20 Jahre Wiedervereinigung?

SaZ 09.11.2009 00:17 Themen: Blogwire
Montag um sieben klingelt bei Franziska der Wecker. Seit einigen Wochen mag Franziska Montage noch weniger. Weswegen es ihr sehr schwer fällt, aufzustehen. Denn heute gibt es wieder das Fach „Politik und Wirtschaft“. Seit herausgekommen ist, dass die deutschlandkritischen Aufkleber in der Schule von ihr stammen, wurde das auch in „Politik und Wirtschaft“ thematisiert.
Dann kamen die ganzen Argumente, die sie schon so oft gehört hat. Jede_r brauche eine nationale Identität. Deutschland hätte schon so viel geleistet. Goethe, Schiller, Luther, Einstein. Andere Nationen seien auch stolz, das sei total normal. Und auch in Polen gebe es Nazis. Am Ende wusste sie nicht mehr, was sie sagen sollte und auch nicht so richtig, was sie denken sollte. Und heute will Herr Hoffmann mit den Schüler_innen auch noch zu dieser Veranstaltung „20 Jahre Wiedervereinigung“ gehen.

Franziska zieht das Frühstück in die Länge, ohne es zu merken, und dann ist es schon acht Uhr. Eigentlich müsste sie jetzt rennen und würde trotzdem zu spät kommen. Stattdessen entscheidet sie sich, Bauchschmerzen zu haben. Das ist eine von den Krankheiten, die erstmal nicht geprüft werden können. „Bauchschmerzen, O.K., ich gebe es weiter“. Die Lehrerin, die sie am Telefon im Sekretariat erwischt, wirkt gestresst und stellt keine weiteren Fragen. Jetzt sitzt Franziska zu Hause und ihr gehen die ganzen Diskussionen, die sie in den vergangenen Schulwochen hatte, nicht aus dem Kopf. Also beschließt sie, sich das mal näher anzusehen: Deutschland, was ist das eigentlich? Warum wurde es wiedervereinigt? Auf Wikipedia klingt erstmal alles total harmlos: 16 Bundesländer, Grundgesetz, 82 Millionen Einwohner_innen, Regierungsform Parlamentarische Demokratie. Hier findet sie auf die Schnelle nur viel Positives über Deutschland. Nichts, was ihrem Unbehagen entspricht, das fest in ihrer Magengrube sitzt.

Deutschland sei schon uralt, hatte ihr Mitschüler gesagt, Tausende von Jahren. Es ging dabei um die Varusschlacht im Teutoburger Wald im Jahre neun und um die Germanen. Auf dem Weg in die Bibliothek sammelt Franziska nochmal die ganzen Argumente, die ihr entgegengebracht wurden. Und dann fängt sie an, sich verschiedene Bücher anzusehen, die sie mit der Schlagwortsuche gefunden hat. Deutschland ist eine Nation oder auch Nationalstaat, steht dort. Und diese Nationen sind entstanden, als sich der Kapitalismus herausgebildet hat. Wann passierte das mit Deutschland? 1871. Vorher, steht da, gab es Preußen, Bayern und ganz viele andere Kleinstaaten, die sich zusammengeschlossen haben. Aber...1871! Dann ist Deutschland nur...Scheiße, Mathematik mag sie eigentlich auch nicht so gern...138 Jahre alt. Das sind ja gerade mal vier Generationen. Doch Franziskas Mitschüler_innen und Herr Hoffmann haben ja immer von den Germanen und dem deutschen Volk gesprochen. Dann müsste es ja das deutsche Volk schon vor 1871 gegeben haben, was damals nur durch Grenzen getrennt war. Gab es damals auch eine Vereinigung, so wie 1989? Aber in den Geschichtsbüchern der Bibliothek wird so etwas nicht erwähnt. Im 19. Jahrhundert hat der Handel aufgrund des Kapitalismus stark zugenommen und die vielen Zölle, die an jeder Grenze entrichtet werden mussten, waren hierbei ein großes Hindernis. Vor allem der Vergleich mit dem fortschrittlichen Frankreich führte dies den Deutschen vor Augen. Erst vor diesem Hintergrund bildete sich im aufstrebenden Bürgertum ein gemeinsames deutsches Nationalbestreben heraus. Einige der Kleinstaaten haben sich sogar gegen die Reichsgründung 1871 gewehrt. Die wurden dann mit militärischer Gewalt gezwungen. Also gab es zuvor kein deutsches Volk?!

