Mini-Verurteilung in Lüneburg: 10 Tagessätze

PD Brauer 06.11.2009 16:54 Themen: Repression
Am 6.11. fiel vor dem Amtsgericht Lüneburg das Urteil in einem zweitägigen Prozess, von dem selbst die Staatsanwaltschaft (StA) in Frage stellte, ob der nötig gewesen wäre. Die Gegenfrage, wer denn bitte das Verfahren angezettelt hätte, beantwortete sie nicht – beantragte dann aber, wo jetzt schon das Gerichtsverfahren „streitig“ geführt wurde (Begriff dafür, dass der Angeklagte nicht unterwürfig war), dann doch eine Strafe von 30 Tagessätzen. Der Angeklagte forderte Freispruch, das Gericht verhängte 10 Tagessätze zu je 8 Euro. Vorangegangen waren 3 Stunden Streit um Anträge und Justizlogiken.
Der Tatablauf war nicht besonders umstritten – Gericht und Staatsanwaltschaft mussten einräumen, dass nicht zu widerlegen sei, dass das Polizeiauto den Angeklagten tatsächlich angefahren hatte. Der Betroffene hatte durch Beweisanträge zu belegen versucht, dass er bereits längere Zeit in ca. 1,5m Abstand hinter dem zivilen Polizeiwagen stand, als dieser rückwärts losfuhr und, in langsamer Fahrt, auf ihn zufuhr. Die Rückwärtsfahrt erfolgte ohne Pausen und ohne jegliches Anzeichen, dass sich der später Angeklagte zu entfernen hätte - wie Hupen, Rufen, Blaulicht, Martinshorn oder Ähnliches. Die Fahrt stoppte erst, als das Auto gegen ihn stieß und er dadurch mit dem Oberkörper auf die Heckscheibe gedrückt wurde bzw. den Aufprall mit den Händen abfing. Der Aufprall und das Abstützen mit den Händen erzeugte ein Geräusch, dass im Innern des Wagens als versuchte Sachbeschädigung wahrgenommen oder gezielt umgedeutet wurde. Daraufhin war ein Polizeibeamter auf dem Wagen gesprungen und hatte den Angefahrenen der Sachbeschädigung am Auto beschuldigt – worauf dieser entsetzt zurückfragte, ob der Beamte „einen an der Waffel hätte“, in dieser Weise eine gerade angefahrene Person anzugehen. Daraufhin wechselte der Straftatvorwurf und nun wurde es ein Verfahren wegen Beleidigung.

Am ersten Verhandlungstag waren Richter und Verfolgungsbehörden offenbar nicht auf ein offensiv geführtes Verfahren eingestellt. So scheiterte der Versuch, schnell alles abzuwickeln – und es musste ein zweiter Verhandlungstag her.

Am Freitag, 6.11., um 10 Uhr ging’s dann am zweiten Tag los. Richter Maier stellte fest: „Erstmal keine weiteren Beweismitteln nötig“. Dann wurden die Befangenheitsanträge vom ersten Tag abgelehnt. Knapp 30min Fragezeit seien tatsächlich viel Geduld, befand der darüber beschließende Richter – offenbar sollen Angeklagte in Lüneburg (und anderswo) die Klappe halten.

Dann stellte der Angeklagte zwei Fragen an den Staatsanwalt – diesmal war einer der wichtigen Ankläger persönlich erschienen:

  1. Ich beantrage die Mitteilung, ob und – wenn ja – welche entlastenden Punkte, Beweiserhebungen u.ä. im Laufe des Ermittlungsverfahren vollzogen oder geprüft wurden – und mit welchem Ergebnis.
  2. Ich beantrage die Mitteilung, ob und – wenn ja – welche Ermittlungsverfahren aus den hier behandelten Abläufen einschließlich der Vernehmungen und Einlassungen am letzten Verhandlungstag eingeleitet wurden bzw. ob welche eingestellt oder anders abgeschlossen wurden.

Zu beidem waren noch Begründungen angeführt. Der Staatsanwalt wirkte nicht besonders amüsiert. Es sei alles in der Akte, was ermittelt wurde, sagte er zum ersten. Zum zweiten behauptete er, nicht zu wissen, was denn gemeint sein könne. Der Angeklagte las aus dem Befangenheitsantrag genaue Informationen vor und warf dem Staatsanwalt vor, nicht zuzuhören oder die Akten zu lesen. Das Verhältnis von Angeklagten und Staatsanwaltschaft war die ganzen drei Stunden sehr streitvoll – immer wieder warf der Angeklagte der Staatsanwaltschaft vor, die eigene Hilfsbehörde zu schützen und Polizeikritiker politisch zu verfolgen.

