[Aachen] SS-Mörder Heinrich Boere vor Gericht

AK Kein Vergessen! 29.09.2009 22:39 Themen: Antifa Antirassismus Medien Weltweit
Ende Oktober beginnt der Prozess gegen den 88-jährigen SS-Mörder Heinrich Boere, der für mindestens drei Morde an ZivilistInnen während des zweiten Weltkrieges verantwortlich gemacht wird. Dies wird einer der letzten NS-Verbrecher-Prozesse sein. Ein Bericht des AK Kein Vergessen.
Am 28. Oktober 2009 beginnt am Landgericht Aachen einer der letzten NS-Verbrecher- Prozesse. Angeklagt ist der 88-jährige Heinrich Boere, ein Angehöriger des SS-Sonderkommandos Feldmeijer. Dieses Kommando ermordete unter dem Codenamen Silbertanne mehr als 50 vermeintliche SympathisantInnen der Widerstandsbewegung in den Niederlanden. Für jeden getöteten Nazi wurden drei „antideutsch eingestellte oder aber als mit Widerstandskreisen zusammenarbeitend bekannte Niederländer“ getötet. Heinrich Boere wird in diesem Zusammenhang Mord an mindestens drei Menschen vorgeworfen: An dem Apotheker Fritz Hubert Ernst Bicknese in Breda, an Frans Willem Kusters in Wassenaar und an dem Fahrradhändler Teun de Groot in Voorschoten.
Bei dem Fahrradhändler Teun de Groot in Voorschoten klingeln am 3. September 1944 frühmorgens Heinrich Boere und ein zweiter niederländischer SS-Mann. De Groot war ein angesehener Bürger in Voorschoten und gegen die Nazi-BesatzerInnen. Das reicht für ein Todesurteil. Boere und sein Mittäter erschießen de Groot wortlos. Er hinterlässt eine Familie mit fünf Kindern. Teun de Groot über seine Reaktion auf den Tod des Vaters: "Ich habe 24 Stunden geweint, danach nie mehr. Fast nie mehr, mein ganzes Leben nicht, ich habe so geweint."

1947 konnte Boere unter ungeklärten Umständen aus der Kriegsgefangenschaft fliehen und kam zurück nach Deutschland. Fortan lebte er unbehelligt in Eschweiler bei Aachen. In den Niederlanden wurde er nach dem Krieg zunächst von einem Sondergericht zu Tode verurteilt, dieses Urteil wurde später umgewandelt in lebenslange Haft.
Niederländische Auslieferungsgesuche wurden von der deutschen Justiz mit der Begründung abgelehnt, dass Boere durch seine Mitgliedschaft in der Waffen-SS die deutsche Staatsbürgerschaft erhalten haben könnte. Damit bezog sie sich auf einen Hitler-Erlass von 1943. Ein Verfahren gegen ihn wurde 1983 eingestellt mit der Begründung, dass es sich bei den Morden um völkerrechtlich zulässige Repressalien gehandelt habe und Boere zudem auf Befehl getötet habe. Die unbeteiligten Opfer durften nach Auffassung der Staatsanwaltschaft Dortmund „meuchlerisch getötet werden.“

Boere selbst wähnte sich, wie so viele, bisher in Deutschland in Sicherheit. In einem Interview kommentierte er seine Morde lächelnd mit „Peng! Tot!“. Auf die Frage, ob das Morden ihm schwerfiel, antwortete er: „Ach, nein, schwer fiel mir das nicht. Man braucht doch nur einen Finger krumm zu machen“.

2003 beantragte jedoch das niederländische Ministerium der Justiz die Vollstreckung der Verurteilung in Deutschland. Grundlage für dieses Gesuch ist die seit 2003 bestehende Möglichkeit, Haftstrafen anderer EU Länder auch in Deutschland zu vollstrecken. Das Landgericht Aachen entschied, dass die Haftstrafe Boeres in Deutschland vollzogen werden könne, Köln widersprach, da Boere in Abwesenheit verurteilt worden sei und er keine Möglichkeit der Verteidigung seiner Person habe nutzen können. Und so erhob vier Jahre später die Oberstaatsanwaltschaft Dortmund Anklage wegen dreifachen Mordes. Nachdem dann das Landgericht Aachen Boere zunächst für nicht verhandlungsfähig erklärte, hob das Oberlandesgericht Köln diesen Beschluss wiederum auf. Boere sei sehr wohl verhandlungsfähig. Erst jetzt, 2009, wird das Verfahren also beginnen, die Morde an Teun de Groot und an den anderen Niederländern werden nach zahlreichen Presseveröffentlichungen und Protestaktionen endlich als Mord klassifiziert.

