes, dessen Träger entweder als "erbkrank" erachtete oder auch als "rassisch minderwertig" bzw. als "entartet" erachtete Menschen waren. Die Eugenikbewegung war international, zog sich durch alle politischen Lager und wurde von AkademikerInnen getragen. PsychiaterInnen stellten in Bezug auf die Eugenik die größte Gruppe der VertreterInnen. Der wesentliche, ideelle Beitrag der Psychiatrie zur Eugenik ist die Entwicklung der sogenannten "Degenerationslehre", der Lehre von der "Entartung" der Menschen, die sie mit ihren bisherigen Theorien über "Psychopathologie" verbanden. Beteiligt waren bedeutende Psychiater wie z.B. Eugen Bleuler, Emil Kraepelin oder Karl Bonhoeffer, die heute immer noch ein hohes Ansehen genießen. Dazu äußerte Anna Bergmann: "Das Wesentliche und gleichzeitig das politisch Gefährliche an der Entartungslehre war, daß Psychiater soziale Abweichungen als Krankheitsbild konstruierten und ihnen empirisch nachweisbare organische Qualitäten zuordneten. Der Kriminielle, die Prostituierte, der Bettler, der Alkoholiker usw. - sie alle wurden in dieser Lehre zu "Kranken" erklärt, und damit waren sie ihrer Verantwortlichkeit, ihres Verstandes bzw. ihrer Gesellschaftsfähigkeit beraubt".

Das erste Sterilisationsgesetz, welches Zwangssterilisation aus eugenischen Gründen erlaubte, wurde 1907 im US- Bundesstaat Indiana verabschiedet. Es folgten weitere US-Bundesstaaten und einige europäische Länder. Die Anzahl dieser Zwangssterilisationen war jedoch klein im Verhältnis derer, welche in Deutschland auf Grundlage des "Gesetz zur Verhütung erbkranken Nachwuchses", das bereits 5 Monate nach der Machtübernahme der Nationalsozialisten verabschiedet und am 1.1.1934 in Kraft getreten ist, durchgeführt wurden: Bis 1945 wurden um die 400 000 Menschen unter der Diagnose "erbkrank" zwangssterilisiert. Die Ausgrenzungspolitik der Nazis mittels Zwangssterilisation und Rassengesetze waren die Vorstufe zu den systematischen Massenmorden eben jener Personengruppen, die zuvor bereits ausgesondert worden waren. Es begann mit der Einrichtung sogenannter "Kinderfachabteilungen" in psychiatrischen Anstalten, in denen etwa ab Oktober 1939 mindestens 5000 Kinder und Jugendliche ermordet wurden. Ebenfalls im Herbst 1939 erließ Adolf Hitler die Ermächtigung für die sog. "Aktion T4", benannt nach der Adresse des Hauses in der Tiergartenstraße 4 in Berlin, von der aus dieses Mordprogramm koordiniert wurde, dem 120.000 Erwachsene zum Opfer fielen. In Hitlers geheimem Ermächtigungsschreiben wurden Reichsleiter Bouhler und Dr. med. Brandt beauftragt, "die Befugnisse namentlich zu bestimmender Ärzte so zu erweitern, dass nach menschlichem Ermessen unheilbar Kranken bei kritischster Beurteilung ihres Krankheitszustandes der Gnadentod gewährt werden kann". "Kinderfachabteilung", "Euthanasie", "Aktion T4", "Endlösung" und viele andere Begriffe waren Euphemismen (d.h. Beschönigungen) und Tarnbezeichnungen der Nazis. Es war keine "Heilbehandlung" und die Opfer waren auch gar nicht (unheilbar) krank. Es handelte sich weder um "Gnadentod" noch um "Euthanasie", was im eigentlichen Sinne "schöner" und selbst gewünschter und mittels "Sterbehilfe" herbeigeführter Tod bedeutet. Dennoch wird der Begriff "Euthanasie" heutzutage immer noch für den systematischen ärztlichen Massenmord von 1939 bis 1949 verwendet. Daher ist die "Verbannung der Nazi-Jargons "Euthanasie" aus dem Sprachgebrauch" in diesem Zusammenhang, als erneute Entwürdigung der Opfer und "direkte Reproduktion von Ärzte-Nazi-Ideologie, Ausdruck von Solidarität mit den Tätern und Versuch einer Vertuschung von deren Schuld" die primäre Forderung psychiatriepolitischer Organisationen.

