Großdemo gegen faschistische Morde in Moskau

Unterstützer 20.01.2010 14:45 Themen: Antifa Repression Weltweit
Zum Jahrestag des Doppelmordes an dem Menschenrechtler und Anwalt Stanislaw Markelow (34) und der anarchistischen Journalistin Anastasia Baburowa (25) gingen in Moskau über 1000 Leute auf die Straße, um gegen faschistische Morde und Repression zu demonstrieren. Die Abschlusskundgebung wurde von der Polizei abgebrochen.
Markelow war am 19. Januar 2009 nach einer Pressekonferenz in Moskau erschossen worden. Baburowa hatte versucht einzugreifen, war jedoch ebenfalls niedergeschossen worden und wenige Stunden später ihren Verletzungen erlegen. In der Zwischenzeit wurde der Neonazi Nikita Tichonow als Täter verhaftet, zusammen mit seiner Frau. Tichonow war 2006 an der brutalen Ermordung des jungen Antifaschisten Sascha Rjuchin durch einen rechtsradikalen Schlägertrupp beteiligt. Während die Behörden die Sache als "Hooliganismus", also als gewöhnliche Schlägerei mit zufälligerweise tödliche Folgen, unter den Tisch kehren wollten, setzte Markelow als Anwalt der Familie Rjuchin die vollständige Aufklärung des Falles und seine Wertung als Totschlag durch, thematisierte die politische Dimension und brachte mehrere Beteiligte hinter Gitter; Tichonow, der Rädelsführer, tauchte unter.
Dennoch gibt es Zweifel, ob damit der Fall Markelow/Baburowa geklärt ist. Tichonows Verhaftung kurz vor dem russischen Nationalfeiertag (4. November) wirkte schon sehr inszeniert, um die Effektivität der russischen Strafverfolgung zu präsentieren; die neofaschistische Gruppe RNE (Russische Nationale Einheit), der er angehört, gilt eigentlich seit Mitte der 90er mehr oder weniger als Phantom; und Markelow hatte neben zahlreichen Neonazis viele weitere Feinde. Sein Engagement störte beispielsweise die Machenschaften der Moskauer Immobilienmafia, in deren Zentrum die Gattin des Moskauer Oberbürgermeisters Luschkow sitzt. Er half vielen jungen AnarchistInnen bei Problemen mit der Polizei, z. B. im Fall der Folterorgie auf der Sokolniki-Wache am 4.4.2008, und war auch der Anwalt der bereits zwei Jahre zuvor ermordeten Journalistin Anna Politkowskaja.
Auf der Pressekonferenz vor seiner Ermordung ging es um den Fall eines russischen Obersten, der in Tschetschenien ein Mädchen entführt, vergewaltigt und ermordet hatte; gegen viele Widerstände hatte Markelow ihn hinter Gitter gebracht. Er sorgte dafür, dass der Geheimdienstler Sergej Lapin wegen Folter angeklagt wurde. Auch in vielen weiteren Fällen vertrat er die Opfer von Menschenrechtsverletzungen in Tschetschenien und dürfte sich deswegen die Feindschaft des dortigen Präsidenten Ramsan Kadyrow, einer Marionette Putins, zugezogen haben. Im Laufe des vergangenen Sommers wurden dort Natalia Estemirowa und weitere MenschenrechtlerInnen umgebracht, so dass mittlerweile gar keine Menschenrechtsorganisationen mehr in Tschetschenien vertreten sind. Die brutale Unterdrückung dort, die auch nach dem offiziellen Ende des Tschetschenienkrieges nie aufgehört und sich in den letzten beiden Jahren sogar verschärft hat, findet jetzt also unbeobachtet statt.
