Sogenannte „Asoziale“ im NS

North East Antifascists (NEA) 13.05.2010 19:33 Themen: Antifa Soziale Kämpfe
3. Teil der „Niemand ist vergessen“-Artikelserie:

Im Rahmen der Gedenkaktivitäten anlässlich des 10. Todestages von Dieter Eich, die am 23. Mai 2010 in Berlin-Buch ihren Höhepunkt in einer Gedenkdemonstration finden werden, werden auf Indymedia in den kommenden Wochen Texte rund um den Nazimord und den politischen Kontext des Mordes veröffentlicht.

„Asozial“ - Über die staatliche Legitimierung zu Morden



Der Begriff, aber noch weitaus mehr die Vorstellung, dass es Menschen gäbe, die aufgrund ihrer ökonomischen Situation der „Gemeinschaft“ schaden, ist traditionsreich und durch viele Generationen gesellschaftlich vererbt. Die „Asozialen“, als „parasitär“ und „unnütz“ bezeichneten Menschen, stehen somit im Kontrast zum positiv konnotierten „sozialen“ Subjekt, das sich für die (Volks-)Gemeinschaft hingibt und seine vermeintlichen Kollektivinteressen vertritt. Im Nationalsozialismus erreichte die Ausgrenzung und Entmenschlichung dieser künstlich geschaffenen Kategorie von Menschen ihren bisherigen geschichtlichen Höhepunkt.
Als „asozial“ wurden Menschen bezeichnet, die nicht in das Konstrukt des gesunden „Volkskörpers“ gezählt wurden. Diese stammten vor allem aus der gesellschaftlich marginalisierten und ökonomisch verarmten Unterschicht. Die Zuteilung in die Kategorie „asozial“ erfolgte aufgrund dreier Kriterien: „moralisch“ (bspw. Sexarbeiter_innen), biologistisch (Sinti und Roma, als „geistig oder körperlich behindert“ bezeichnete Menschen) und ökonomisch (obdachlose bzw. arbeitslose Personen). Der organischen Vorstellung des Volkskörpers setzte die nationalsozialistische Ideologie „zersetzende Elemente“ entgegen, die eine angebliche Gefahr für die Gesundheit der „rassisch“ und „moralisch“ reinen Gemeinschaft darstellen würden. Bereits vor der Machtübertragung an die Nationalsozialisten gab es Bestrebungen, die sozial ausgegrenzten Personengruppen vom öffentlichen Straßenbild zu entfernen. So forderte der Stuttgarter Oberregierungsrat Karl Mailänder auf einem Treffen der Landesfürsorgeverbände(sic!) im Januar 1933:

„Es ist ganz falsch, gegen die ausgesprochenen Landstreicher deshalb nichts zu unternehmen, weil zur Zeit große Arbeitslosigkeit herrscht. Gerade in Notzeiten muss für Ordnung gesorgt werden.“