Für die "Aktion T4" wurden sechs Mordzentren eingerichtet. Dorthin wurden die zur Ermordung ausselektierten und gemeldeten InsassInnen aus den Psychiatrien, in denen sie bisher untergebracht waren, deportiert. Einem "Gutachterausschuß" aus PsychiaterInnen oblag es dann, die Entscheidung über Leben und Tod zu fällen. Nach vorheriger Registration und medizinischer Untersuchung auf mögliche plausible Todesursachen, mit denen nachher die Angehörigen getäuscht wurden, wurden die Betreffenden in den ersten deutschen Gaskammern ermordet. Anschließend wurden Todesurkunden mit fingierten Todesursachen ausgestellt und den Verwandten zugesendet. Vermutlich weil die Mordaktionen dennoch bekannt geworden sind und sich Proteste seitens Angehöriger und der Kirchen regten, sah sich Hitler veranlaßt, das T4- Programm 1941 offiziell zu stoppen. Die "Aktion T4" war aber aus nationalsozialister Sicht ein großer Erfolg , da sie als Radikalisierung der biologistisch motivierten Ausgrenzung und erste Serie fabrikmäßigen Mordens "Modell für sämtliche NS- Vernichtungsaktionen" war. An den Psychiatrisierten wurde sowohl die "Technologie" als auch die Personalstruktur für das Mordprogramm entwickelt, welches dann zur Vernichtung von 6 Millionen Juden, von Sinti und Roma und Anderen eingesetzt wurde. Die Selbigen, welche in den Psychiatrien von "T4" "ihr Handwerk gelernt hatten, stellten auch das Personal für die Mordzentren Belzec, Sobibor und Treblinka". Der Massenmord in den psychiatrischen Anstalten wurde währendessen nach der Einstellung der "Aktion T4" dezentralisiert weitergeführt. Die InsassInnen wurden einerseits (weiterhin) durch Giftinjektionen bzw. Überdosierung von "Medikamenten" umgebracht. Die andere Hauptmethode zu morden, war systematischer Nahrungsentzug, wie Heinz Faulstich in seiner umfangreichen Forschungsarbeit "Hungersterben in der Psychiatrie 1914 - 1949" belegt. Er hat auch das Verhungernlassen nach der Befreiung von dem NS-Regime von 1945- 1949 erforscht, welches - über die bisher insgesamt schätzungsweise 275 000 in den Psychiatrien Umgebrachten (bis 1945) hinaus - mehr als 20 000 weitere Opfer produzierte. Dieser Umstand wird bis heute weitgehend in der öffentlichen Darstellung verschwiegen und Bemühungen, ihn zu thematisieren, werden unterbunden, sogar durch Institutionen wie die Gedenkstätte in Bernburg und leitende Verantwortliche der Ausstellung "Tödliche Medizin". Damit wird die Kontinuität geleugnet, daß "dieses dezentrale Morden mit denselben Mordmethoden, derselben Gruppe der Opfer und derselben Gruppe der Täter von 1945 bis 1949 genauso fortgesetzt" wurde und es wird "stattdessen behauptet, im Mordsystem sei 1945 ein Bruch gewesen". Diesen gab es nicht, die Menschen waren nach wie vor in den Anstalten eingesperrt und hatten somit keine Möglichkeit, sich ihre Nahrung selber zu beschaffen. Daher war die bewußt unterlassene Versorgung Mord. Das Verschweigen dieses Sachverhalts erweckt wiederum den Verdacht, daß "damit die Täter geschützt und die Verbrechen der Berufsgruppe der Täter nach 1949 gedeckt werden sollen".

Die deutsche Ärzteschaft und insbesondere die Psychiatrie spielten also eine zentrale Rolle für die NS- Verbrechen. Rudolf Heß, Stellvertreter von Adolf Hitler, brachte die herausragende Bedeutung der Ärzte als "Pfleger des Volkskörpers" im Jahre 1934 auf die einfache Formel: "Nationalsozialismus ist nichts anderes als angewandte Biologie". Die MedizinerInnen begrüßten die NS-Politik, "weil sie einer Ideologie entsprach, die sie (...) seit langem vertraten". So kommt Ernst Klee zur Schlußfolgerung: "Die deutsche Psychiatrie wurde von den Nazis nicht mißbraucht, sie brauchte die Nazis". Praktisch alle Ärzte, ihre Verbände sowie die medizinischen Institutionen, vorneweg die Deutsche Forschungsgemeinschaft (DFG), waren in die Verbrechen involviert. Doch die meisten der medizinischen TäterInnen wurden nach 1945 für ihre Vergehen in keinerlei Weise zur Verantwortung gezogen und konnten ihre Karrieren unbehelligt fortführen und sogar weiter ausbauen.

