Anarchismus in St. Petersburg

Ostbote 07.10.2009 07:25 Themen: Antifa Freiräume Repression Soziale Kämpfe Weltweit
In St. Petersburg, Russland, hat sich seit den 80ern eine bewegte anarchistische Szene entwickelt. Sichtbarer Ausdruck davon ist ein anarchistisches Treffen (Festival/Kongress), das jeden November stattfindet (heuer 6.-8.11.). Dieser Artikel fasst die Ereignisse der letzten Jahre kurz zusammen.
Von der sozialrevolutionären Journalistin bis zum Bahnhofspunk, von der Antifa bis zur Landkommune findet Ihr im heutigen Russland, besonders in den Metropolen Moskau und St. Petersburg, im Prinzip alles, was Ihr auch aus dem Westen kennt (einschließlich Problemen wie Sexismus und Drogen und entsprechender Diskussionen). Es gibt Demos, Hausbesetzungen, Straßenaktionen wie "Food Not Bombs", "Critical Mass" oder "Reclaim the Streets", Infoläden, Zeitschriften, Radiosendungen, Graffiti und viele Bands. Linke Skins und Hools jagen Nazis, anarchistische KünstlerInnen provozieren im öffentlichen Raum, UmweltaktivistInnen besetzen Kraftwerksschornsteine, WissenschaftlerInnen veranstalten jährliche Bakunin-Gedenkkongresse, HIV-Infizierte kämpfen gegen Diskriminierung, und nachts brennt immer wieder mal eine Bullenwache...

Seit 2004 findet jeden November unter dem Titel "Tschorny Pjetrograd" ("Schwarzes Petersburg") ein anarchistisches Festival statt. Die Anfänge waren dabei klein, bescheiden und bedroht - 2004 war die Organisation so chaotisch, dass für das Abschlussplenum kurzerhand ungefragt das Memorial-Zentrum gesquattet werden musste! Außerdem wurde damals ein Squat, in dem viele der TeilnehmerInnen untergebracht waren, von Faschos u. a. mit einem Molotowcocktail angegriffen. 2005 wurde Timur Katscharawa auf dem Weg von einer Food Not Bombs-Aktion (kostenlose Essensverteilung in der Stadt) zum Konzert von Neonazis erstochen, die damals in Petersburg noch allgegenwärtig waren ( http://de.indymedia.org/2005/11/132648.shtml); eine ernstzunehmende antifaschistische Bewegung kam damals gerade erst auf.

Spätestens seit dem Petersburger G8-Gipfel im Juni 2006, der von einer intensiven (wenn auch eher zahnlosen) Repression begleitet war, fand das Geschehen in dieser Stadt innerhalb der internationalen anarchistischen Bewegung immer mehr Aufmerksamkeit. So wurde auch beschlossen, das Festival nicht aufzugeben. Es gelang der Antifa, die rechten Schläger zurückzudrängen. Zum "Tschorny Piter 2006" reisten AnarchistInnen aus verschiedenen Ländern der ehemaligen Sowjetunion an. Das Festival blieb dennoch hauptsächlich als Massenbesäufnis in Erinnerung, und am Rande gab es zahlreiche gewaltsame Konfrontationen mit Neonazis.

Die 2007er-Ausgabe mauserte sich dann so langsam zu einem ernstzunehmenden internationalen Treffen. Nicht dass der Spaßfaktor mit Party und Konzerten reduziert worden wäre, aber es gab auch zahlreiche politische Aktionen in der Stadt und eine Art Konferenz mit Workshops, Filmen und Vernetzungsarbeit. Positiv auch zu vermerken, dass die Faschos diesmal keine Angriffe mehr wagten. Einen Bericht findet Ihr unter  http://projekte.free.de/schwarze-katze/texte/a77.html.