Warum reden Franziskas Mitschüler_innen nun die ganze Zeit von Volk und tausendjähriger Geschichte? Besonders interessant findet Franziska, dass in Berlin und Brandenburg früher ein Drittel der Bevölkerung französisch gesprochen hat, wie kann das sein? Sie entdeckt ein wissenschaftliches Buch, das ein paar Antworten parat zu haben scheint. Es ist furchtbar unverständlich geschrieben und Franziska überfliegt nur ein paar Seiten. Dort steht, dass sich erst durch die Entstehung der Nation eine einheitliche Sprache durchgesetzt hat. Auch die Vorstellungen, dass es eine gemeinsame Geschichte, Kultur und Zusammengehörigkeit gebe, sind erst mit dieser Nationenbildung aufgekommen. Jetzt fängt es langsam an, für Franziska Sinn zu ergeben. Sie notiert sich, um das nicht zu vergessen: Deutschland wurde im 19. Jahrhundert erfunden.

Dann klingen wieder die Worte von Herrn Hoffmann in Franziska Ohren: Deutschland habe so viel Gutes geleistet. Im Geschichtsunterricht ist sie immer dazu gedrängt worden, sehr genau zu sein. Sie konnte sich die ganzen Jahreszahlen nie merken und musste sie trotzdem auswendig lernen. Also, denkt sie sich, bin ich jetzt auch einmal ganz genau: Wenn es Deutschland erst seit 1871 gibt, dann fallen Bach, Goethe und Luther raus. Dann notiert sie sich die herausragenden Ereignisse der Geschichte der deutschen Nation aus dem großen Lexikon um ihren Mitschüler_innen davon berichten zu können: 1884 bis 1919 deutscher Kolonialismus (Deutschland hatte zahlreiche Kolonien in Afrika und Asien.) 1904 Genozid an den Herero und Nama in Deutsch-Südwestafrika, erster Weltkrieg, Nationalsozialismus, zweiter Weltkrieg, Holocaust. Deutschland ist ein Gruselkabinett, denkt sich Franziska und versteht langsam, warum sie dieses starke Unbehagen hat, das sich nicht verabschieden wollte. Jetzt wird ihr auch klar, weswegen sie heute nicht zu der Gedenkveranstaltung zur Wiedervereinigung gehen wollte. Sie wäre auf die Gedenkveranstaltung zur Wiedervereinigung des Gruselkabinetts gegangen.

Beim nächsten Treffen der Schulzeitung liegt ihr eifrig geschriebener Artikel auf dem Tisch. Er ist schon viel zu lang geworden und sie weiß nicht, wo sie noch kürzen soll. Franziska ist ein bisschen aufgeregt und unsicher. Dann blicken nacheinander alle auf, nachdem sie fertig mit Lesen sind. „Dein Text ist ganz gut. Ist ja eigentlich interessant. Aber so Geschichtsstunde...in der Schulzeitung, ist das nicht ein bisschen zu dröge?“ Stimmt, denkt sich Franziska. Eigentlich müsste sich auch gefragt werden, was das eigentlich mit uns zu tun hat. Was ist eigentlich heute das Problem damit, dass alle den Blödsinn kaufen?

Nach der längeren Diskussion in der Redaktion der Schulzeitung setzt sie sich hin und schreibt ihren Artikel weiter. Sie fängt damit an, dass nach der Wiedervereinigung sichtbar wurde, dass die Vorstellung von einem „deutschen Volk“ vor allem Gewalt bedeutet. Wie nie zuvor seit dem Nationalsozialismus gibt es rechte und rassistische Attacken, Pogrome und Morde. Bei der Wiedervereinigung haben sich nicht einfach nur zwei Gebilde zusammen geschlossen, sondern etwas ziemlich Gewaltvolles.

