Bildungsstreik: Besetzung an der FU Berlin

FSI OSI 15.06.2009 19:52 Themen: Bildung Freiräume
Heute morgen wurde an der Freien Universität Berlin der Fachbereich Politik- und Sozialwissenschaften zum Auftakt des bundesweiten Bildungsstreiks besetzt. Damit verbunden ist ein Ausfall der regulären Lehrveranstaltungen.
Heute morgen machten sich etwa 20 AktivistInnen auf, das Otto-Suhr-Institut für Politikwissenschaft (OSI) zu besetzen. Viele von ihnen hatten im Roten Café, einem im Streik 1988/89 erkämpften studentischem Freiraum, übernachtet, um nicht ganz so früh ins ferne Berlin-Dahlem fahren zu müssen. Die Eingänge wurden mit Absperrband, Transparenten, Stuhlblockaden und Ketten mit Vorhängeschlössern dichtgemacht. Vom Dach des Gebäudes wurden Transparente runtergelassen, auf denen "Geld für Bildung statt für Banken" und "Institut besetzt!" stand. Die Zahl der BesetzerInnen wuchs im Verlauf der nächsten Stunde rasch an, so dass beschlossen wurde, auch das danebenliegende Gebäude des Osteuropa-Instituts (OEI) dicht zu machen. Für ankommende Studierende wurde ein Infopunkt eingerichtet, an dem sie sich über den Bildungsstreik und den Hintergrund der Besetzung informieren konnten.

Die Gründe für Protest speziell am Fachbereich Politik- und Sozialwissenschaften (über die bundesweiten bzw. berlinweiten Forderungen des Bildungsstreik-Bündnisses hinaus) sind dabei vielfältig: das OSI, das seit 1968 den Ruf einer "roten Kaderschmiede" genoss und für die Vielfältigkeit seiner Lehrangebote und seine kritischen und marxistischen ProfessorInnen bundesweit bekannt war, hat sich in den letzten Jahren rasant gewandelt. Vor allem der Bereich Internationale Beziehungen/Governanceforschung dominiert zusehends das Institut, auf Kosten der anderen Teilgebiete. Insbesondere die traditionell herrschafts- und gesellschaftskritischen Bereiche, etwa die Politische Soziologie oder der Bereich Ideengeschichte, hatten unter der einseitigen Stärkung der Governance-Fraktion zu leiden. Mittlerweile arbeitet die Hälfte aller MitarbeiterInnen und Profs des Instituts in diesem einen Teilbereich, der Rest verteilt sich auf die übrigen fünf(!). Treibende Kraft ist dabei der Sonderforschungsbereich 700 ("Governance in Räumen begrenzter Staatlichkeit"), ein von der Deutschen Forschungsgesellschaft unterstütztes Projekt. Der SFB 700 ist ein Prestigeobjekt der FU und steht für vieles, was wir am bestehenden Bildungssystem kritisieren: die Fixierung auf drittmittelgestützte Projekte, herrschaftsstützende Wissenschaft (Forscher des SFB erstellten bspw. eine Studie über Afghanistan - Auftraggeber: das Bundeskriegsministerium) und nicht zuletzt eine undemokratische Kultur des Ausklüngelns wichtiger Entscheidungen. Keine Professur und kaum eine Haushaltsfrage kann ohne das OK von SFB-Mitgliedern in den Gremien am Institut und am Fachbereich durchgesetzt werden.
Im vergangenen Jahr beschloss der Akademische Senat der FU zudem, das Diplom am OSI im Zuge der Bologna-"Reform" abzuschaffen, obwohl der Diplomstudiengang bereits "modularisiert", d.h. auf eine Creditpoint-Struktur umgestellt war.
Am OEI sorgt dagegen die Selbstherrlichkeit der Institutsleitung für Unmut. Dazu kommt, dass an diesem recht kleinen Institut der geschäftsführende Direktor gleichzeitig Erstprüfer für viele Abschlussarbeiten ist - hier befürchten viele Studierende Nachteile, wenn sie sich kritisch über das Institut äußern.
Die Studierenden am Institut für Publizistik und Kommunikationswissenschaften, ebenfalls in den beiden heute besetzten Gebäuden untergebracht, beschäftigen viel einfachere Fragen: so fordert die Fachschaftsinitiative am Institut seit dem erzwungen Umzug an den Standort Dahlem einen angemessenen Raum für ihre politische Arbeit und ein studentisches Café.

