Interview zur Lage in Griechenland

Christoforos Vernardakis + Gewerkschaftsforum 15.05.2010 01:52 Themen: Soziale Kämpfe Weltweit
Dass die soziale Bewegung in Griechenland trotz der ungünstigen Bedingungen ihren Höhepunkt noch nicht erreicht hat, während die Herrschenden ihrerseits vor einem Trümmerhaufen stehen, verdeutlicht das folgende Interview mit Christoforos Vernardakis (Professor für Politische Wissenschaften an der Universität Saloniki und Vorsitzenden des Wissenschaftlichen Beirates des Meinungsforschungsinstitutes VPRC). Es erschien in der linken, italienischen Tageszeitung „il manifesto“ vom 9.5.2010.
Griechenland ist nicht nur ökonomisch, sondern auch politisch der wichtigste Brandherd der neuen Finanzkrise, die insbesondere die Europäische Währungsunion getroffen und das Projekt der Gemeinschaftswährung als Kern einer imperialistischen Macht EU ernsthaft in Frage gestellt hat. Allem Gerede von der Alternativlosigkeit der von der sozialdemokratischen PASOK-Regierung auf Weisung aus Brüssel und der Chefetage des IWF eingeleiteten Austeritätspolitik zum Trotz, bekämpft ein Großteil der Bevölkerung den brutalen Sparkurs, mit dem die Masse der Lohnabhängigen einmal mehr zum Wohle der ausländischen Banken und der einheimischen Bourgeoisie geschröpft werden soll.

Angesichts der noch immer mageren internationalen Solidarität und ebenso übler wie erfolgreicher Hetzkampagnen der „BILD“-Zeitung gegen „die Pleitegriechen“ und „ihre Luxusrenten“ etc. verdient der anhaltende Widerstand in Athen, Piräus, Saloniki, Kreta… allerhöchsten Respekt und jede erdenkliche Unterstützung.

Derweil zweifeln selbst die Profiteure daran, dass ihre Strategie aufgeht. «Ob Griechenland über die Zeit wirklich in der Lage ist, diese Leistungskraft aufzubringen, das wage ich zu bezweifeln», gestand beispielsweise Deutsche Bank-Chef Josef Ackermann in der ZDF-Polit-Talkshow «Maybrit Illner» und wurde dafür von den Kommentatoren der führenden bürgerlichen Presseorgane sowie diversen Politikern abgewatscht. Er „sollte einfach mal den Mund halten“, fordert die „Financial Times Deutschland“. Wahrscheinlich gelten seine Äußerungen der FTD auch deshalb als „gemeingefährlich“, weil er die bis zum Erbrechen propagierte neoliberale Doktrin des „Es gibt keine Alternative!“ de facto in Frage stellt. Originalton Ackermann: «Und wenn es dann am Schluss dieser ganzen Phase doch nicht ganz reicht, dann kann man ja immer noch über Umschuldungen nachdenken» („Neue Zürcher Zeitung“ online 14.5.2010, 14:20 Uhr).

Christoforos Vernardakis

„Zusammenbruch des Systems – nicht nur ökonomisch, sondern auch politisch“

Michelangelo Cocco – aus Athen

Immer neue Demonstrationen, gewaltsame Aktionen und eine Zunahme des sozialen Konfliktes. Wie interpretieren Sie die Signale, die in diesen Wochen von den Athener Straßen kommen?

„Unserer letzten Umfrage zufolge lehnen 85% bis 90% der Bevölkerung die von Ministerpräsident Papandreou unterzeichneten ‚Austeritätsmaßnahmen’ ab. Wir erleben gegenwärtig einen Kollaps des 1974 nach dem Sturz der Obristenjunta entstandenen politischen Systems. Die Leute haben nicht nur kein Vertrauen in die Parlamentarier mehr, sondern in ein ganzes System, dem zum ersten Mal seit `74 keinerlei Gesellschaftsvertrag mehr zugrunde liegt, mit dem die Rechte der Bürger ((in irgendeiner Form)) geschützt werden. 1974 garantierte die ((konservative Partei)) Nea Dimokratia von Konstantinos Karamanlis den Übergang zur Demokratie. Die anschließende sozialistische Regierung von Andreas Papandreou ((Anm.1)) sicherte eine gewisse soziale Umverteilung. Dann kam – wiederum unter der PASOK – die Zeit der Modernisierung und des Sozialstaates. Jetzt attackiert die Regierung zum ersten Mal in der Geschichte des modernen griechischen Staates in brutalster Weise die Rechte der Arbeiter.“

Im Ausland wird allerdings in sehr positiver Form von der Popularität Papandreous gesprochen…