Aber vielleicht sammle ich erstmal die ganzen Sachen, die an so einer Nation unerträglich sind, bevor ich hier einfach drauflos schreibe, denkt sich Franziska und beginnt eine Liste. Es werden fast täglich Leute abgeschoben. Das gehört rein, denn eigentlich sollten alle dort wohnen können, wo sie wollen. Und diese Pogromstimmung aus den 1990ern gibt heute immer noch. Eine Freundin, die nicht weiß ist, hat ihr erzählt, dass sie nie nach Brandenburg fährt, weil das zu gefährlich ist. Seit dem Nationalsozialismus leben nur noch sehr wenige Jüdinnen und Juden in Deutschland wegen der nach wie vor starken Judenfeindschaft. Es treffen sich immer noch Vertriebenengruppen, die fordern, dass die Gebiete, die 1945 an Polen abgetreten wurden, wieder zu Deutschland dazugehören sollten... Oh je, das wird eine lange Liste. Franziska beschließt, daraus eine ganze Reihe in der Schulzeitung zu machen.
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Ergänzungen

Broschüre zur Kritik der Nation

Pink Rabbit 09.11.2009 - 02:04
Pink Rabbit legt pünktlich zum 9. November eine Broschüre zur Kritik der Nation vor. Die Broschüre ist im Büro der Naturfreundejugend Berlin erhältlich oder unter folgendem Link:
 http://www.naturfreunde-berlin.de/pink/media/downloads//Broschuere.pdf

„Remember the 9th of November“

ASV Berlin 09.11.2009 - 02:20
Ausstellung ab 09.11. // 15.30h // Rathaus Pankow
Demo 09.11. // 17:00 Uhr // Treffpunkt Mahnmal Levetzowstr.

Ab dem 9. November 2009 um 15.30 Uhr wird die überarbeitete und neu gestaltete Ausstellung „Jüdisches Leben in Pankow – Vom Anbeginn zum Neubeginn“ im Rathaus Pankow (Breite Str. 24A) erstmals feierlich präsentiert und dort dann zwei Wochen zu sehen sein (werktags 6-20 Uhr). Und ebenfalls am 9.11., ab 17 Uhr findet die alljährliche Gedenkdemo in Moabit statt (Treffpunkt Mahnmal Levetzowstr.) Weitere Infos und eine antifaschistische Zeitung zum Gedenken am 9.11. findet ihr hier:  http://www.nadir.org/nadir/initiativ/aim/

Nie wieder Revolution für Deutschland!

LE 09.11.2009 - 02:28
Die INEX-Broschüre „Nie wieder Revolution für Deutschland. Zur linken Kritik an den Wendefeierlichkeiten“ ist fertig und komplett zum Download als PDF erhältlich:  http://inex.blogsport.de/images/inex_versionfinal_web.pdf.7z.zip

Hinweis: Nach dem Download und vor dem Entpacken der Datei bitte die Endung „.zip“ entfernen, das Archiv ist mit 7Z-Komprimierung gepackt. Falls Ihr kein entsprechendes Programm zum Entpacken in Eurem Betriebssystem habt, findet Ihr auf der 7-Zip-Seite die passenden Tools für alle Systeme:  http://www.7-zip.org/download.html

Initiative gegen jeden Extremismusbegriff

brb

Blub 09.11.2009 - 10:13
Deutschland wurde nur nicht 1871 "erfunden", das war lediglich das sogenannte "Zweite Reich". Das erste, das "Heilig-Römische Reich Deutscher Nation" zeigte vor allem mit dem Gebiet "Ludwigs des Deutschen" um 845 große Ähnlichkeit mit dem heutigen Deutschland. Die Zersetzung hin zu den Fürstentümern kam ja erst im späten, ausklingenden Mittelalter auf, als sich das Lehnswesen herausbildete und die Position der Alleinherrscher über Jahrhunderte hinweg schwächte. Die Idee eines gemeinsamen Nationalstaates der sich später ja auch manifestierte kam nicht einfach aus dem Nirvana, so wie es hier dargestellt wird.