Selbst wenn es stimmt, dass Tichonow der Täter ist, ist die Sache nicht erledigt. Bis 2008 hatten russische Neonazis ihre Opfer meist mit Schlag- oder Stichwaffen getötet; Schusswaffen sind in Russland entgegen hier herrschenden Vorstellungen eher schwierig zu bekommen, und ihr Besitz wird streng verfolgt. Heuer wurden in Moskau jedoch zwei weitere Antifaschisten erschossen, wobei es wenig Zweifel gibt, dass die Taten von Neonazis verübt wurden: im Sommer der Kaukasier Ilja Dshaparidse, und der Redskin Iwan Chutorskoi am 16. November – also zwei Wochen NACH Tichonows Verhaftung!
Zur Zeit des Mordes, um 19:01 Ortszeit (17:01 bei uns), begann in Moskau eine antifaschistische Demonstration. Das heißt, eigentlich handelte es sich um zwei Kundgebungen und einen Spaziergang. Denn die Stadtverwaltung hatte das Gesuch drei Wochen unbeantwortet liegenlassen (unter Missachtung der gesetzlichen Bearbeitungsfrist von drei Tagen) und erklärte dann, für eine Genehmigung sei es nun zu spät. Als "Kompromiss" wurden nur die Auftakt- und die Schlusskundgebung genehmigt; auf dem Weg von der einen zur anderen dürften keinerlei Transparente gezeigt, Parolen gerufen oder sonstige Protesthandlungen vorgenommen werden.
An der Auftaktkundgebung auf dem Petrowski-Boulevard nahmen über 800 Menschen teil. Anschließend gingen die Leute von der ersten Kundgebung zur zweiten. Die Miliz ordnete an, dass dies in Gruppen von 50 Leuten zu erfolgen habe. Der Weg Richtung Trubnaja-Platz war versperrt durch Lastwagen, Busse und Ketten der Aufstandsbekämpfungseinheit OMON. Die Miliz nahm den demonstrierenden Leuten Transpis und Schilder ab und ließ nur jeweils 50er-Gruppen durch. Ein Teil der Menge durchbrach aber die Kette; schon da kam es zu Verhaftungen. Die Festgenommenen wurden in zwei bereitstehende Busse geladen. Auf dem Weg provozierten einige Nazis mit Rauchbomben -- die Polizei schritt nicht ein.
Schließlich versammelten sich die DemonstrantInnen auf dem Tschistije-Prudy-Platz zur Abschlusskundgebung. Die Bullen eskalierten die Lage, indem sie gegen die DemonstrantInnen Knüppel und Gas einsetzten und sogar in die Luft schossen. Es gab zahlreiche Konfrontationen mit Bullen und OMON, DemonstrantInnen versuchten, Gefangene herauszuhauen, Schneebälle flogen auf die Bullen. Als schließlich das Manifest zum Jahrestag der Morde über Megafon verlesen wurde, brachen die Cops die Kundgebung ab und verhinderten, dass die Erklärung zu Ende vorgetragen werden konnte.
Auf dem Tschistije-Prudy-Boulevard wurden 22 Leute verhaftet, die jedoch nach Verhandlungen mit der Polizei bereits nach weniger als einer halben Stunde wieder freigelassen wurden. Um 23:30 waren auch praktisch alle frei, die auf dem Trubnaja-Platz verhaftet worden waren. Laut Angaben des EA (community.livejournal.com/legal_team/) wurden im Verlauf der Aktion 70-80 Personen festgenommen.
Insgesamt haben sich an der Demo über tausend Leute beteiligt, ein gigantisches Ergebnis für eine nicht von Parteien organisierte Aktion in Moskau. Eine ähnliche Demo vor einem Jahr hatte rund 500 TeilnehmerInnen. Der Menschenrechtler Leo Ponomarjow, einer der Anmelder der Kundgebung auf Tschistye Prudy, muss heute übrigens vor Gericht -- wegen Überschreitung der genehmigten Teilnehmerzahl.
Europaweit fanden zu dieser Demonstration kleinere Soli-Aktionen statt, z. B. Mahnwachen vor den russischen Botschaften in Paris und Warschau und zahlreichen russischen Konsulaten und Flugi-Verteilungen in verschiedenen Städten.
Zuletzt noch ein Zitat von Stanislaw Markelow: "Unser einziger Schutz sind wir selber." Vom Staat ist nichts zu erwarten, im Gegenteil -- das hat der gestrige Tag wieder einmal deutlich gezeigt.