„Bis Februar 2010, das heißt dem Augenblick der Verabschiedung des zweiten Sparpaketes, wurde er ‚toleriert’. Die Leute dachten: ‚Schauen wir mal, was er zustande bringt.’ Seit Mitte März (dem Zeitpunkt des dritten Paketes; Anm. d. Red.) hat sich alles geändert. Gemäß den letzten Erhebungen haben 65% der Befragten kein Vertrauen in irgendeinen Politiker und würden nicht zur Wahl gehen. Der Ministerpräsident wird die jüngsten ‚Sparmaßnahmen’ nicht durchsetzen können, weil er gegen diese massenhafte Unzufriedenheit nicht ankommt. Wir befinden uns am Vorabend einer radikalen Umwälzung sowohl des politischen als auch des Parteiensystems.“

Wer wird davon profitieren? Die Linke, die Rechte oder populistische Bewegungen?

„Im Augenblick ist die Lage extrem instabil. Eine Überwindung der Krise mit einer Stärkung der Linken und der Nea Dimokratia ist vorstellbar. Die Kommunistische Partei (KKE) könnte sich von 7% auf 10% steigern und die ((linkssozialdemokratische)) Koalition SYRIZA von 5% auf 7%. Aber auch ein Ausstieg ‚nach rechts’ mit dem Aufstieg von Persönlichkeiten wie dem populistischen Milliardär Andreas Vgenopoulos ((Anm. 2)) ist denkbar.“

Welche Rolle sollte die Linke spielen?

„Sie sollte sich zur Trägerin der Forderungen machen, die in diesem Moment aus der Gesellschaft kommen. Das heißt gegen die Lohn- und Rentenkürzungen kämpfen (wir haben die niedrigsten Lohnkosten der Eurozone) und gegen die Einstiegslöhne für Jugendliche, die gerade mal 500 Euro im Monat betragen. Alle diese ‚Reformen’ sind integraler Bestandteil der von EU und IWF verlangten ‚Austeritätsmaßnahmen’, deren Inkrafttreten für den 1.Juli vorgesehen ist. Nachdem sie an die Macht gelangt war, hat die PASOK einen Weg eingeschlagen, der den Versprechen, die sie im Wahlkampf gemacht hatte, diametral entgegengesetzt ist.“

Wird die Bewegung die Gewalttaten auf den Straßen überleben?

„Die Bewegung hat ihr gesamtes Potential noch gar nicht gezeigt. Bislang hatte sie eine ‚zentralisierte’ Führung durch die beiden Gewerkschaftsbünde ADEDY (Öffentlicher Dienst) und GSEE (Privatsektor), aber langsam verbreitert sie sich durch die Beteiligung von Basisgewerkschaften, Organisationen der Zivilgesellschaft, Schülern und Studenten.“

Was prognostizieren Sie für die kommenden Monate?

„Wir werden eine Zunahme der politischen Gewalt erleben, sowohl vonseiten der extremen Linken als auch von der extremen Rechten. Die Anzeichen dafür sind deutlich: Bomben gegen die Banken und Straßenschlachten einerseits und Angriffe auf Flüchtlingen und Migranten andererseits.“

Nach vielen Jahren des ((sehr relativen)) Wohlstands zwingt Europa Griechenland zu einer massenhaften Verarmung. Wie erleben die Griechen das Verhältnis zur EU?

„Innerhalb der Gesellschaft, die bislang die pro-europäischste der EU war, gibt es eine Zunahme des Euro-Skeptizismus, insbesondere gegenüber der Europäischen Zentralbank, der Brüsseler EU-Kommission und Deutschland. Aber nur 25% der Bevölkerung ist für einen Ausstieg aus der Eurozone, weil die Leute begriffen haben, dass ein Gutteil des Desasters von unserer politischen Klasse verursacht wurde. Und ein positiver Effekt der Krise ist, dass die Gesellschaft sich sehr stark politisiert hat. Man diskutiert über Europa, über die Unzulänglichkeit der Parteien bei der Bewältigung dieser Phase und über das Verhältnis zu den Deutschen. Die Leute auf der Straße wissen inzwischen sogar alles über die ‚Spreads’ ((Anm.3)).“

Anmerkungen:

1) Der Ökonomieprofessor Andreas Papandreou (5.2.1919 – 23.6.1996) war Sohn des ehemaligen Ministerpräsidenten Giorgios Papandreou senior (13.2.1888 – 1.11.1968). Er gründete Anfang September 1974 die Panhellenistische Sozialistische Bewegung PASOK und stand vom 21. Oktober 1981 bis 2. Juli 1989 sowie vom 13. Oktober 1993 bis 22. Januar 1996 selbst an der Spitze der Regierung. Der aktuelle, seit Oktober 2009 amtierende Premier (und Vorsitzende der „Sozialistischen Internationale“!) George Papandreou junior (geboren am 16.6.1952) ist wiederum sein Sohn. Solche Familiendynastien sind im Athener Establishment nicht ungewöhnlich. Sein Vorgänger, der Konservative Kostas Karamanlis ist ein Neffe des ehemaligen Staatspräsidenten Konstantinos Karamanlis.