Im folgenden Sommer wurde nach einer militanten Antifa-Aktion die Petersburger Punkszene zwei Monate lang von allen verfügbaren staatlichen Verfolgungsorganen auseinandergenommen, Alexej Bytschin befindet sich seither (und vermutlich noch für vier weitere Jahre) in Haft. Die Antirepressionsarbeit scheint dem Organisationsgrad der Petersburger AnarchistInnen aber gut getan zu haben, die 2008er-Ausgabe des Festivals soll die vorige um Längen getoppt haben. Weniger Chaos, mehr Straßenaktionen, interessantere und besser organisierte Workshops und viel mehr TeilnehmerInnen sind die Stichworte, die dazu von BesucherInnen zu hören waren (wobei wegen der Vielzahl der gleichzeitig stattfindenden Aktivitäten niemand in der Lage ist, halbwegs realistische Besuchszahlen zu geben, aber es müssen ein paar hundert Leute gewesen sein).

Darum wird dieses anarchistische Festival auch heuer wieder stattfinden. Das "Schwarze Petersburg 2009" steigt vom 6. bis 8. November 2009. Laut einer vorläufigen Ankündigung sind bisher folgende Arbeitsgruppen, Workshops und Diskussionen geplant:

- Alternative Bildung / Arbeitsgruppe mit der St. Petersburger "Straßenuniversität" und dem Minsker Netzwerk für gegenseitiges Lernen / Anarchistische Elternschaft
- Linuxkurs (Copyright-Verletzungen durch Besitz von Microsoft-Raubkopien dienen in jüngster Zeit immer häufiger als Vorwand für Durchsuchungen bei russischen Oppositionellen)
- "Reclaim the City"-Arbeitsgruppe mit Critical Mass (Fahrraddemo), Food Not Bombs (Essenverteilung), Psychogeografie und Wiederaneignung städtischer Räume, Hausbesetzung in St. Petersburg
- Anti-Sexismus-Arbeitsgruppe
- Arbeitsgruppe "anarchistische Kritik und Theorie" mit Seminaren über die Neue Rechte, Sexismus in der Antifa, Diskussion über Bewegungen an den Rändern der Gesellschaft, Postanarchismus / Poststrukturalismus
- Anarchistisches Handwerk (von Kochen für Food Not Bombs über Selberbrauen bis zur Zeitschriftenproduktion)
- Anti-Kriegs-Arbeitsgruppe mit Tipps zur Vermeidung des Militärdiensts
- Diskussion zum "Krieg gegen Drogen"
- Arbeitsgruppe Antirepression: Anarchist Black Cross, Kampagnen gegen Polizeibrutalität, gegenseitige Hilfe und neue Kampagne gegen die "E"-Abteilung der Polizei ("Zentrum für Gegenmaßnahmen gegen den Extremismus")

Außerdem soll es u. a. Ausstellungen aktueller, radikaler und politischer Kunst (Graffiti und Samisdat-Presse) geben sowie eine anarchistische Tischtennismeisterschaft, eine alternative Stadtführung durch St. Petersburg, Filmvorführungen und Konzerte (von Liedermaching bis Punkrock und... lasst Euch überraschen). OK, dann wären da noch die Technix:

* Falls Ihr den Schwarzen Peter besuchen wollt:
EU-BürgerInnen benötigen ein Visum für Russland. Das ist in Deutschland für 50-90 Euro innerhalb von zwei Wochen zu kriegen (gilt dann gleich für 30 Tage). Trotzdem solltet Ihr Euch baldmöglichst drum kümmern, denn das gibt's nicht überall, und wenn Ihr einfach selbst auf die Botschaft oder ein Konsulat rennt und ein Visum beantragt, zahlt Ihr Euch dumm und dappich an den Schmiergeldern, ehe Euer Antrag bearbeitet wird. Als Reisezweck würde ich "Besuch eines anarchistischen Treffens" nicht empfehlen, "Tourismus" macht sich da schon besser. Fragt am besten ein paar RussInnen (in Deutschland).
Mit allen Fragen, die den Aufenthalt im Land betreffen (z. B. Anlaufstellen, Pennplatzsuche und wo genau das ganze dann am 6.11. startet) könnt Ihr Euch (auf Englisch oder Russisch) an rush83 >ATPUNKT< net wenden. Dass Ihr am besten warme Klamotten und halbwegs wasserdichtes Schuhwerk mitnehmen solltet, kann ich Euch aber gleich sagen - um diese Jahreszeit fährt man nun mal nicht an die Ostsee, um das schöne Wetter zu genießen.

