Berlin: Nachbarschafts-Mobi für Demo in Buch

"Niemand ist vergessen!" 18.05.2010 02:37 Themen: Antifa
Am 14.Mai und am 17. Mai wurden im Pankower Ortsteil Buch mit einer Flyersteckaktion für die Antifa-Gedenk-Demo am kommenden Sonntag geworben.

Der Flyer, von dem rund 4000 Exemplare in Buch gesteckt und verteilt wurden, soll im folgenden dokumentiert werden.
"Niemand ist vergessen!"
In Erinnerung an den vor 10 Jahren von Neonazis ermordeten Sozialhilfeempfänger Dieter Eich

Werte Leserin, werter Leser,

10 Jahre ist es jetzt her, dass der Erwerbslose Dieter Eich in seiner Wohnung in Berlin-Buch von Neonazis ermordet wurde. In der Nacht zum 25. Mai drangen die 4 Täter, darunter Rene R., der im selben Haus wohnte, in die Wohnung des 60jährigen Sozialhilfeempfängers ein, verprügelten die¬sen und töteten ihn später mit einem Messerstich ins Herz, um ihn an einer belastenden Aussage zu hindern. Einen „Assi“ wollten sie „klatschen“, gaben sie später vor Gericht bereitwillig zu. Dieter Eich, in ihren Augen ein „Sozialschmarotzer“, der dem Staat nur auf der Tasche läge und den Volkskörper zersetze, wurde so zu ihrem Opfer. Eine zutiefst erschreckende und menschenver¬achtende Tat.
Ein Großteil der Menschen würden zustimmen, dass so etwas nicht gebilligt werden kann. Jedoch setzen sich die Meisten nicht mit der Motivation der Täter auseinander, da das negative Bild vermeintlich „Asozialer“ die gesamte Gesellschaft durchzieht.
Die ständige Predigt von der Leistungsgesellschaft hat in den letzten Jahren jeden noch halbwegs davor verschonten Bereich der Gesellschaft erfasst. Somit muss sich in allen Lebenslagen mit Leistung, (Lohn-)Arbeit und Konkurrenz auseinandergesetzt werden. Im Nacken der Arbeitenden sitzt die Angst vor Hartz4 und den einhergehenden existentiellen Niedergang in einer kapitalis-tischen Gesellschaft, die von diesen Menschen Disziplinierung, Gängelung und absolute Arbeits-willigkeit verlangt oder ihr die weitere soziale Teilhabe verwehrt. Doch auch in der Bevölkerung

findet dies Zuspruch: 72 % der Deutschen verspüren den Drang, unwillige Hartz4-BezieherIn-nen dazu zu nötigen, sich gesellschaftskonform zu betätigen und „ihren Beitrag“ im Kapitalismus zu leisten.
In diese erwerbslosen, und damit im ökonomischen Alltag auch schwierigsten Lebenslagen werden dann noch „Spätrömische Dekadenz“ und „leistungsloser Wohlstand“ hinein fantasiert. Da werden in der Presse die Klischees der faulen, dicken „Hartzis“ geschürt, die den ganzen Tag vor ihren Plasmafernsehern im Sofa sitzen, Fast-Food essen und sich DVDs angucken. Leuten, die noch eine Arbeit haben, soll vermittelt werden, dass sich Erwerbslose auf ihre Kosten den „Wanst voll schlagen“, während sie - wie es von ihnen abverlangt wird - täglich brav für einen Geringteil (Lohn) dessen, was sie erwirtschaften, schuften gehen.
Der Arbeitsethos hat eine lange Tradition, und führte in Deutschland während des dritten Reichs in die Beseitigung des „sozialen Abschaums“. In den Programmen wie „Arbeitsscheu Reich“ wurden Tausende in KZs verschleppt und später ermordet. Darunter fielen LandstreicherInnen, Obdachlose genauso wie Arbeitsunwillige. Die Mörder von Eich wähnten sich in dieser Tradition, konnten sich aber auch auf die Abneigung und Vorurteile der Gesellschaft gegenüber Erwerbslosen durchaus beziehen.
In unserer Gesellschaft steht die Arbeit eines Menschen inzwischen symbolisch für seinen Wert. Wer nicht arbeitet, der ist ein Nichts, ein Niemand. Arbeit ist unser höchstes Gut, und

