Ungarn: Nazis, Paramilitärs und Großungarn

TeRaMi 25.06.2009 10:28 Themen: Antifa Weltweit
In Ungarn bewirbt die Neonazigruppe "Ungarische Nationale Front" (Magyar Nemzeti Arcvonal – MNA) ein paramilitärische Ausbildungslager. Waffentechnik, Granatwerfen, Schießtraining und Nahkampf stehen zum Angebot. Das Zeltlager im kommenden Juli ist bereits das zweite. Im Mai 2009 fand ebenfalls ein Waffenlager statt. Ziele der Organisation: Sturz der Regierung.
Die derzeitige Situation in Ungarn erzeugt bei BeobachterInnen zumeist nur noch schockierendes Kopfschütteln. Die Schlagzeilen welche aus dem osteuropäischen Land zu uns herüber schwappen sind zumeist die gleichen: Angriffe und Morde gegen Angehörige der Roma, neonazistische Banden wie die "Ungarischen Garden", die im Stil der SA durch die Straßen der Provinz Patrouille laufen. Ungarische Parteien, die in der Bundesrepublik ohne weiteres der NPD ernsthafte Konkurrenz machen könnten ziehen in die Regional- und nun auch das Europaparlament ein. Gruppierungen wie die "Pax Hungarica" träumen laut über das "Großungarische Reich" - beinahe wöchentlich finden Kundgebungen, Kranzniederlegungen etc. statt. Angesichts der deutschsprachigen Neonaziszene vielleicht nichts ungewöhnliches. Auch die NPD, "Freie Kräfte" und neonazistische Splittergruppen jeglicher braunbleibender Couleur betreiben dies in der Bundesrepublik. Doch einen gravierenden Unterschied gibt es. In Ungarn befindet sich die ideologisch neonazistische Szene in der Offensive. Zwar gibt es auch dort Streitigkeiten über Vorgehen und Militanz...allerdings ist man sich im großen und ganzen einig.. Das Feinbild ist klar umrissen und schweißt zusammen.. das Mord- und Brandgezetter gegen Minderheiten bestimmt die Diskussionsprozesse und überschatten und überspielen das Richtungsgerangel. Und noch einen Unterschied gibt es zu bundesdeutschen Verhältnisse. In Ungarn besitzt die Neonaziszene eine umfangreiche bürgerliche Basis. Natürlich existiert diese auch in der Bundesrepublik, an Stammtischen und Schrebbergärten und vermutlich auch in der einen oder anderen Parteistube.. aber dennoch würde sich der "Stammtisch um die Ecke" nicht auf dem nächstbesten Marktplatz in der deutschen Provinz zur SA vereidigen lassen. Diese "Basis" aus, dem durch wirtschaftlichen Niedergang in ihrem Lebensstandard bedrohten Bürgertum, strömte geradezu in den vergangenen zwei Jahren in die organisierten Neonazistrukturen.



Auch sonst besitzt der "ungarischen Neonazismus" einige Komponenten welche ihn vom bundesrepublikanischen Neonazismus ala NPD und "Kameradschaften" unterscheiden. Während die organisierte deutsche Neonaziszene in den letzten Jahren eine "Modernisierungskampagne" startete, das heißt ihren "braununiformierten Hitlerfetischismus" umgewandelt hat in eine äußerlich recht "modern anmutende" Variante sieht man sich in Ungarn einer Entwicklung gegenüber die von außen betrachtet eher an die Weimarer Republik erinnert. Der offene Bezug zu "Pfeilkreuzern" (ungarischen Faschisten zu Zeiten der 2ten Weltkrieges) tritt dort ungehindert zu Tage. Zwar orientiert sich auch die BRD-Naziszene an der Vergangenheit: Von der "Heimattreuen Deutschen Jugend" bis zu "C-18 Moneymaschine" tragen sie alle ihre Art der Insignien des "Dritten Reiches" zur Schau. Allerdings findet dies zumeist im Verborgenen statt. Braununiformierte Demonstrationszüge haben in der Bundesrepublik "noch" Seltenheitswert, bzw. finden erst gar nicht statt. In Ungarn finden wir ein anderes Szenario. Dort muss man sich nicht wundern wenn die "gesellschaftlich verankerte" Neonaziszene inzwischen in jedem Dorf einen entsprechenden Umzug veranstaltet. Zudem ist die radikale Neonaziszene christlich motiviert und genießt dadurch eine ungebrochene Sympathie. Das Bekenntnis zum Christentum bedeutet für ungarische Neonazis gleichzeitig das Bekenntnis zu einem virulenten und aggressiven Antisemitismus. Das bedeutet nicht das alle ein Kreuz um den Hals tragen oder sich damit begnügen "Jesus statt Odin" -Shirts zu tragen. Christlich motiviert bedeutet in Ungar das es ein bestimmender Lebensfaktor ist. Antisemitismus ist dort mit "christlichen Werten" vereinbar und der "Kampf gegen das Judentum" wird als "Pflicht des Christen" herbeizitiert. Einige "Führer" wie z.B. der "Pax Hungarica" sind zudem Theologen und die neonazistische Ideologie in Ungarn besitzt inzwischen ein christliches Fundament.