* Falls Ihr selber was organisieren wollt:
Vorschläge für Seminare und Diskussionen bitte ebenfalls an die genannte E-Mail-Adresse. Formuliert das Thema, schreibt, wieviel Zeit Ihr dafür braucht und ob Ihr einen Beamer benötigt. Wenn Ihr eigene Filme zeigen wollt, gebt an, ob der Film auf Russisch ist oder russische Untertitel hat, und wie lang er ist.
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Ergänzungen

ergänzung

rsh415 07.10.2009 - 16:31
das mit dem visum und der einreise schlagt euch mal schnell ausm kopf, wenn ihr nicht richtig blechen wollt, oder gleich mit ner mikrowelle im gepäck einreist.

ich war im sommer in sankt petersburg und musste einen monat vorher nen visum beim russischen konsulat beantragen (es gibt nur wenige auslandsvertretungen russlands in deutschland, mitunter darf man durchaus durch 3 bundesländer gurken, um eines zu erwischen.) dort muss dann eine einladung vorgelegt werden, sofern ihr "tourismus" angebt. davon reicht eine kopie des originals. diese einladung muss in russland bei den örtlichen behörden ausgestellt werden, was man im "tourismus"-fall über ein reisebüro machen muss. das lasst ihr euch dann per mail schicken. dann braucht ihr noch die genauen daten eurer einreise, was heißt: ein flug muss gebucht sein. damit geht ihr dann zum konsulat und blecht 35€. sofern ihr nicht schonmal in tschetschenien ward oder sonstigen scheiß veranstaltet habt, wird ein visum eigentlich auch ausgestellt.

an so eine einladung kommt man nur, wenn man ne pauschalreise gebucht hat, was ich in eurem falle eher ausschließe; oder eben wenn man leute in petersburg kennt, die das organisieren können.

und nun kommen wir zur mikrowelle: sofern man in russland mit einem falschen visum einreist, es also z.b. nicht lange genug gültig ist, kann man je nach sympathiepunkte, die man bei den entsprechenden beamten einheimst, das ding verlängern lassen.

in russland selbst müsst ihr euch dann 1 oder 2 tage nach einreise bei den behörden anmelden, was auch in einem postamt geht. solltet ihr in einem hotel wohnen, was in petersburg so richtig zu buche schlagen kann, macht das hotel das eigentlich für einen. sollte man bei privatpersonen wohnen wollen, geht das auch. diese müssen dann einen aber anmelden. das formular ist in diesem fall komplett auf russisch. als ich dort damals mit meiner gastgeberin und einem freund stoned versucht habe das formular auszufüllen, war nach dem siebten versuch ladenschluss. am nächsten tag brauchte es nochmal 4 anläufe.

es gibt zwar diverse firmen, die für visabeschaffung geld verlangen und das auch erledigen, aber ist euch das 100€ zusätzlich alleine für das visum wert?

generell seid ihr eigentlich gut aufgeschmissen, wenn ihr euch fernab von pauschaltourismus ohne dolmetschende person bewegen wollt. vergesst es einfach sofort; die leute dort können zum großen teil überhaupt kein englisch, bzw. ziehen dir das geld aus der tasche, wenn sie merken dass du kein russisch kannst. man muss sich da erstmal richtig reinfinden und sich einiges erklären lassen, damit man sich dort auch alleine bewegen kann. das kyrillische alphabet sollte man dann auch ohne jegliche bücher oder abc-lektüre in zwei wochen drauf haben. hilft ne menge sich zurecht zu finden!

ansonsten: ne reise nach russland lohnt sich allemale, wenn man leute dort kennt, mit denen man sich auch verständigen kann. ein sehr interessantes erlebnis, und wenn ihr eure flüge rechtzeitig bucht und irgendwo unterkommt auch garnicht so teuer. supermarktpreise liegen unter west-niveau, wenn auch nicht sooo deutlich; ebenso wir die öffentlichen verkehrsmittel. achtet auf das öffentliche alkoholverbot und handelt euch keinen ärger mit den bullen ein; wird nur teuer. und bitte wandert nicht für drogen mehrere jahrzehnte in den knast, weil sie euch draußen am kiffen erwischen oder so...