Jedenfalls stand dann fest: Es waren keine weiteren Verfahren eingeleitet im Zusammenhang mit dem Vorgang. Ob der Fahrer eine Straftat begang, wurde nie überprüft – das würde Menschen ohne Polizeizugehörigkeit sicherlich so nicht passieren, kritisierte der Angeklagte.
Der Angeklagte gab eine persönliche Erklärung ab, dass die StA kein Ermittlungsinteresse zeige und dem Vortrag des Angeklagten nicht zuhören würde.

Dann folgte ein Antrag des Angeklagten zu den Abläufen vor dem Anfahren. Ziel war die Ladung des Fahrers und von 2 weiteren PolizeibeamtInnen, die neben dem Auto standen und das Geschehen daher sehr unmittelbar verfolgen konnten. Der StA nahm Stellung und stimmte der Ladung der beiden Polizisten zu, die außen am Auto stamden – hätte etwas mit der Strafzumessung zu tun (nicht mit dem Tatbestandsgeschehen). Den Fahrer Olm wollte er nicht laden lassen, sondern immer nur über den Einzelvorgang der vermeintlichen Beleidigung reden.
Doch der Beschluss durch Richter lautete konsequenter: Der Beweisantrag wird ganz zurückgewiesen. Begründung: Die Erhebung des Beweises sei ohne Bedeutung, denn das Gericht geht nach derzeitiger Sachlage nicht davon aus, dass der Angeklagte hinter das Fahrzeug gesprungen ist, sondern dass der Angeklagte sich dort bereits längere Zeit aufgehalten hat.

Dann folgte ein Beweisantrag zu Bedeutung der Bemerkung „einen an der Waffel haben“:
Die Formulierung „einen an der Waffel haben“ hat eine Vielzahl von Bedeutungen. Als Hauptbedeutung wird unter www.redensarten-index.de angegeben: „leicht verrückt sein“ und „etwas Unverständliches tun“.
Die Bedeutung für den Prozess sei, dass festgestellt werden müsse, welche Bedeutung die Formulierung im Kontext der Handlung hatte. Wenn ein Mensch von einem Auto angefahren wird und ein Insasse des unfallverursachenden Fahrzeugs als Reaktion den Angefahrenen bedrängt und bedroht, dann wäre eine Formulierung, die darauf hinweist, dass die aggressive Person „etwas Unverständliches tut“ keine Beleidigung, sondern eine starke Untertreibung eines tatsächlich ziemlich absurden Verhaltens.
Doch der Antrag wurde ebenfalls abgelehnt – diesmal, weil es angeblich keine Tatsachenfrage ist.
So ging es weiter. Der Beweisantrag dazu, dass sich „einen an der Waffel haben“ auf die konkrete Situation und nicht den Polizeibeamten Wefer insgesamt bezogen habe, wurde aus den gleichen Gründen abgelehnt.

Dann ging es wieder um die Abläufe des Anfahrens. Der Angeklagte reichte als Beweisantrag ein:

„Das Anfahren meiner Person erfolgte absichtlich.“
Als Begründung trug er vor: „Die Vernehmung des Polizeibeamten Wefer ergab, dass dieser sich – nach seiner Aussage – erstens vor dem Rückwärtsfahren selbst umgeschaut haben will. Zweitens hat er behauptet, der Fahrer hätte nach hinten geschaut (ein beim Rückwärtsfahren auch vorgeschriebenes Verhalten). Drittens hat er behauptet, dass der Fahrer vor der Abfahrt im Fahrzeuginnenraum nachfragte, ob eine Person hinter dem Wagen stand. Aus all dem leite ich, der ich weiß, dass er hinter dem Fahrzeug stand, den dringenden Verdacht ab, dass den Polizeibeamten klar war, dass ich hinter dem Fahrzeug stand, als dieses losfuhr.“
Zudem äußerte er zur Bedeutung für den Prozess: „Die gegen mich erfundene Strafanzeige dient als Schutzbehauptung für Straftaten des möglicherweise aus diesem Grund auch nicht als Zeugen geladenen Fahrers des zivilen Polizeiautos. Ich soll bestraft werden, um einen uniformierten Gewalttäter zu decken – eine fraglos bei Gerichten und Staatsanwaltschaften üblicherweise auf Unterstützung treffende Form der Strafvereitelung im Amt und Verfolgung Unschuldiger – weswegen sie auch immer wieder von der Polizei vollzogen wird.“
Der StA forderte wieder die Ablehnung: „Wir können das nicht herleiten. Es handelt sich um subjektive Wahrnehmungen der Beteiligten und es geht um die Frage der inneren Einstellung.“ Immerhin schien er jetzt zu kapieren, was hier im Raume stand – denn er bemerkte, dass alle Beteiligten ein Aussageverweigerungsrecht hätten. Sehr schlau: Gegen Polizeitäter wird zwar nicht ermittelt, aber ein Aussageverweigerungsrecht haben sie trotzdem.