Boere ist keineswegs der einzige NS-Täter, der bisher nicht zur Verantwortung gezogen wurde und der bis heute auf der Liste des niederländischen Justizministers steht. Neben ihm sind das Siert Bruins (Breckerfeld bei Hagen) und Klaas Faber (Ingolstadt), die noch heute straffrei in Deutschland leben. Sie gehören zu der Gruppe der 30.000 Niederländer, die für Deutschland in der SS kämpften oder sich als Angehörige der niederländischen Nazipartei NSB aktiv an der brutalen Zerschlagung des Widerstandes und an den Deportationen der Jüdinnen und Juden beteiligten.
Viele der Erschießungen, Folterungen und Razzien gingen auf das Konto dieser holländischen Nazis. Tausende niederländische SS-Angehörige und Kollaborateure flüchteten 1945 nach Deutschland und entzogen sich so der niederländischen Justiz. In Deutschland lebten sie meist straffrei und unbehelligt. Noch über 300 standen 1980 auf den Fahndungslisten der Niederlanden. Auslieferungsgesuche wurden von Deutschland in der Regel zurückgewiesen.
Sieben SS-Angehörige, u.a Klass Faber aus Ingolstadt, die in den Niederlande wegen Mordes in Haft saßen, wurden Weihnachten 1952 sogar von einem deutsch-niederländischen Netzwerk aus dem Gefängnis in Breda befreit und - auch das ist in Deutschland nahezu unbekannt - im Grenzgebiet von FDP-Funktionären wie dem damaligen Aachener FDP-Geschäftsführer Otto Graf Lambsdorff empfangen, versteckt und schließlich an die Parteiprominenz in Bonn weitergereicht. Die FDP mit dem Ritterkreuzträger Erich Mende an der Spitze forderte gar in aller Öffentlichkeit die Straffreiheit der vom BKA gesuchten NS-Verbrecher.

Der Prozess gegen Boere wird vom „AK Kein Vergessen!“ mit u.a. einer Veranstaltungsreihe begleitet.
Thematisch werden wir nach der Rolle der bundesdeutschen Justiz gestern und heute im Umgang mit NS-Verbrechern fragen, werden uns mit niederländischer Kollaboration und Widerstand beschäftigen, der Spur von NS-Verbrechern nach Deutschland nachgehen und erkunden, wer die stillen HelferInnen der Nazis bei der Flucht waren. Die Bedeutung von NSlern für die aktuelle extreme Rechte wird uns ebenso interessieren wie Fragen der Re-Militarisierung Deutschlands mit Rekurs auf Auschwitz.

Nie wieder Faschismus! Nie wieder Krieg!
Nichts und Niemand ist vergessen!
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Ergänzungen

Pressespiegel

AK Kein Vergessen! 29.09.2009 - 22:43
 http://www.keine-ruhe.org/node/67
 http://klarmann.blogsport.de/2009/07/07/mitte-reifes-alter-schuetzt-ehemaligen-ss-mann-nicht-vor-prozess/

Lokalzeitungen:
 http://www.az-web.de/lokales/euregio-detail-az/772445/Prozess-gegen-Nazi-Kriegsverbrecher-aus-Eschweiler-geplatzt

Überregionale Presse:
 http://www.sueddeutsche.de/politik/406/479892/text/
 http://www.focus.de/politik/deutschland/tid-14811/heinrich-boere-ein-ss-scherge-gesteht_aid_415448.html
 http://www.zeit.de/online/2009/20/demjanjuk-abgeschoben-erwartet?page=1
 http://www.welt.de/welt_print/article1902411/Anklage_wegen_NS_Dreifachmord_im_Jahr_1944.html
 http://www.spiegel.de/panorama/justiz/0,1518,547739,00.html

Internationale Presse:
 http://dokmz.wordpress.com/2009/01/09/nazi-war-crime-trial-dropped-ss-killer-heinrich-boere-too-ill-to-face-court-bildde/
 http://news.sky.com/skynews/Home/World-News/Nazi-Hitman-Heinrich-Boere-Facing-World-War-II-Murder-Trial-Over-Dutch-Deaths/Article/200907115331272
 http://www.nrc.nl/international/article2294014.ece/German_court_rules_nazi_suspect_fit_for_trial
 http://www.haaretz.com/hasen/spages/975907.html
 http://www.dailymail.co.uk/news/worldnews/article-1198100/Nazi-hitman-Heinrich-Boere-88-IS-fit-stand-trial-1944-triple-execution-court-rules.html
 http://www.wienerzeitung.at/DesktopDefault.aspx?TabID=3941&Alias=Wzo&cob=430463
 http://www.limburger.nl/article/20090803/REGIONIEUWS08/472703449/1030
 http://www.limburger.nl/article/20090107/REGIONIEUWS08/180439492/0/FRONTPAGE

Veranstaltungsreihe

AK Kein Vergessen! 29.09.2009 - 22:48
Veranstaltungsreihe des AK Kein Vergessen!, des ak antifa aachen und der AFA-Nederland:

Dienstag, 27.10.2009 VHS Aachen, 2.Etage: Forum Beginn 19:00
Der Silbertannen-Mörder Heinrich Boere vor Gericht!