Das Selbstbewusstsein der ungarischen Szene zeigte sich in den vergangenen Monaten vor allem in ihren regelmäßigen Machtdemonstrationen. Nicht zuletzt deren Engagement war es geschuldet das die Regierung unter Ferenc Gyurcsán vor einigen Monaten zurückgetreten ist. "Der Druck von der Straße" war zu groß, wie es damals hieß. Nun kommt noch eine weitere Komponente hinzu. Neonazis wie die "Ungarisch Nationale Front" (nur eine von vielen Neonaziorganisationen) bauen derzeit an militärischen Gruppen, die nicht nur äußerlich an Paramilitärs erinnern. Deren "Ausbildungslager" werden öffentlich beworben, Schießtraining, bewaffnete Hausstürmungen etc. werden trainiert. Auch die Frage nach dem Warum wird beantwortet. Ziel das Trainings und der militärischen Ausbildung ist der Kampf gegen "Zigeuner und jüdische Lebensart". In Ungarn bezieht sich "jüdische Lebensart" zudem auf die Regierung, welche nach neonazistischer Propaganda "jüdischen Interessen" dient. Anders als z.B. in Russland, wo wir ebenfalls eine militante Neonaziszene vorfinden, befindet sich Ungarn derzeit allerdings auf der sprichwörtlichen Kippe. Der Repressionsapparat in Russland hat kein Interesse an einem "Nationalsozialistischen Regime". In Ungarn vermutlich auch nicht. hier hat der Staat und seine "Entscheidungsträger"hingegen schon längst den Punkt hinter sich gelassen an welchem der derzeitigen Entwicklung Einhalt geboten werden kann. Abseits des "Gewaltmonopols" des Staates befinden sich zudem die gesellschaftliche Gruppen die gegen Nazis vorgehen in der Defensive.



Verloren ist noch nichts, aber die Situation ist dennoch mehr als nur "Beunruhigend".
Während sich in der Bundesrepublik die „ExpertInnen aus Funk und Fernsehen“ heutzutage überschlagen wenn irgendwo in der Republik der sprichwörtliche „Sack Reis“ umfällt weil zwei Minuten zuvor ein Neonazi an diesem vorbeigelaufen ist.. sucht man eine Analyse von neonazistischer Entwicklung wie z.B. in Ungarn vergeblich. Medien funktionieren nach dem „Schreck lass nach Prinzip“, Hintergründe werden nicht recherchiert, Tendenzen zumeist ausgeklammert. Neonazismus ist ein Thema der „Populärkultur“ geworden und besitzt bei einigen Zeitgenossen den gleichen Stellenwert wie Hundekämpfe oder der „Tetrapack Apfelsaft“ der womöglich über den Schreibtisch ausgelaufen ist. Nur haben wir es hier mit „gesellschaftlichen Problemen“ zu tun. Wenn ich nicht will das mir Apfelsaft über die Jacke läuft, dann könnte man vom Kauf des Produktes absehen. Faschismus und Neonazismus sind keine Produkte welche man im Supermarktregal stehen lassen kann. Sie zwingen sich auf... wenn sie mächtig genug sind auch gegen jeglichen Widerstand. Sie durchdringen die Gesellschaft und nehmen von ihr Besitz. Alleine aus diesem Grund sind die derzeitigen Entwicklungen in Ungarn eben nicht der „Sack Reis“, es ist viel mehr geworden. Dazu kommt noch das die Gefahr der Außenwirkung recht häufig unter den Tisch fällt. Ungarn, bzw. die ungarische Neonaziszene dient heute verstärkt als Vorbild-Charakter für andere nationalistische Gruppierungen in Europa. Schon jetzt findet ein fließender Austausch statt. Vernetzungen und Verbindungen werden geknüpft, gemeinsame Veranstaltungen geplant und das auf steigendem Niveau.

Nun ist im Juni ein erneutes paramilitärische Ausbildungslager ungarischer Neonazis geplant. »Unter anderem werden Themen wie Grundlagen des Gefechts, Nahkampf, Waffenkenntnisse, Stärkung der Ausdauer usw. theoretisch und praktisch behandelt.«, heißt es in der Bewerbung der Veranstaltung. »Homosexuelle, Zigeuner und Juden ist eine Teilnahme verwehrt«, so die ungarische Neonaziorganisation auf ihrer Internetseite. Dort wirbt die Gruppe auch mit einem Werbefilm für das neuerliche Lager. Die Paramilitärs der »Ungarische Nationale Front« präsentieren in dem veröffentlichten Video ihr Trainingsprogramm. Bewaffnete Einheiten stürmen Gebäude und üben sich in nächtlichen Kommandoaktionen. Die Gefahr in Ungarn wächst, das nun die anhaltenden, zum Teil gewaltsamen Aktionen auf der Straße in der Zukunft durch eine eventuelle Beteiligung militärischer Gruppierungen ergänzt werden könnte. Dennoch, die Präsenz neonazistischer Paramilitärs in dem Mitgliedsland der Europäischen Union findet in den Verlautbarungen der ungarischen Regierung bislang keine Erwähnung.


Der Text ist eine Zusammenfassung / teilweiser Mitschnitt eines Vortragsgespräches mit Rechercheleuten die zu dem Thema arbeiten und von mir gewählt wurde weil es einige der Entwicklungen in Ungarn zusammenfasst. Der letzte Absatz wurde aus aktuellem Anlass aus einem bereits bestehenden Text übernommen.
Artikel dazu:  http://www.recherche-nord.com/cms/index.php?option=com_content&task=view&id=303&Itemid=207






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