2) Andreas Vgenopoulos (geboren am 4.1.1953) ist Vorstandsvorsitzender der Marfin Investment Group, zu der die Bank gehört, die während des Generalstreiks am 5.Mai 2010 mit Molotow Cocktails angegriffen wurde und in der drei Angestellte an Rauchvergiftung starben. Vgenopoulos hatte sie unter Androhung von Entlassungen zur Arbeit gepresst. Gleichzeitig verletzten deren Räumlichkeiten allen Brandschutzvorschriften. Der Finanzmagnat gibt sein Vermögen selbst mit 800 Millionen Euro an und ist seit 2008 größter Anteilseigner des Fußballclubs Panathinaikos Athen. – Silvio Berlusconi lässt grüßen !!!

3) Credit Spreads werden die Renditezuschläge auf Unternehmens- und Staatsanleihen genannt, deren Bonität von den Ratingagenturen herabgestuft wurde und bei denen Zahlungsausfälle befürchtet werden.

((Vorbemerkung, Übersetzung und Einfügungen in doppelten Klammern: Gewerkschaftsforum Hannover))
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Ergänzungen

Interview "Griechenland Aktuell"

Rudolf Rocker 15.05.2010 - 12:00
Ergänzend zu dem obigen Interview sei auf die Radiosendung "Griechenland Aktuell" vom 12.05.10 im freie-radios.net verwiesen, die sich jedeR im Internet anhören kann. In dem Beitrag mit Ralf Dreis wird die aktuelle Ingangsetzung des deutschen Chauvinismus erörtert. Im Schnelldurchgang werden dann die ökonomische Mechanik der aktuellen Währungsturbulenzen und deren soziale Abwälzung betrachtet, die politische und soziale Zusammensetzung der Protestbewegung beschrieben und schließlich aus Anlaß der drei getöteten Menschen die stattfindenden Auseinandersetzungen mit Teilen der Protestbewegung zur Gewalt reflektiert.


Hier der Link zu dem Interview.

Interview "Griechenland Aktuell"

Rudolf Rocker 15.05.2010 - 12:22
Ergänzend zu dem obigen Interview sei auf die Radiosendung "Griechenland Aktuell" vom 12.05.10 im freie-radios.net verwiesen, die sich jedeR im Internet anhören kann. In dem Beitrag mit Ralf Dreis wird die aktuelle Ingangsetzung des deutschen Chauvinismus erörtert. Im Schnelldurchgang werden dann die ökonomische Mechanik der aktuellen Währungsturbulenzen und deren soziale Abwälzung betrachtet, die politische und soziale Zusammensetzung der Protestbewegung beschrieben und schließlich aus Anlaß der drei getöteten Menschen die stattfindenden Auseinandersetzungen mit Teilen der Protestbewegung zur Gewalt reflektiert.


Hier jetzt wirklich der Link zu dem Interview:  http://www.freie-radios.net/portal/content.php?id=33991

Das Ende einer historischen Phase

Stinas 15.05.2010 - 15:39
ein Genosse aus Athen schreibt:



Nun erleben »die Griechen« zum ersten Mal seit drei Jahrzehnten einen solchen Angriff von oben und die Mythen einer gesamten historischen Phase nach dem Fall der Diktatur (1974) platzen. Die großen Gewerkschaften (GSEE und ADEDY) sind von den Parteien kontrolliert und interessieren sich nicht für die (eigene) Basis (andererseits interessiert sich auch die Basis nicht für diese Gewerkschaften).
[...]


Die »militärische Eskalation« auf der Straße ist eine Sackgasse. Solange unsere offensichtliche Unzufriedenheit sich nicht auf die Arbeitswelt ausweitet und die Produktionsorte bedroht, solange wir nicht als ArbeiterInnen auf dem Klassenterrain kämpfen, werden die neuen Sparmaßnahmen und die Arbeitsreform weiter angewandt, trotz aller Proteste.


zum ganzen Artikel:
 http://stinas.blogsport.de
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Informativer Artikel — Danke !

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