Auch das Gelände rund um das heutige "Helios- Klinikum Buch" ist ein geschichtsträchtiger und in Bezug auf Kontinuitäten bemerkenswerter Ort. Während die damals dort ansässige "Irrenanstalt" ein eher gewöhnlicher Ort des Mordens bzw. "Lieferant" an die T4- Mordzentren war, befand sich in unmittelbarer Nähe auch das "Kaiser-Wilhelm- Institut für Hirnforschung", welches neben dem "Kaiser-Wilhelm-Institut für Anthropologie, menschliche Erblehre und Eugenik" in Berlin-Dahlem und dem "Kaiser-Wilhelm-Institut für Genealogie und Demographie der Deutschen Forschungsanstalt für Psychiatrie" in München eines der bedeutendesten in der Weimarer Republik gegründeten eugenischen Forschungszentren war. In Buch arbeitete auch Julius Hallervorden (1882 - 1965), einer der großen Nutznießer der NS- Mordaktionen. Er war angesehener Neuropathologe und Leiter der Abteilung für Histopathologie am Kaiser-Wilhelm- Institut für Hirnforschung. Im Herbst 1940 war er in Brandenburg- Görden bei der Vergasung ausgewählter Kinder selbst anwesend, um am Tatort die Gehirne herauszuschneiden. Nach dem Krieg blickte er zurück: "Es war wunderbares Material unter diesen Gehirnen, Schwachsinnige, Mißbildungen und frühe Kinderkrankheiten". Hallervorden wurde ab 1949 Abteilungsleiter am Max-Planck-Institut für Hirnforschung in Gießen und ab 1961 in Frankfurt am Main. Zwischendurch, im Jahre 1956, erwarb er sich das "Große Verdienstkreuz". In Frankfurt wurden Hallervordens in der NS- Zeit gemachten Proben, einschließlich von Gehirnen, bis 1990 zu Forschungszwecken verwendet und erst danach auf einem Friedhof in München begraben. Die Max-Planck-Institute sind im Grunde genommen die Nachfolgeinstitute Hallervordens Arbeitsplatzes. Nach 1945 wurde das "Kaiser-Wilhelm-Institut für Anthropologie, menschliche Erblehre und Eugenik" zwar nicht weitergeführt, aber die hiesige "Abteilung für experimentelle Erbpathologie" wurde 1953 als "Max-Planck-Institut für vergleichende Erbbiologie und Erbpathologie" in die Max-Planck-Gesellschaft übernommen. 1964 entstand hieraus das "Max-Planck-Institut für molekulare Genetik". In Buch hingegen residiert heute - in Folge seiner DDR-Geschichte - das von der "Helmholtz-Gemeinschaft" geführte "Max-Delbrück-Centrum für Molekulare Medizin". Weniger als einen Kilometer entfernt, befindet sich die vierte Abteilung der Berliner forensischen Psychiatrie, in der als "psychisch krank" diagnostizierte DrogendelinquentInnen eingesperrt sind. Im Wesen der Forschungsinstitute hat sich insofern wenig geändert, als daß es offenbar nach wie vor auch um die "Untersuchung" angeblicher Erbanlagen in Bezug ihrer Auswirkungen auf menschliches Verhalten geht. Im Hirnforschungsinstitut in Frankfurt arbeitet derzeit Wolf Singer als Direktor der Abteilung Neurophysiologie, der wie sein Bremer Hirnforscher - Kollege Gerhard Roth rundweg und wie die Psychiatrie zumindest in Bezug auf angeblich "Geisteskranke", den "freien Willen" des Menschen abstreitet. Zweitens wird die alte Behauptung des Psychiaters Cesare Lombroso von 1911 wieder neu aufgestellt, es gäbe geborene Verbrecher. Diese könne man nun nicht wie Lombroso an der Schädelform, sondern, wie die modernen HirnforscherInnen meinen, per bildgebender Verfahren an der Gehirnstruktur erkennen. Wie einige Stimmen nicht nur in Deutschland fordern, läuft das in Zusammenarbeit mit der Psychiatrie in praktisch-politischer Konsequenz auf Versuche von "Früherkennung" hinaus, aufgrund der Menschen bereits im Kindes- und Jugendalter "vorbeugend behandelt" und/oder auch hinter verschlossenen Türen verwahrt werden. Bei den Nazis nannte sich die geschlossene und angeblich vorbeugende Verwahrung von Unschuldigen übrigens "Schutzhaft". Bei der "Unterbringung" nach den heutigen PsychKG ist es sowieso Gang und Gäbe.