Beschluss des Gerichts: Abgelehnt, weil es für die Beurteilung auf die Sicht des Angeklagten zum Tatzeitpunkt ankommt und nicht darauf, ob die Rückwärtsfahrt in Richtung des Angeklagten absichtlich erfolgte oder nicht.
Immerhin was: Hinter diese Betrachtung konnte das Gericht eigentlich – formal betrachtet – nicht mehr zurück. Und ebenso eigentlich hätte nun ein Freispruch erfolgen müssen, denn das Gericht legte die Version zugrunde, nach der der Angeklagte vom Polizeiauto angefahren wurde und dann dafür auch noch einen Sachbeschädigungsvorwurf erhielt – eine fraglos seltsame Handlung. Der Freispruch kam aber nicht.

Pause um 10.36 Uhr wegen Schreibens weiterer Beweisanträge durch den Angeklagten.
Beweisantrag: „Es gab keine Schaulustigen, die das Geschehen verfolgten.“ Dazu gab es eine Begründung, als Beweismittel sollten die PolizeibeamtInnen Baumgärtner und Richter vernommen werden.
Beweisantrag: „Herr Wefer ist nach dem hier verhandelten Vorkommnis nicht wieder ins Auto eingestiegen.“ Auch hier folgte eine Begründung und die Beweismittel Baumgärtner und Richter sowie der Inhaftierte im Auto.
Schließlich noch der Beweisantrag: „Die Fahrt von Herrn Olm war schnell und brach mit mehreren Verkehrsvorschriften“. In der Begründung verlas der Angeklagte einen Brief des Chefs der Einsatzleitung, Manfred Bütow, in dem der eine furiose Fahrt mit Übertreten von mehreren Verkehrsvorschriften beschrieb, was er aber bei Polizeieinsätzen für völlig normal hielt.
Der StA fand – welch Überraschung -, dass das alles zum Tatgeschehen keine Rolle spielt. Dabei verwechselte er den Bezug: Es ging dem Angeklagten um dieGlaubwürdigkeit des einzigen Zeugen, die StA guckte aber immer nur nach der Relevanz für Kerngeschehen. Die Losung hieß: Polizei darf nicht angemeckert werden – egal, was sie vorher getan hat.
Das Gericht blieb auch seiner Linie treu und beschloss: Alle werden abgelehnt. „Auf die Glaubwürdigkeit des Zeugen kommt es soweit nicht an.“

Der ganze Ablauf zeigte, dass diesmal Richter und andere Beteiligten klar hatten, was hier lief. Richter Maier hatte beschlossen, einfach alles auszusitzen, alles abzulehnen, aber lieber nichts zu unterbrechen, um keine Rechtsfehler zu begehen. Im Publikum hatten der Staatsschutz, der Polizeidirektor persönlich und weitere Angehörige der Justiz Platz genommen – offenbar um das Geschehen zu erleben. Wollten sie ihre Kritiker kennenlernen? Oder – was sicherlich notwendig wäre – ein bisschen Nachhilfeunterricht in Rechtssachen nehmen?
Das Aussitzen des Richters hatte dann aber doch eine Grenze. Als der Angeklagte einen Antrag zu systematischen Bevorzugung von Polizeizeugen vorlas, wurde er nach Begründungspunkt 2 unterbrochen. Die weitere Verlesung wurde untersagt. Der Angeklagte forderte dazu Gerichtsbeschluss und kündigte einen ... der Richter ergänzte selbst „Befangenheitsantrag“ an. Dafür beantragte er eine Pause von 30min. Ihm wurden nur 9min gewährt. Als die rum waren, gab es einen anderen Befangenheitsantrag als erwartet:

„Mir ist um 11.11 Uhr eine Pause gewährt worden bis 11.20 Uhr, um einen Befangenheitsantrag zu formulieren. Ich hatte 30min beantragt, um den Antrag, der durch das Verbot, einen Beweisantrag vollständig vorzutragen, ausgelöst wurde, zu verfassen. Der eingeräumte Zeitrahmen von 9 min ist viel zu kurz und dient dem Zweck, meine prozessoralen Rechte weiter zu beschneiden. Dieses wirkt umso schwerer, als mir auch bereits eine Frage an den einzigen Zeugen verweigert wurde und die bisher benannten weiteren ZeugInnen nicht geladen werden, obwohl sie als direkte ZeugInnen zur Aufklärung mit hoher Wahrscheinlichkeit beitragen können. Meinen ursprünglich vorgesehenen Befangenheitsantrag kann ich nun nicht mehr stellen. Es entsteht der Verdacht, dass diese Ziel der kurzen Pause war.“

