[Aachen] BVerfG: Boere ist verhandlungsfähig

AK Kein Vergessen! 26.10.2009 10:08 Themen: Antifa Antirassismus Medien Militarismus Weltweit
Prozess gegen SS-Mörder Heinrich Boere findet definitiv statt +++ Boere hatte Klage beim BVerfG erhoben +++ BVerfG urteilte, Boere sei verhandlungsfähig +++ Kundgebung zum Prozessauftakt geplant
Am 28. Oktober beginnt vor dem Landgericht Aachen einer der letzten NS-Prozesse. Angeklagt ist der 88-jährige Heinrich Boere, dem in drei Fällen Mord an vermeintlichen Sympathisant_innen der Widerstandsbewegung in den Niederlanden vorgeworfen wird. Boere hatte beim Bundesverfassungsgericht (BVerfG) Klage gegen die Ladungsverfügung des Landgerichts Aachen vom 29. Juli 2009 und den Beschluss des Oberlandesgerichts Köln vom 1. Juli 2009 erhoben. Der Beschluss hatte Boere für verhandlungsfähig erklärt. Dies focht Boere an. In der Klage wurde erklärt, durch die psychischen Belastungen bei der Gerichtsverhandlung könne ein Herz-Kreislauf-Versagen verursacht werden. Daher sei Boere nicht verhandlungsfähig. Das BVerfG lud im Beschwerdeverfahren den Leiter des Altenheims, in dem Boere lebt, und die für ihn zuständige Pflegedienstleiterin als Zeug_innen. Diese sagten aus, der Gesundheitszustand Boeres habe sich „zusehends verbessert“. Das BVerfG kommt in einer Presseerklärung zu dem Schluss: „Nach Abwägung seines grundrechtlich geschützten Interesses an körperlicher Unversehrtheit mit der Pflicht des Staates zur Gewährleistung einer funktionstüchtigen Strafrechtspflege habe der Beschwerdeführer [Boere; Anm. d. Verf.] die Durchführung der Hauptverhandlung hinzunehmen. Die lebensbedrohliche Herzerkrankung sei sein allgemeines Lebensrisiko, das sich bei angepasster Verhandlungsführung nicht noch zusätzlich in einer Weise erhöhe, dass von einer Hauptverhandlung Abstand genommen werden müsse.“ Zwar sei es möglich, dass Boere gesundheitliche Schäden davontrage; die Wahrscheinlichkeit, dass dies passiere, wird vom BVerfG allerdings als gering eingeschätzt. Somit wird der Prozess gegen Boere definitiv stattfinden.

Boere war Angehöriger des SS-Sonderkommandos „Feldmeijer“. Dieses Kommando ermordete mehr als 50 vermeintliche Sympathisant_innen der Widerstandsbewegung in den Niederlanden. Für jeden getöteten Nazi wurden drei „antideutsch eingestellte oder aber als mit Widerstandskreisen zusammenarbeitend bekannte Niederländer“ getötet. Heinrich Boere wird in dem nun anstehenden Prozess gemeinschaftlicher Mord in drei Fällen vorgeworfen: an dem Apotheker Fritz Hubert Ernst Bicknese in Breda, an Frans Willem Kusters in Wassenaar und an dem Fahrradhändler Teun de Groot in Voorschoten. Seine Taten, die er als Hauptscharführer der Germanischen SS in den Niederlanden begangen hat, werden von der Staatsanwaltschaft Dortmund, vertreten durch Ulrich Maaß, als „völkerrechtswidrige Repressionen gegen die niederländische Bevölkerung“ eingestuft, die Erschießungen als „heimtückisch“ und aus „niedrigen Beweggründen“ bewertet.
1983 wurde schon einmal Ermittlungen gegen den NS-Täter Heinrich Boere eingeleitet, damals noch unter der Federführung des Dortmunder Oberstaatsanwaltes Hermann Weissing. In der Einstellung des Verfahrens hieß es damals, dass die Erschießungen der drei Zivilisten als eine nach der Haager Landkriegsordnung zulässige Repressalie zu bewerten seien und Boere zudem nur auf Befehl von Vorgesetzten gehandelt habe. Auch die Frage, ob die Morde heimtückisch begangen worden seien, wollte man damals nicht eindeutig bejahen.
Es bleibt also spannend, ob das Gericht auch heute noch der Auffassung ist, dass die Waffen SSler in den Niederlanden keine Verbrechen begangen hätten, dass niederländische Zivilist_innen erschossen werden durften (weil ja der Widerstand repressiert werden musste), dass Befehlsempfänger_innen im NS sich nichts zu Schulden haben kommen lassen.