Die Besetzung verlief problemlos, die Hausmeister zeigten sich kooperativ und das Wetter spielte auch mit. Für 12 Uhr wurde ein Streikplenum einberufen, auf dem bei leckerem VoKü-Essen darüber diskutiert wurde, wie es weitergehen sollte. Dabei ergab sich aus der Tatsache, dass viele AbsolventInnen in spe in dieser Woche die Fragestellung ihrer Diplomarbeit abholen müssen und deshalb das Prüfungsbüro besetzt (haha) sein muss, die Frage nach der Feuersicherheit der besetzten und verbarrikadierten Gebäude. Hier zeigte sich die Fachbereichsverwaltung leider nur eingeschränkt gesprächsbereit: die physischen Sperren müssten abgebaut werden, ein vorübergehender Umzug des Prüfungsbüros sei nicht möglich. Die Studierenden willigten einerseits ein, die Barrikaden abzubauen, besetzten "als Ausgleich" jedoch gleich darauf ein weiteres Gebäude - das einzige, in dem zuvor noch regulär Veranstaltungen stattfinden konnten. Von dieser Besetzung sind nun auch zahlreiche Büros des SFB 700 betroffen, dessen MitarbeiterInnen das Gebäude verlassen mussten.
Das Streikplenum beschloss ausserdem, keine regulären Lehrveranstaltungen stattfinden zu lassen, sondern die Hörsäle des zentralen Institutsgebäudes für alternative Seminare zu nutzen. Erfreulich viele DozentInnen solidarisierten sich und erklärten sich bereit, ihre Seminare in anderer Form und/oder an anderen Orten abzuhalten und sich mit inhaltlich mit dem Bildungsstreik und der Bildungspolitik auseinanderzusetzen.

Derzeit ist die Stimmung gut und kämpferisch, am Nachmittag zog eine Spontandemonstration über den Campus der benachbarten Fachbereiche Jura und Wirtschaftswissenschaften, um auch dortige Studierende an den Bildungsstreik zu erinnern. Ein Teil der BesetzerInnen will auch über Nacht in den Gebäuden bleiben, so oder so wird die Besetzung für die restliche Woche weitergehen. Die für Mittwoch angesetzte Sitzung des Fachbereichsrats wurde abgesagt.

Artikel in der Morgenpost (inkl. Video):  http://www.morgenpost.de/berlin/article1113068/Mittwoch_sind_auch_die_Lehrer_zum_Streik_aufgerufen.html
im Tagesspiegel:  http://www.tagesspiegel.de/berlin/Bildungsprotest-Studenten-Charlottenburg-Zehlendorf-Mitte;art270,2823877

weitere Infos:  http://fsiosi.blogsport.de
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Ergänzungen

Nie wieder (Schul-)Klassen!

saz 15.06.2009 - 22:22
Nie wieder (Schul-)Klassen!

Warum müssen wir uns eigentlich fünf Tage die Woche mit Dingen beschäftigen, die uns weder großartig interessieren, noch außerhalb von Schule und späterem Beruf jemals gebraucht werden? Sinnlose, für mich und dich sowohl uninteressante als auch unwichtige Fakten auswendig lernen, nur um diese dann in der Klausur hinzuschreiben und anschließend wieder vergessen zu können. Selbst Themen, die einen sonst interessieren, werden, wenn sie in der Schule behandelt werden, aufgrund des Zwanges sich mit ihnen zu beschäftigen zur Hölle. Erst recht unter ständigem Notendruck und zu absurden Uhrzeiten wie 8 Uhr in der Früh. Wenn du Montagmorgen in der Klasse hockst und bereits über die Freitagabendgestaltung nachdenkst, denkst du dir da nicht auch gelegentlich: Irgendwas stimmt mit diesem Leben doch nicht?!