Literatur/Quellen:

Werner-Fuss-Zentrum (Hg.): Dokumentation der Proteste rund um die "Geschichtsfälschung im Hygiene-Museum". URL: http://www.zwangspsychiatrie.de/aktuelles/hygienemuseum

Faulstich, Heinz: Hungersterben in der Psychiatrie 1914-1949. Lambertus: Freiburg im Breisgau 1998

Friedlander, Henry: Der Weg zum NS-Genozid. Von der Euthanasie zur Endlösung. Berlin Verlag: Berlin 1997

Halmi, Alice: Kontinuitäten der (Zwangs-) Psychiatrie. Eine kritische Betrachtung. Berlin 2008. Inhaltsverzeichnis und download: www.irrenoffensive.de/kontinuitaeten.htm

Klee, Ernst: "Euthanasie" im NS-Staat. Die "Vernichtung lebensunwerten Lebens".

Fischer: Frankfurt am Main 1983

Klee, Ernst: Wer Täter ehrt, mordet ihre Opfer noch einmal. Referat gehalten am 6. August 1999 am PI der Universität Hamburg. URL: www.irren-offensive.de/rede_ernstklee.htm

Werner- Fuss-Zentrum(Hg.): 8 Forderungen, wie mit der Erinnerung an die Opfer des systematischen ärztlichen Massenmordens von 1939 bis 1949 und den Tätern umgegangen werden sollte. URL: www.zwangspsychiatrie.de/geschichte/forderungen-an-das-gedenken-an-den-systematischen-arztlichen-massenmord-1939-1949


weitere Infos:



www.niemand-ist-vergessen.de




Antifa-Demo: 23. Mai 2010, 14 Uhr, S-Bhf. Buch

After-Demo-Konzert: ab 19.30 Uhr
Bunte Kuh - Bernkasteler Str.78
u.a. mit Kurzer Prozess (HipHop -Nürnberg) und Wasted Youth(Punk – Stuttgart)

Gedenken am Wohnhaus von Dieter Eich
25.Mai 2010
Treffpunkt: 17.30 Uhr, S-Bhf. Buch
Kranzniederlegung: 18.00 Uhr,
Walter-Friedrich-Straße 52


Mobivideo:



1. Mobilisierungsvideo von Leftvision auf Youtube
2. Mobilisierungsvideo von Leftvision mit einem Interview von Damion Davis auf Youtube


andere Indymediaartikel:



1. Teil der Artikelserie: "Der Mord an Dieter Eich"
2. Teil der Artikelserie: Rechte Gewalt und ein “unpolitischer Messerstoß”?
3. Teil der Artikelserie: „Asozial“ - Über die staatliche Legitimierung zu Morden
Berlin: Nachbarschafts-Mobi für Demo in Buch
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Ergänzungen

Unmittelbar nach der Demo..

Peter 21.05.2010 - 00:42
Unmittelbar nach der Demo in Berlin-Buch findet im 10 Minuten entfernten Bernau (bei Berlin) am 29. Mai ein Naziaufmarsch statt. Dieser soll verhindert werden. Informiert euch unter  http://brandenburg-nazifrei.de

Filmtip

Psychater 21.05.2010 - 02:33
Der folgende Link zeigt eine englischsprachige Doku, welche die Entstehung der Eugenik in Europa beleuchtet sowie deren Wurzeln in Leipzig... Es ist eine Alptraumhafte Reise durch die Psychatrie mit einem meiner Lieblingszitate von Dr. Jeffrey Schaler (Prof., Dept.Justice & Law American University): "They basically belive, that everyone is mentally ill" (Sie glauben grundsätzlich, dass jeder psychisch krank ist", aber wer will schon in den (inneren) Spiegel sehen (Anm. d. Bloggers))...
 http://www.youtube.com/watch?v=6qs9TLTvYFs

Erster Absatz nicht von Irren-Offensive gesch

Irren-Offensiven- Aktivistin 22.05.2010 - 22:02
Leider ist hier in dem Eintrag unseres Textes nicht ersichtlich, daß der erste Absatz nicht von der Irren-Offensive stammt. Dieser einleitende Absatz wurde von der NEA geschrieben. Unser Artikel mit dem Titel „Zwangspsychiatrie - Kontinuitäten und Brüche“ beginnt erst mit dem zweiten Absatz und den Worten: „Die Psychiatrie, wie wir sie heute kennen, ist im 18. Jahrhundert entstanden…“. Ein bißchen ärgerlich auch, weil das, was als Einleitung im ersten Satz gesagt wurde, nicht ganz stimmt…

An die mods: Wäre es möglich, obiges kenntlich zu machen?

Zusammenfassung

niv-northeast 23.05.2010 - 01:44
Hier findet sich eine Zusammenstellung bisheriger Artikel:
 https://linksunten.indymedia.org/de/node/20492

Beiträge die keine inhaltliche Ergänzung darstellen

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