Ohne Druck vonaußen würde der Fall Boeres wohl kaum ab kommender Woche in Aachen verhandelt werden.
Erst nachdem die Niederlande auf Grundlage einer veränderten EU-Gesetzgebung im Jahr 2003 die Übertragung der Haftstrafe Boeres nach Deutschland beantragen konnten, wurde der Fall hier wieder aufgerollt. Das Landgericht Aachen entschied, dass die Haftstrafe Boeres in Deutschland vollstreckt werden könne. Köln widersprach, da Boere in Abwesenheit verurteilt worden sei und er keine Möglichkeit der Verteidigung seiner Person habe nutzen können. Und so erhob vier Jahre später die Oberstaatsanwaltschaft Dortmund Anklage wegen dreifachen Mordes. Nachdem dann das Landgericht Aachen Boere zunächst für nicht verhandlungsfähig erklärte, hob das Oberlandesgericht Köln diesen Beschluss wiederum auf. Boere sei sehr wohl verhandlungsfähig. Erst jetzt, 2009, wird das Verfahren also beginnen, die Morde an Teun de Groot und an den anderen Niederländern werden nach zahlreichen Presseveröffentlichungen und Protestaktionen endlich als Mord klassifiziert.

Der Prozess gegen Boere wird vom „AK Kein Vergessen!“ u.a. mit einer Kundgebung und einer Veranstaltungsreihe begleitet.

In der ersten Veranstaltung wird neben einem Fokus auf Heinrich Boere auch auf andere niederländische NS-Täter eingegangen. Denn Boere ist nicht der einzige niederländische NS-Verbrecher, der auf der Liste des niederländischen Justizministers steht. An den Lebenswegen dieser Kollaborateure lässt sich exemplarisch der deutsche Umgang mit NS-Tätern nach 63 Jahren bilanzieren. Die Referenten werden zudem die deutsche Fluchthilfe für europäische SS’ler beleuchten, die auch ein Stück Aachener Stadtgeschichte beschreibt. Die Veranstaltung findet statt mit Teun de Groot, Sohn des von Heinrich Boere ermordeten Teun de Groot, Arnold Karskens, Journalist aus Amsterdam, Detlef Hartmann, Rechtsanwalt aus Köln und Vertreter der Nebenklage und Stephan Stracke, Historiker aus Wuppertal.

Nie wieder Faschismus! Nie wieder Krieg!
Nichts und Niemand ist vergessen!
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Ergänzungen

Kundgebung zum Prozessauftakt

AK Kein Vergessen! 26.10.2009 - 10:23
Zum Prozessauftakt am 28. Oktober wird eine Kundgebung vor dem Landgericht Aachen stattfinden, um auf den Prozess aufmerksam zu machen.

“Kein Vergessen! Keine Ruhe für NS-Täter!“
Kundgebung zum Prozessauftakt gegen Heinrich Boere
Mittwoch, 28. Oktober 2009, 9 Uhr
Landgericht Aachen, Adalbertsteinweg 92

Veranstaltungsreihe

AK Kein Vergessen! 26.10.2009 - 10:26
Veranstaltungsreihe des AK Kein Vergessen!, des ak antifa aachen und der AFA-Nederland:

Dienstag, 27.10.2009 VHS Aachen, 2.Etage: Forum Beginn 19:00
Der Silbertannen-Mörder Heinrich Boere vor Gericht!