deshalb leben wir für sie. Da ist es dann nicht so wichtig, ob unsere Persönlichkeit, unsere individuellen Wünsche und Träumen für einen guten Job – oder überhaupt für irgendeinen Job – auf der Strecke bleiben. Da ist es dann auch nicht so wichtig, dass unser Lohn schon längst unter dem Hartz 4 – Niveau liegt und wir uns kaum noch über Wasser halten können – Hauptsache, wir haben Arbeit, denn tiefer als in die Erwerbslosigkeit kann mensch ja kaum sinken. Oder?
Gerade diese Angst vor dem sozialen Abstieg ermöglicht es, dass Löhne in ungeahnte Tiefen fallen können, ohne dass wir etwas dagegen unternehmen…
Vielleicht ist es an der Zeit, dass wir uns dem bewusst werden und anfangen „Arbeit“ nach anderen Kriterien zu bewerten; näher am Menschen, seinen Fähigkeiten und auch seinen Bedürfnissen und weg von Profitlogik und Zwang.
Da der Berliner Norden und Nordosten nach wie vor durch seine Problematik mit Neonazis auffällt, ist es umso wichtiger hier eine Sensibilisierung zu erreichen – das Wegschauen hat niemals etwas bewirkt. Wir wollen uns gegen die Neonazis und ihre Menschenverachtung stellen, aber wir wollen auch der Leistungsgesellschaft und der Arbeitsverherrlichung eine Absage erteilen. Wir legen keinen Wert auf die Unterteilung von Erwerbslosen, in „gute“ „devote Arbeitswillige“ oder „schlechte“ „faulenzende Verweigerer“. Wir setzen beim Menschen und sein Recht auf ein würdiges Leben an, welches er selbst bestimmen kann. Wir wollen die Menschen zum Nachdenken über die Diskrepanz zwischen dem Wert von Arbeit und dem Wert eines Menschen in unserer Gesellschaft bewegen. In diesem Sinne wollen wir

Dieter Eich am 23. Mai mit einer Demonstration und am 25. Mai mit einer Kundgebung gedenken und ihn dem Vergessen entreißen und den Neonazis von damals und heute mehr als nur eine klare Absage geben. Schließen Sie sich an, gedenken Sie Dieter Eich und den anderen Opfern neonazistischer Gewalt und gewinnen sie den Mut, sich gegen Faschismus und Kapitalismus und für eine solidarische Welt einzusetzen.


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Termine


19. Mai 2010, Berlin
Informationsveranstaltung: 19.30, Informationen zur Demonstration,
anschließend Thementeil: »Asozial- arbeitsscheu - Arbeitshaus - ?«

Ort: Soziokulturelles Zentrum
»Der Alte« | Buch | Wiltbergstraße 27 (S-Bhf. Buch)
Referent: Lothar Eberhardt (AK Marginalisierte)

23. Mai 2010, Berlin
Demo: 14.00 Uhr, S-Bhf. Buch

25.Mai 2010, Berlin
Gedenken am Wohnhaus von Dieter Eich
Treffpunkt: 17.30 Uhr, S-Bhf. Buch
Kranzniederlegung: 18.00 Uhr,
Walter-Friedrich-Straße 52

www.niemand-ist-vergessen.de


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Anmerkung:
Die Veranstaltung im "Alten" am 19. Mai ist seit den ersten Gedenkaktionen in Buch in gewisser Form eine Besonderheit. Als Antifas 2002 fragten um die Räumlichkeiten für eine Party nach der Demo zu nutzen wurden sie abgewiesen. Auch einige der Gäste war in der Vergangenheit gelegentlich durch Kontakte zur rechten Szene aufgefallen. Das die Veranstaltung in Kooperation mit der Jugendclubleitung stattfindet ist somit shcon "etwas Besonderes".

Es ist nicht auszuschließen, dass Neonazis sich an diesem Tag sich bemüßigt fühlen die Veranstaltung zu stören.
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Ergänzungen

Nachbarschaftshilfe

Klaus 18.05.2010 - 07:02
Nur ein paar Tage nach der Demo in Berlin-Buch, am 29. Mai, findet in unmittelbarer Nachbarschaft ein Naziaufmarsch in Bernau statt. Dies soll verhindert werden. Informiert euch unter  http://brandenburg-nazifrei.de

Video zum Gedenken an Dieter Eich

Leftvision 18.05.2010 - 09:12
In der Nacht vom 24. zum 25. Mai 2000 wurde Dieter Eich, zu dieser Zeit erwerbslos, von 4 Neonazis in seiner eigenen Wohnung in Buch ermordet. Was uns bleibt ist dem brutalen Mord zu Gedenken und zu mahnen! Derlei Taten dürfen sich nicht wiederholen!


 http://www.youtube.com/watch?v=ZI4PVdtnLJk

Interview mit dem Rapper Damion Davis von Spo

... 21.05.2010 - 09:10
hier der aktuelle link zum video(der letzte link wurde irgendwie offline genommen).

 http://www.youtube.com/watch?v=VD3b0J1z67k

Damion Davis erzählt über seine Jugend in Buch.Von Jugendbanden, Neonazis, Naziclubs, die Zeit der Wende und wie ihn das geprägt hat. Zu dieser Zeit wurde auch Dieter Eich in seiner eigenen Wohnung ermordet.

Link zum Video:  http://www.youtube.com/watch?v=VD3b0J1z67k

Beiträge die keine inhaltliche Ergänzung darstellen

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Sehr gut! — KreuzbergerIn

Stellungnahme — Antifa Gruppe Oranienburg

support!!!! — ehrlich