Bereits ab Oktober 1933 wurde das erste Konzentrationslager für Bettler_innen in Berlin eingerichtet. In nur kurzer Zeit wurden „Arbeitshäuser“ errichtet, in denen so genannte „Arbeitsscheue“ zwangsdiszipliniert und zur Arbeit im Rahmen der völkischen Verwertungslogik genötigt wurden. In einer großangelegten Razzia, bei der Polizeiorgane, SA und SS zusammenarbeiteten, wurden kurz zuvor, im September des selben Jahres, zahlreiche obdachlose Personen und Bettler_innen von der Straße oder aus Notunterkünften inhaftiert. Die Aktion berief sich auf ein bereits in der Weimarer Republik erlassenes Gesetz, wonach „Bettelei und Landstreicherei“ mit bis zu 6 Wochen Haft bestraft wurde. 1934 wurde ein Gesetz verabschiedet, welches die „Maßregeln der Sicherung und Besserung“ als „asozial“ bezeichneter Menschen sicherstellen sollte.
Danach konnten die betroffenen Personen unbefristet in den „Arbeitshäusern“ interniert werden. Das Reichspropagandaministerium und die gleichgeschaltete Medienlandschaft berichteten ganz im Sinne des sozialrassistischen Konsens in der Mehrheitsgesellschaft euphorisch, dass die verhafteten Personen „mit landwirtschaftlichen Arbeiten beschäftigt und so wieder zu nützlichen Mitgliedern der Gesellschaft erzogen“ werden würden.1 Mit der Propaganda vom „Schädling“ des Volkskörpers und den bereits vorher existenten, tiefgreifenden Ressentiments gegenüber dem „Übel“2 der „Asozialität“ seitens der selbst ernannten „Volksdeutschen“, waren die moralischen und politischen Weichen für einen vollständigen Ausschluss aus der Gesellschaft und die folgende Vernichtung marginalisierter Personen gestellt. Nicht arbeitende Personen wurden lediglich als Kostenfaktor verdinglicht und als unnütz für den Normalbetrieb der Volksgemeinschaft betrachtet- das Individuum wurde zum ersetzenden oder zu verzichtbaren Objekt herabgestuft. Eine zeitgenössische Rechenaufgabe zeigt die alltägliche Rechtfertigung der sozialen Marginalisierung auf:

"Der Bau einer Irrenanstalt kostet etwa 6 Millionen RM. Wie vielFamilien könnten dafür eine Wohnung erhalten?"

Den Menschen wurden aufgrund einer menschenverachtenden Kosten-Nutzen-Kalkulation die Würde und die Existenzberechtigung abgesprochen. Die Verdinglichung entmenschlichte die Personen, welche somit konkret als Gefahr einer „gesunden Volksgemeinschaft“ in der Mehrheitsgesellschaft präsentiert werden konnten.
Die Diskriminierung und die spätere Vernichtung konnten somit fernab menschlicher Empathiebezeugungen stattfinden. Deren Fehlen hatte sich im Holocaust3 und der ihm immanenten industrialisierten Vernichtung, unter passiver bzw. aktiver Teilnahme der Zivilbevölkerung, widergespiegelt.
Ab Dezember 1937 konnte schon allein ein willkürlich „festgestelltes asoziales Verhalten“ eine Deportation in ein Konzentrationslager zur Folge haben. Der Höhepunkt der repressiven Maßnahmen gegen die imaginierten „Schädlinge“ war die „Aktion Arbeitsscheu Reich“ (ASR) von April bis Juni 1938, bei der mehr als zehntausend als „asozial“ diffamierte Personen inhaftiert und in Konzentrationslager deportiert wurden, um Zwangsarbeit verrichten zu müssen. Menschen, die „in zwei Fällen die ihnen angebotenen Arbeitsplätze ohne berechtigten Grund abgelehnt oder die Arbeit zwar aufgenommen, aber nach kurzer Zeit ohne stichhaltigen Grund wieder aufgegeben“4 hatten wurden nach dem „Schutzhafterlass“ gegen „Arbeitsscheue“ zur Deportation in die Lager freigegeben. Eine Bestätigung hierfür jene „Arbeitsscheue“ erfolgte durch den zuständigen Amtsarzt.
In den Konzentrationslagern wurden ab dem Jahr 1942 die Deportierten, die erst mit einem braunen, später mit einem schwarzen Winkel gekennzeichnet wurden, systematisch unter der Parole „Vernichtung durch Arbeit“ ermordet. Eine Farbentwicklung, die metaphorisch für den Wandel vom „Arbeitszwang zur Besserung“ hin zu einem klar definierten Vernichtungsprogramm war. Die „Vernichtung asozialen Lebens“, wie Reichsminister für Volksaufklärung und Propaganda Joseph Goebbels die Taten bezeichnete, waren keine kleine Episode im Kontext des Nationalsozialismus, sondern vielmehr ein elementarer Bestandteil der biologistischen Rassenideologie und Verwertungswahns des Nationalsozialismus.