Wer? Wie? Was?
Aber warum existiert eine Institution wie Schule überhaupt in unserer Gesellschaft? Man könnte meinen, um den Menschen ein Allgemein- und Fachwissen zu vermitteln, damit man im Alltag möglichst gut zurechtkommt. Für grundlegende Dinge (Grundrechenarten, Lesen/Schreiben, zentrale historische Zusammenhänge usw.) erscheint dies auch logisch. Jedoch stellt sich die Frage, inwiefern z.B. die Fähigkeit, Algorithmen auszurechnen und Kenntnis über die verschiedenen Monosacharidketten zu besitzen, mir bei meiner Alltagsbewältigung helfen soll. Außerdem: Angenommen, das oft gepredigte, zynische Motto „Fürs Leben lernen wir“ wäre tatsächlich Grundlage des staatlichen Schulbetriebs, wäre es dann nicht sinnvoller, viel mehr alltagstaugliches Wissen wie Kochen oder Sozialverhalten zu vermitteln? Die Annahme, dass Schule existiert, damit jede_r Einzelne in der persönlichen Entwicklung und im Alltag unterstützt wird, scheint somit vollkommen naiv und absurd.
Andere, die sich vielleicht politisch in der linken Ecke verorten würden, meinen, Schule sei deshalb so langweilig und „ineffektiv“, weil „die Politiker und die Reichen“ „das Volk“ dumm halten wollen, damit diese nicht auf revolutionäre Gedanken kommen. Ergo werden dann Forderungen wie etwa nach einem höheren Bildungsetat und besserem deutschen Abschneiden bei den PISA-Tests laut, oder, wie zuletzt bei den bundesweiten Schulstreiks, es wird sich darüber beschwert, dass so viele Schulstunden ausfallen. Komisch, dass wäre tatsächlich das Letzte, was ich an der Schule zu kritisieren hätte, im Gegenteil: Ich freue mich über jede Schulstunde, die ausfällt und in der ich mich statt mit den Funktionen der verschiedenen Organe des Luchses mit anderen, sinnvolleren Sachen beschäftigen oder einfach ausschlafen kann. Mal ganz abgesehen davon, dass es absurd ist, davon auszugehen, dass ein höherer Bildungsgrad einen Menschen zwangsläufig dazu bringt, über die Gesellschaft nachzudenken, bewusster zu leben und so vielleicht auch irgendwann auf wie auch immer geartete „revolutionäre Gedanken“ zu kommen, ist diese Annahme schlicht selbstüberschätzend; hier wird der Einfluss der politischen Linken auf die Gesellschaft und die Bevölkerung der BRD leider maßlos übertrieben.

Wieso? Weshalb? Warum?
Vielleicht ist es für die Suche nach Sinn und Zweck von Schule in unserer Gesellschaft sinnvoller, wenn man nicht von „Schule im luftleeren Raum“ ausgeht, sondern sich die Funktionsweise unserer Gesellschaft anschaut und anschließend überlegt, welche Rolle die Schule bzw. Bildung generell in dieser einnimmt. Dann kommt man nämlich schnell zu der Erkenntnis, dass ohne Menschen, die (fast) jeden Tag arbeiten gehen und um die verfügbaren Arbeitsplätze konkurrieren, hier so gut wie nichts funktioniert. Das Prinzip Lohnarbeit scheint zentral wichtig und damit auch die Eignung der Menschen für die verschiedenen Arbeiten. Um bei Siemens irgendwelche Staubsauger zu entwickeln, braucht man eine Ausbildung in Elektronik und als Architekt_in sollte man über Grundwissen in mathematischer Statik verfügen. Langsam wird es offensichtlich: Eine Hauptaufgabe des staatlichen Bildungsbetriebs im Kapitalismus ist die Ausbildung von „Menschenrohmaterial“ zu fähigen Arbeitskräften, damit diese anschließend möglichst fachkundig für die verschiedenen Unternehmen oder auch für den Staat selber schuften können. Für uns alle konkret heißt das, dass nach den vielen Jahren Schule (plus eventuell Uni oder Ausbildung) noch viele Jahrzehnte Lohnarbeit anstehen, bevor wir dann Ende 60 endlich in Rente gehen und mit dem Leben anfangen können. Irgendwas stimmt hier nicht.