Eine Veranstaltung mit Teun de Groot, Sohn des von Heinrich Boere ermordeten Teun de Groot, Arnold Karskens, Journalist aus Amsterdam, Detlev Hartmann, Rechtsanwalt aus Köln und Vertreter der Nebenklage und Stephan Stracke, Historiker aus Wuppertal
In der Veranstaltung wird neben einem Fokus auf Heinrich Boere auf andere niederländische NS-Täter eingegangen. Denn Boere ist nicht der einzige niederländische NS-Verbrecher, der auf der Liste des niederländischen Justizministers steht. An den Lebenswegen dieser Kollaborateure lässt sich exemplarisch der deutsche Umgang mit NS-Tätern nach 63 Jahren bilanzieren. Die Referenten werden zudem die deutsche Fluchthilfe für europäische SS'ler beleuchten, die auch ein Stück Aachener Stadtgeschichte schreibt.

Mittwoch, 28. Oktober: Prozessauftakt. Kundgebung vor dem Aachener Landgericht

Freitag, 6.11.2009 Haus Löwenstein, Markt 39, Beginn 19.00h
Die SS in den Niederlanden

In den Niederlanden war die SS während des Zweiten Weltkriegs präsenter als in den anderen besetzten Ländern Westeuropas. Der Unterdrückung des niederländischen Widerstandes und der Durchsetzung der nationalsozialistischen Rassepolitik stand der Versuch gegenüber,
niederländische Kollaborateure für das "Neue Europa" der SS zu gewinnen. Thomas Müller beleuchtet in dem Vortrag den historischen Kontext des "Falles Boere".


Freitag, 13.11.2009 Haus Löwenstein, Markt 39, Beginn 19.00h
Neuer Nationalismus und der bundesdeutsche Umgang mit NS-Verbrechen

Der Referent wird in seinem Vortrag den aktuellen und historischen Umgang mit NS Verbrechen darstellen und die Frage stellen, ob im Umgang mit deutscher NS-Geschichte ein Paradigmenwechsel stattgefunden hat, der Entscheidungen wie die Rehabilitierung von Deserteuren ermöglicht. Auch wird es um einen Wandel nationalistischer Diskurse gehen, der mit der Parole "Nie wieder Faschismus, nie wieder Krieg" hin zu der erstmals von Joseph Fischer hervorgebrachten Argumentation genau wegen Auschwitz wieder Angriffskriege zu führen, umrissen werden kann. Der Referent wird sich auf die Suche nach Antworten begeben, warum heute doch noch einzelne Prozesse gegen NS-Verbrecher stattfinden, die seit 60 Jahren verweigert wurden und was das mit dem "Ansehen Deutschlands in der Welt" zu tun hat.

Freitag 20.11.2009 Haus Löwenstein, Markt 39, Beginn 19.00h
Das Fortwirken der NS-Kollaborateure auf europäischer Ebene

Die Nichtverfolgung zahlreicher NS-Verbrechen hatte viele Folgen. Neben den persönlichen Dimensionen, gerade für die Opfer des NS und deren Angehörigen ermöglichte die ausbleibende Strafverfolgung den Tätern, NS-Ideologie weiterhin zu forcieren, sich zu re-organisieren und ihr Wissen weiterzutragen. Der Referent Jörg Kronauer beleuchtet in der Veranstaltung die Strukturen von NS-Kollaborateuren auf europäischer Ebene nach dem NS. Es wird um Kontinuitätslinien alter Nazis zur aktuellen extremen Rechten gehen, um das Fortwirken der alten NS-Kollaboration bis heute.

Internetseite

AK Kein Vergessen! 30.09.2009 - 12:39
Auf folgender Internetseite werden in Zukunft nähere Informationen zum Prozess und der Veranstaltungsreihe veröffentlicht werden:

 http://akantifaac.blogsport.de/kein-vergessen/

Beiträge die keine inhaltliche Ergänzung darstellen

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NS-Mörder — Faires Verfahren

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