fehlt noch nen biisl was

professor 09.11.2009 - 12:41
der inhalt stimmt nicht ganz! einen gemeinsamen nationlstaat mit preußen gab es erst 1871, das ist richtig. aber eine deutsche identität gab es schon länger bzw deuschte. da gab es das "heilige römische reich deutscher nation" oder auch den deustchen orden, der während der kreuzzüge gegründet wurde. "deutsche" gibt es schon länger als 1871. das mit dem französich stimmt auch, ist aber auf die hugenotten zurück zu führen. die nach dem 30-jährigen krieg geschwächte bevölkerungszahl, besonders die der brandenburger, aufstockten.

also leute nicht immer mit wikipedia klugscheißen :)

hey,

cool... 09.11.2009 - 14:10
danke für den tollen text! dank franziska weiss ich jetzt endlich, dass es überhaupt keine basken und keine kurden gibt. (ironie aus) - naja, der text mag manchem alt 68er politiklehrer gefallen und im unterricht für die 5te klasse verwendung finden trotz oder vermutlich eher gerade wegen seiner ideologischen primitivität. franziska sollte vielleicht etwas regelmässiger zur schule gehen.

@.

... 09.11.2009 - 16:14
es geht nicht darum, dass der text sprachlich,naja, sagen wir mal einfach gehalten ist, sondern darum, dass er u.a aus gründen, die hier bereits erwähnt wurden, inhaltlich unsinnig ist. wenn man unterstellen würde, dass es sich dabei um literatur handelt, fiele das wohl am ehesten unter die kategorie "naive kunst".

S C H E I S S E

x.x 09.11.2009 - 16:40
Meiner Meinung nach sehr primitiv. Es reihen sich einige historische Ereignisse aneinander, die begründen sollen warum das Konstrukt der Nation scheiße ist? Soll das n Witz sein?? Eure "Kritik" ist noch nicht mal übertragbar auf andere Nationen. In meinen Augen ist das noch nicht einmal Kritik, sondern einfach nur bürgerliche Moral, hübsch verpackt in einer "antinationalen" bzw. antideutschen Hülle.

Ist ja ganz nett, dass hier mal versucht wird trockene Theorie etwas verständlicher und interessanter zu gestalten. Aber wenn dann so ein geistiger Dünnschiss bei raus kommt, kann letztendlich jeder gut drauf verzichten...

Platte Kritik

RedZack 09.11.2009 - 20:49
Diese Darstellung ist ziemlich platt. Mit 1871 lasst Ihr Deutschland beginnen. Genau so gut könnte man aber auch mit 1949 die Bundesrepublik Deutschland beginnen lassen. Dann wäre der Zweite Weltkrieg, Holocaust und Kolonialismus bei dem Staatswesen, das heute als BRD gefeiert wird, völlig außen vor.

Also, so einfach geht das nun wirklich nicht...

Es erschließt sich auch nicht, warum nun das Jahr 1871 so betont wird. Was tut das zur Sache? Nehmen wir mal an, "Deutschland" wäre als solches erst 1949 gegründet worden, und der Holocaust, der Kolonialismus und der Zweite Weltkrieg wäre somit - nach Eurer Logik - "nur" ein Gemeinschaftsverbrechen von Preußen, Bayern, oder einiger mitteleuropäischer Fürstentümer, aber nichts "deutsches" gewesen. Was bliebe dann noch von der Kritik an der deutschen Nation übrig? Eben.

Merke: Geschichte ist kein Krabbelsack, aus dem man sich rausgreifen kann, was einem gerade so passt.

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Super! — Icke

Überall Mauerfall — "wahnsinn...!"

Nationen entstanden durch den Zwang — (muss ausgefüllt werden)

Örnsthaft — wirklichjetzt.

Hoffnungsschimmer? — Kreuzberger

Realsozialismus — SaZ

Realsozialismus — (muss ausgefüllt werden)

... — .

Franziska — mein Name

@brb — Hans Peter