Zurück zur Schule…
Neben einer derartigen ökonomischen Funktion kommt Schule in der bürgerlichen Gesellschaft auch eine ideologische zu. Warum wird in Geschichte zum Beispiel immer nur die deutsche bzw. die als „deutsch“ konstruierte, sprich die Geschichte der Gebiete der heutigen BRD behandelt? Wenn’s hoch kommt, ist auch mal die französische oder die englische Revolution Thema; durch diese hauptsächlich auf Deutschland und Europa gerichtete Fokussierung des staatlichen Geschichtsunterricht wird uns Schüler_innen vermittelt, dass die vor 2000 Jahren lebenden Germanen in irgendeiner Hinsicht mehr „zu uns gehören“ als zum Beispiel die Mongolen oder die alten Chinesen. Somit soll auch in Hinblick auf aktuelle politische Debatten die konstruierte deutsche Nation gerechtfertigt und pseudowissenschaftlich erklärt werden.
Ein anderes Beispiel für die ideologische Funktion der Schule im Kapitalismus ist neben dem Deutsch- oder dem Religions- bzw. Ethikunterricht die „Politische Wissenschaft“. Alle vier Semester der Oberstufe bauen nämlich auf dem staatsbürgerlichen Irrglauben auf, der Staat wäre als Ausdruck des „Allgemeinwillens“ der Bevölkerung in der Lage, die Gesellschaft wesentlich alleine zu gestalten. Aber kein_e PW-Lehrer_in kann leugnen, dass es in der bürgerlichen Gesellschaft sich widersprechende Interessen, etwa zwischen Arbeitnehmer_in und Chefetage, gibt und die Idee des „Allgemeinwillens“ somit komplett irrsinnig ist. Außerdem werden die unserer Gesellschaft zugrunde liegenden ökonomischen Prinzipien, die den Alltag hauptsächlich bestimmen, so gut wie gar nicht behandelt.

…und zur Gesellschaft
Jetzt da wir sowohl die ökonomische als auch die ideologische Aufgabe von Schule im Kapitalismus grob erfasst haben, wird auch klarer, was ein „erfolgreiches“ Schulsystem ist. Nämlich keineswegs, wie das weiterhin von einigen naiven Gutgläubigen behauptet wird, die Vermittlung von möglichst viel Wissen für Alle – denn dann wäre der Großteil der Arbeitskräfte nämlich überqualifiziert und wer soll dann noch bei Kaisers an der Kasse sitzen?! Aber auch kein „Dummhalten“ der Bevölkerung: Deutsche Unternehmensvertreter beschweren sich regelmäßig über die schlecht ausgebildeten Arbeiter_innen, die das deutsche Schulsystem produziert, woraufhin Politiker_innen schnell verlauten lassen, dass alles Mögliche für eine Besserung der Lage getan würde. Ein erfolgreiches Schulsystem im Kapitalismus sorgt neben der ideologischen Formung der Schüler_innen vielmehr für eine möglichst optimale Befriedigung der unternehmerischen Anforderungen an „deren“ Lohnarbeiter_innen. In Nationalökonomien, in denen wenig Facharbeiter_innen, dafür viel körperliche Arbeitskraft gebraucht wird, ist es also durchaus gewollt und auch innerhalb kapitalistischer Logik notwendig, dass ein Großteil der Bevölkerung keinen guten Bildungsgrad besitzt, weshalb das Abschneiden bei den internationalen PISA-Studien kein Indikator für ein „gutes“ oder „schlechtes“ Bildungssystem ist.
Forderungen nach „besserer Bildung für alle“, Lernmittelfreiheit oder kleineren Klassen machen die Schulzeit für die_den Einzelne_n vielleicht teilweise erträglicher, greifen aber zu kurz, da sie den dummen Zweck von Schule im Kapitalismus überhaupt nicht in Frage stellen bzw. sich diesem oft gar nicht bewusst sind. Somit wird auch beim Thema Schule/Bildung ein weiteres Mal deutlich, dass die Lösung von gesellschaftlichen Problemen und damit auch eine wesentliche Besserung unserer individuellen Situation nur erreicht werden können, wenn das große Ganze, die derzeitige nationalstaatlich-kapitalistische Organisierung der Gesellschaft überdacht und letztlich durch Alternativen ersetzt wird.

Krawall und Remmidemmi beim Bildungsstreik

:;: 20.06.2009 - 03:15
Bildungsstreik in Berlin: Dachaktion, Uni-Stürmung, Toiliettenpapier, Feueralarm, Studis, Schüler und der graue Block. Spiegel TV versucht einen Einblick in die Proteste - wie gewohnt ideologisch gekonnt zurecht geschnitten.

Video:  http://www.youtube.com/watch?v=yu_WlUHA34w

 http://strassenauszucker.blogsport.de/ &  http://www.bildungsstreik2009.de/ &  http://de.indymedia.org/2009/06/253380.shtml

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