reiseinfos hier:
 http://www.auswaertiges-amt.de/diplo/de/Laenderinformationen/01-Laender/RussischeFoederation.html

(die taschendiebstahlwarnungen sind lächerlich)



und nun zum zweiten teil: wovon träumt ihr eigentlich nachts?? wollt hier weiß machen, dass es dort politisch in der linken szene ähnlich wie bei in westlichen ländern zugehen würde. ich kann euch sagen: weit gefehlt. gentrification ist dort nochmals viel krasser als bei uns; höchstens in den vorstädten gibt es halbwegs politische freiheiten. im öffentlichen raum gibt es bis auf graffitis und skateboardfahren nur kaum "subversives" wahrzunehmen. ein glück, werden seid dem offensiven antifaschismus von RASH skatertreffs uä. nichtmehr angegriffen. dennoch gab es in diesem jahr schon 60 rassistische morde dort. der alltagsrassismus ist erschreckend heftig und linke bewegungen sind dort bei weitem nicht so kraftvoll wie anderswo, was nicht zuletzt an den demos in russland abzumessen ist.

an dieser stelle mein respekt und meine solidarität an alle linken in russland! ich will eure arbeit nicht kritisieren, aber einigen deutschen wohlstandsanarchos sollte doch wirklich mal ein realistisches weltbild vermittelt werden. eine linke bewegung, wie sie anderswo existiert(e), steht dort eher noch in den kinderschuhen, da der antifaschismus einen viel größeren anteil an arbeit in anspruch nimmt als meinetwegen in der brd und auch die repression sehr hart ausfällt. es bleibt aber zu sagen, dass ohne die genosInnen von RASH vor allem sankt petersburg und moskau ein ganz anderes pflaster wären!


 http://roteszenehamburg.blogsport.de/2009/10/06/40/

Ups...

Ostbote 08.10.2009 - 07:18
... da hat's oben die Kontakt-E-Mail beim Hochladen verhackt. Zwischen AT und PUNKT gehört natürlich noch ein Riseup.

@ rsh, eben um zu vermeiden, dass Ihr mit dem Visum in solchen finanziellen wie sonstigen Schlamassel geratet, wie Du beschrieben hast, der Tip: Fragt in Deutschland lebende RussInnen. Von denen sind nämlich viele hier eingebürgert, dazu müssen sie ihren russischen Pass abgeben, und dann haben sie beim Heimaturlaub genau das gleiche Problem. Es gibt Methoden, das zum genannten Preis absolut smooth zu regeln, und zwar so, dass es auch drüben kein Theater gibt. Mein Visum hat diesmal unter 65 Euro gekostet und war nach acht Tagen da.

Dass es da drüben etwas anders abgeht als bei uns, würd ich auch nicht bestreiten, hier in Deutschland ist mir noch nie während des Verfahrens der Anwalt abgeknallt worden, wie es im Januar in Moskau passiert ist. Gentrification ist ein Thema, aber dort ruft es im Gegensatz zu Deutschland auch viel mehr politischen Widerstand hervor (ich hab manchmal den Eindruck, das ist eigentlich das einzige Thema, bei dem auch russische Normalos ihren Arsch hochkriegen). Was mit den Faschos abgeht, ist teilweise extrem krass, andererseits war's wie gesagt früher viel schlimmer und Du kannst in Russland oft lange unterwegs sein, ohne einen einzigen Fascho zu treffen, gerade in Moskau und St. Petersburg.

Und die Bullen sind korrupt, da müsst Ihr Euch halt drauf einstellen. Das kann zwar Geld kosten, bedeutet aber auch, dass jedes Problem im Prinzip lösbar ist; trotzdem, seid vorsichtig mit sowas.



ganz richtig

dza-dza 09.10.2009 - 09:45
Wichtiger Hinweis von rsh415 dass die Uhren da anders ticken und man sich nicht der Illusion hingeben soll dort auf die vertrauten heimeligen linken Strukturen zu stossen.

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