Eine Veranstaltung mit Teun de Groot, Sohn des von Heinrich Boere ermordeten Teun de Groot, Arnold Karskens, Journalist aus Amsterdam, Detlev Hartmann, Rechtsanwalt aus Köln und Vertreter der Nebenklage und Stephan Stracke, Historiker aus Wuppertal
In der Veranstaltung wird neben einem Fokus auf Heinrich Boere auf andere niederländische NS-Täter eingegangen. Denn Boere ist nicht der einzige niederländische NS-Verbrecher, der auf der Liste des niederländischen Justizministers steht. An den Lebenswegen dieser Kollaborateure lässt sich exemplarisch der deutsche Umgang mit NS-Tätern nach 63 Jahren bilanzieren. Die Referenten werden zudem die deutsche Fluchthilfe für europäische SS'ler beleuchten, die auch ein Stück Aachener Stadtgeschichte schreibt.

Freitag, 6.11.2009 Haus Löwenstein, Markt 39, Beginn 19.00h
Die SS in den Niederlanden

In den Niederlanden war die SS während des Zweiten Weltkriegs präsenter als in den anderen besetzten Ländern Westeuropas. Der Unterdrückung des niederländischen Widerstandes und der Durchsetzung der nationalsozialistischen Rassepolitik stand der Versuch gegenüber,
niederländische Kollaborateure für das "Neue Europa" der SS zu gewinnen. Thomas Müller beleuchtet in dem Vortrag den historischen Kontext des "Falles Boere".

Freitag, 13.11.2009 Haus Löwenstein, Markt 39, Beginn 19.00h
Neuer Nationalismus und der bundesdeutsche Umgang mit NS-Verbrechen

Der Referent wird in seinem Vortrag den aktuellen und historischen Umgang mit NS Verbrechen darstellen und die Frage stellen, ob im Umgang mit deutscher NS-Geschichte ein Paradigmenwechsel stattgefunden hat, der Entscheidungen wie die Rehabilitierung von Deserteuren ermöglicht. Auch wird es um einen Wandel nationalistischer Diskurse gehen, der mit der Parole "Nie wieder Faschismus, nie wieder Krieg" hin zu der erstmals von Joseph Fischer hervorgebrachten Argumentation genau wegen Auschwitz wieder Angriffskriege zu führen, umrissen werden kann. Der Referent wird sich auf die Suche nach Antworten begeben, warum heute doch noch einzelne Prozesse gegen NS-Verbrecher stattfinden, die seit 60 Jahren verweigert wurden und was das mit dem "Ansehen Deutschlands in der Welt" zu tun hat.

Freitag 20.11.2009 Haus Löwenstein, Markt 39, Beginn 19.00h
Das Fortwirken der NS-Kollaborateure auf europäischer Ebene

Die Nichtverfolgung zahlreicher NS-Verbrechen hatte viele Folgen. Neben den persönlichen Dimensionen, gerade für die Opfer des NS und deren Angehörigen ermöglichte die ausbleibende Strafverfolgung den Tätern, NS-Ideologie weiterhin zu forcieren, sich zu re-organisieren und ihr Wissen weiterzutragen. Der Referent Jörg Kronauer beleuchtet in der Veranstaltung die Strukturen von NS-Kollaborateuren auf europäischer Ebene nach dem NS. Es wird um Kontinuitätslinien alter Nazis zur aktuellen extremen Rechten gehen, um das Fortwirken der alten NS-Kollaboration bis heute.

In dubio pro reo? Von wegen!

Ergänzer_in 26.10.2009 - 23:43
@Gabel: Hier findet keinesfalls eine "Vorverurteilung" statt. Boere selbst hat die Morde öffentlich zugegeben. Ich zitiere aus dem letzten Artikel des AK Kein Vergessen!:

"In einem Interview kommentierte er seine Morde lächelnd mit „Peng! Tot!“. Auf die Frage, ob das Morden ihm schwerfiel, antwortete er: „Ach, nein, schwer fiel mir das nicht. Man braucht doch nur einen Finger krumm zu machen“."

Der Artikel ist zu finden unter:  http://de.indymedia.org/2009/09/262272.shtml

Beiträge die keine inhaltliche Ergänzung darstellen

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