Quellen:

1. kobra.bibliothek.uni-kassel.de
2. Ebd.
3. zum besseren Verständnis verwenden wir diesen Begriff, ziehen jedoch die spezifische jüdische Begriffsverwendung Shoa vor
4. Erlass zur »Schutzhaft gegen Arbeitsscheue«, verabschiedet am 26. Januar 1938 durch Heinrich Himmler


Termine:



Veranstaltung: »Was heißt hier »asozial«?«
Mo. 17. Mai 2010 | 19.30 Uhr | JUP | Florastraße 84; 13187 Berlin | Pankow
Verkehrsanbindung: S/U-Bahnhof Pankow / S-Bahn: S2, S8, S9 / U-Bahn: U2 / Tram: M1, 50 / Bus: M27, 107, 155, 250, 255, X54, N50, N2

Referentin: Anne Alex
Die Referentin befasst sich damit, zu welchen Zwecken und mit welchen Folgen das Wort »asozial« im Nationalsozialismus benutzt wurde und wieso sich eine derartige Betitelung von Menschen heutzutage verbietet. Zur Illustration werden Textausschnitte aus dem Buch »ausgesteuert-ausgegrenzt... angeblich asozial« herangezogen.


Veranstaltung: »Asozial- arbeitsscheu - Arbeitshaus - ?«
Mi. 19. Mai 2010  | 19.30 Uhr | Soziokulturelles Zentrum »Der Alte« | Wiltbergstraße 27; 13125 Berlin | Pankow
Verkehrsanbindung: S-Bahnhof Buch / S-Bahn: S2 / Bus: 150, 158, 251, 259, 351, 893, 900, N58

Referent: Lothar Eberhardt
Der Begriff »asozial« dient noch heute der Stigmatisierung und Ausgrenzung von Menschen. Politiker wie Westerwelle, Sarrazin und co. sind Wirtschaftslobbyisten und nutzen die Armutslagen der Menschen mit ihrer Wortgewalt in populistischer und sozialdarwinistischer Manier gegen die Schwachen, Armen und Menschen ohne Lobby in unserer Gesellschaft aus. In Deutschland gibt es eine Kontinuität der Diskriminierung von Menschen die als »asozial« diffamiert werden. Sie wurden im Nationalsozialismus ab 1938 bei der Aktion »Arbeitsscheu Reich« in die KZ’s gesteckt, viele wurden ausgemerzt. Vor diesem geschichtlichen Hintergrund sieht die Bundesregierung bis heute keinen Handlungsbedarf zur Rehabilitierung und Entschädigung der als »Asoziale« stigmatisierten Opfer. Am Beispiel der Arbeitshäuser in Rummelsburg wird sich mit der Thematik des Arbeitszwangs gegen „Asoziale“ auseinandergesetzt. Zum Einstieg in die Thematik zeigen wir den 30-minütigen Film »Arbeitsscheu-abnormal-asozial« - Zur Geschichte der Berliner Arbeitshäuser von Filmemacherin Andrea Behrendt. Danach wird entlang eines geschichtspolitischen Text die Einordnung in die Berliner Erinnerungskultur thematisiert und seine Funktion als „Institution des Arbeitszwanges“ erörtert. Einleitend wollen wir über den Mord an Dieter Eich und dessen Hintergründe berichten.


DEMONSTRATION & KONZERT:



Antifa-Demo: 23. Mai 2010, 14 Uhr, S-Bhf. Buch

After-Demo-Konzert: ab 19.30 Uhr
u.a. mit Kurzer Prozess (HipHop -Nürnberg) und Wasted Youth(Punk – Stuttgart)



Infos: www.niemand-ist-vergessen.de




1. Teil der Artikelserie: "Der Mord an Dieter Eich"
2. Teil der Artikelserie: Rechte Gewalt und ein “unpolitischer Messerstoß”?
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Ergänzungen

Verwendung des BegriffesHolcaust

Lothar 14.05.2010 - 09:09

Verwendung des Begriffes Holocaust:

Eine Anmerkung möchte ich doch machen im Verwendung des Begriffes "Holocaust" bzw. Shoa in dem Artikel (s. a. Anmerkg.3).