Nach dem Verlesen rügte der Angeklagte fehlerhaftes Vorgehen bei den bisherigen Befangenheitsanträge, nämlich dass er die dienstliche Erklärung nicht zur Stellungnahme erhalten hätte. Der Richter bezeichnete das als Versehen und bedankte sich für Korrektur. Doch er wiederholte den gleichen Fehler noch mal – wobei zu sehen war, dass dieser recht junge Richter mit Befangenheitsanträgen noch nicht sonderlich geübt war.
Der StA fand in seiner Stellungnahme die Pause lang genug – mit der absurden Begründung, dass der Angeklagte ja sehr prozesserfahren sei und deshalb die wenige Minuten reichen würden. Dann folgten verschiedene Pausen, bis der Befangenheitsantrag schließlich behandelt werden konnte. Er wurde unter anderem abgelehnt, weil der Antrag zu kurz und nicht ausreichend begründet war (was ja wegen der Zeit nicht anders ging – das war ja Gegenstand des Befangenheitsantrags).
Dann war es vorbei. Die Vorstrafe wurde verlesen (Urteil 29.11.2007 in Gießen), dann folgte das Ende der Beweisaufnahme. Der StA guckte sich den Steuerbescheid des Angeklagten an und blätterte in StPO. Danach erhob er sich zu seinem Plädoyer, ging auf das Rahmengeschehen (Baumkletterverbot in Lüneburg) und den Ablauf ein. Ziemlich deutlich war, dass er eine Verurteilung wollte, weil der Angeklagte vor Gericht offensiv auftrat. Überraschend eindeutig forderte er auch die ursprüngliche Strafhöhe trotz erkennbarer milder Umstände – nämlich dass die Polizei beleidigt wurde. Das sei strenger zu handhaben. Sein Antrag: 30 Tagessätze zu 5 Euro.
Dann kam das Plädoyer des Angeklagten, der vor allem das absurde Handeln der Polizei beschrieb, bei der das Anfahren seiner Person nur eine von vielen gewalttätigen Handlungen sei. Es sei völlig normal, dass die Opfer angepöbelt, angezeigt und jetzt auch noch angeklagt würden. Dafür zitierte er Zahlen aus Berlin über Anzeigen gegen PolizistInnen und den Umgang seitens der Justiz damit. Zur Sache stellte er die Ergebnisse der Verhandlung noch mals im Zusammenhang dar und forderte dann einen Freispruch.
15 Minuten später erfolgte dann das Urteil: 10 Tagessätze zu je 8 Euro. Damit blieb der Richter unter dem Strafmaß, nach dem eine zweite Instanz automatisch möglich ist. Das könnte auch sein Hauptziel sein: Verurteilen ja. Überprüfen von diesem Unsinn: Nein. Der Angeklagte wird trotz Berufung einlegen und beantragen, dass es zu dieser auch kommt.

Creative Commons-Lizenzvertrag Dieser Inhalt ist unter einer
Creative Commons-Lizenz lizenziert.
Indymedia ist eine Veröffentlichungsplattform, auf der jede und jeder selbstverfasste Berichte publizieren kann. Eine Überprüfung der Inhalte und eine redaktionelle Bearbeitung der Beiträge finden nicht statt. Bei Anregungen und Fragen zu diesem Artikel wenden sie sich bitte direkt an die Verfasserin oder den Verfasser.
(Moderationskriterien von Indymedia Deutschland)

Ergänzungen

ganz schlechte Erklärung...

Meister Lampe 10.11.2009 - 17:40
Das Gericht blieb auch seiner Linie treu und beschloss: Alle werden abgelehnt. „Auf die Glaubwürdigkeit des Zeugen kommt es soweit nicht an"

...achja, wie konnte ich das nur vergessen?

Mit dieser Aussage hat der Herr Richter sich aber eindeutig selbst disqualifiziert und mit der Blödsinnigkeit seiner Argumentation ziemlich eindrucksvoll die Vorwürfe des Angeklagten untermauert.

Aber die Verurteilung musste natürlich sein, sonst hätte ja das Verhalten eines Beamten hinterfragt werden müssen - und das ist doch schließlich nicht möglich...