P.S.: Zu dem Doppelmord, der Verhaftung von Tichonow, der Sokolniki-Affäre usw. gäbe es jetzt noch jede Menge Links hinzuzufügen, aber das steht alles hier auf indymedia und ist über die Suchfunktion leicht zu finden.
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Ergänzungen

Aktion in Paris

* aka * 20.01.2010 - 15:30
In Paris gab es eine kleine, aber kämpferische Demo mit einigem an Pyrotechnik zum Russischen Konsulat. Aufgerufen hatte die Gruppe "Scalp-Reflex" (siehe  http://scalp-reflex.over-blog.com). Hier ist das Video:

->  http://www.youtube.com/watch?v=OP5JQ49WMa0

Liste mit Todesopfern gesucht

gesucht 20.01.2010 - 15:56
Wo gibt es eine Liste mit allen Opfern von Nazimorden in Russland?

In Deutschland gibt es eine Liste mit 135 Namen.

Stanislaw Markelow und Anastassia Baburowa

Antonius 20.01.2010 - 20:52
Interview auf Radio Corax:
Demonstrationen in Russland,

Zum Gedenken an Stanislaw Markelow und Anastassia Baburowa.

 http://www.freie-radios.net/portal/content.php?id=31690

@gesucht

sprawka 21.01.2010 - 07:37
Eine vollständige Liste wirst Du kaum bekommen, da es jedes Jahr über 50 Morde sind (eher 80). Die meisten betreffen MigrantInnen, von vielen wird der vollständige Name gar nicht bekannt, weil sie keine Papiere haben. Du kannst das oben an dem Transpi sehen, wo teilweise nur Vornamen stehen (also, wenn Du kyrillische Schrift nicht lesen kannst, siehst Du halt, dass die Namen teilweise nur aus einem Wort bestehen). Hier machen vor allem die Morde an russischen Antifas und MenschenrechtlerInnen Schlagzeilen, das sind aber vielleicht 10%. Eine detaillierte Statistik versucht das SOWA-Institut zu führen ( http://xeno.sova-center.ru/), die haben auch ein paar Infos auf Englisch auf der Seite. Beim Durchklicken hab ich da nur Zahlen gefunden, aber dort kannst Du per Mail nachfragen, die müssen die Namen eigentlich haben. Das Institut wiederum erwähnt auf der Seite, dass es keine Morde an Obdachlosen erfasst - da gäbe es also noch was. Je detaillierter Du Dich mit der Sache befasst, desto übler wird's...

Video von der Aktion

Fernsehkritik 23.01.2010 - 18:56
Hier noch ein gutes Video (knapp 12 Minuten) von der Aktion. Ist alles auf Russisch, aber was da abgeht, versteht Ihr glaub ich größtenteils auch so. Die mit den Pelzmützen und die mit den Helmen sind fast alles Bullen. Der Typ, der ganz am Anfang und ganz am Schluss übers Mega redet, ist der Menschenrechtler Leo Ponomarjow, der Anmelder der Abschlusskundgebung. Zu sehen ist:

- Die Auftaktkundgebung auf dem Petrowski-Boulevard
- Wie 200 Antifas die Bullenkette durchbrechen und trotz Verbot mit Transpis loslaufen, bis sie von den Sondereinheiten gestoppt werden und die Transpis doch noch einrollen müssen
- Der "geordnete" Umzug zur Schlusskundgebung
- Polizeiübergriffe auf der Schlusskundgebung (am Denkmal des Schriftstellers Gribojedow), einschließlich des Abbruchs der Rede durch die Bullen
- Die militante Reaktion der Antifa, Verhaftungen, Gegenwehr mit Schneebällen (die Parole, die sie immer wieder rufen, heißt "Freiheit für unsere GenossInnen!")

Zum Schluss gibt Ponomarjow dann noch übers Mega durch, dass die Bullen zugesagt haben, die Verhafteten freizulassen, wenn die Leute zum Kundgebungsplatz zurückgehen (und das ist dann auch so passiert).