Das sind religiöse Begriffe, die den Genozid an den Juden beschreiben und benennen.

Lasst uns doch den politischen Begriff des Genozid an die Juden verwenden.

Genozid ist ohne religiöse Konnotation und fokussiert den Begriff nicht auf eine
NS-Opfergruppe, sonder benennt es historisch und politisch geanuer. Es ist ein Völkermord.

Es gibt noch viele weitere NS-Opfer, die in dem Begriff nicht eingeschlossen, sondern ausgeschlossen sind, wie die „Asozialen“, sowjetische und anderen Kriegsgefangenen, Italienischen Militärinternierten, Zivilbevölkerung aller besetzten Länder, Opfer von Massaker der Wehrmacht und SS-Verbände und und und….

Einher geht mit dem Begriff, dass das Holocaust-Gedenken der Kern der offiziellen bundesrepublikanischen Gedenkstättenpolitik darstellt und damit zur Staatraison erhob ist.

Wer den Begriff unkommentiert benutzt, begibt sich in die Gefahr der offizielle bundesrepublikanischen Gedenk- und Erinnerungspolitik, die von Entschädigungsverweigerung und Erinnerungsabwehr bestimmt ist, das Wort zu reden.
Entschädigungspolitisch ist der Forderung aller NS-Opfer anzuerkennen auch die ohne Lobby.

Das Gedenken und Erinnern an alle NS-Opfer ist damit nicht eingeschlossen wie z.B. die Anfrage an die Bundesregierung zum Gedenken an die Asozialen der „Asozialen“ belegt.

Sie Drucksache 16/9405 vom 30.5.2008 ( http://marginalisierte.de/kleine_anfrage_und_antwort_der_bundesregierung/?searchterm=Anfrage)
In der die Bundesregierung sic auf die Position stellt: Wollen wir nicht, ist uns nicht bekannt.
Sieht auch die PE vom 2. Juli 2008:
( http://marginalisierte.de/gedenkstatte-und-lernort-fur-ns-opfer-mit-dem-stigma-asozial-einrichten-pressemitteilung/?searchterm=Anfrage)

und von Ulla Jelpke (MdB) vom 1.7.2008:(  http://www.ulla-jelpke.de/news_detail.php?newsid=910)


*******************Gedenken an die sogen. Asozialen*******
Zum Vormerken:
Gedenken an die "Asozialen" und die Aktion "Arbeitsscheu Reich" am
13.6.210 bitte vormerken

Sonntag den 13.6. 2010 um 11 Uhr
vor dem ehemaligen Verwaltungsgebäude des Arbeitshauses Rummelsburg
in der
Hauptstrasse 8 (zwischen Hildgard-Marcusson-Str. und
Georg-Löwenstein-Str.) statt.
( http://www.stadtplandienst.de/Map.aspx?sid=85E81C4F3DD26B3B314C7F9C9CEA8C94)

ÖPNV: Tram 21 bis Kosanke-Siedlung oder S-Bhf Rummelsburg (Fußweg ca.10 min)

Zusammenfassung

niv-northeast 23.05.2010 - 01:43
Hier findet sich eine Zusammenstellung bisheriger Artikel:
 https://linksunten.indymedia.org/de/node/20492

Beiträge die keine inhaltliche Ergänzung darstellen

Zeige die folgenden 10 Kommentare an

Und — yxcv

@yxcv — bla?

Asoziale und Realsozialismus — nix bla & yxcv

Ja und — Anonymous

zur fragwürdigen Glaubwürdigkeit der NEA — Realitätsabgleich + Glaubwürdigkeitsprüfung

Kleine Korrektur — ein Mitglied der Irren-Offensive