Delegationsbericht zu Wahlen in der Türkei

AZADISTAN 01.04.2009 14:31
Vorlaeufiger Delegationsbericht zu den Kommunalwahlen am 29.03.2009

Unsere Beobachter-Delegation* konnte bei den Kommunalwahlen in den türkischen Kurdengebieten zahlreiche Unregelmaessigkeiten beobachten. Die Delegation bestand aus Mitgliedern zivilgesellschaftlicher Organisationen und Parteien sowie einem Journalisten.

İn Bingöl kam es laut Aussagen von lokalen Wahlbeobachtern des Menschenrechtsvereins İHD sowie der Lehrergewerkschaft Egitim-Sen zu einer Reihe von Bestechungsversuchen im Vorfeld der Wahl. So habe die AKP versucht, noch am Vorabend des Wahltags Geldgeschenke im Armenstadtteil Kültür Mahallesi zu verteilen. Die Beschenkten sollten auf den Koran schwören, AKP zu waehlen und ein Beweisfoto der Stimmabgabe abzuliefern. Mitglieder der Demokratischen Gesellschaftspartei DTP brachten diesen Vorfall noch in der Nacht zur Anzeige.
Am Wahltag selber stellte unsere Delegation durch eigene Beobachtungen folgende Unregelmaessigkeiten fest:

İn den meisten von uns besuchten Wahllokalen im Stadtgebiet Bingoel hielten sich bewaffnete Polizisten in Zivil auf. Sie verstiessen damit gegen die Vorschrift, dass sich Uniformierte und Bewaffnete mindestens hundert Meter von Wahllokalen entfernt halten müssen. Obwohl unsere Delegation die Polizisten ansprach, zogen sie sich nicht zurück. İn einem Fall konnten wir den zur Wahlaufsicht bestellten Richter informieren, der den Abzug der Polizisten versprach. Kurz vor Wahlende konnte unsere Delegation einen Zivilpolizisten dabei beobachten, wie er Einsicht in die Waehlerliste beim Wahlvorstand nahm. Nach seinen eigenen Angaben wollte er damit feststellen, wer gewaehlt haette und gesuchte Personen aufspueren.
Auf dem Land stellte sich die Situation weitaus schaerfer dar als im Stadtgebiet von Bingöl. İn dem Dorf Göltepesi befanden sich 7 Soldaten, bewaffnet mit G3-Sturmgewehren, im Wahllokal. Jeder Waehler konnte nur durch Passieren der Soldatenkette von seinem Wahlrecht Gebrauch machen. Der Militaereinsatz war geeignet, die Waehler einzuschüchtern. Weiterhin waren die engen, umbeleuch-teten Flure der Dorfschule gaenzlich ungeeignet fuer die grosse wartende und sich stauende Waehlermenge. Dies sorgte zusammen mit der Anwesenheit der bewaffneten Soldaten fuer ein Klima der Angst und Aggression. Zum zweiten Mal informierten wir den zur Wahlaufsicht bestellten Richter ueber die Situation, der den Abzug des Militaers anordnete, Dem widersetzte sich jedoch der Wahlvorstand vor Ort.

İn vielen Wahllokalen konnte die Delegation unzureichend verplombte Urnen feststellen, zwei davon hatten gebrochene Siegel. İn der Fatil İlköğretim Okulu in Bingöl wurde eine offiziell akkreditierte Wahlbeobachterin der DTP vom Wahlvorstand in ihrer Arbeit teilweise behindert, indem sie aus dem Wahlraum verwiesen wurde.

Sowohl die Beobachtungen unserer Delegation, als auch Berichte von Augenzeugen und direkt Betroffenen weisen darauf hin, dass die İdentitaet der Waehler in einigen Wahllokalen unzulaenglich überprüft wurde. İm Wahllokal der Ekim İlköğretim Okulu reichte die Gesundheitskarte als İdentitaetsnachweis anstatt des vorgeschriebenen Personalausweises mit Registriernummer aus. Der Dolmetscher einer italienischen Beobachtergruppe brauchte bei seiner Stimmabgabe keinen İdentitaetsnachweis vorzeigen.

Der für das Wahllokal des zweitgroessten Bingöler Stadtbezirks Sarayci verantwortliche Beobachter der DTP, Murat Buğrahan, berichtete uns von massiven Verstoessen. Wahlvorstaende haetten Analphabeten angeleitet, ihre Stimme bei der AKP zu stempeln. Als DTP-Beobachter dies bemaengelt haetten, habe der Bingöler AKP-Vizevorsitzende, Aydin Çecen, versucht, sie mit Hilfe von Polizisten aus dem Gebaeude entfernen zu lassen. Rechtsanwaelte vor Ort konnten dies zunaechst verhindern. Danach seien die Provokationen gegen DTP-Beobachter weitergegangen.

Soldaten und Polizisten haben nach Angaben von lokalen Beobachtern des İHD erst gegen Nachmittag ihre Stimmen abgegeben, als der Wahlausgang absehbar gewesen sei. İn vorwiegend von Soldaten und Polizisten bewohnten Vierteln, so im Wahllokal İMKB İlk Ögretim Okulu, habe es viele AKP-Stimmen gegeben.

Nach Angaben von Murat Buğrahan durften die akkreditierten DTP-Beobachter nach der ersten Auszaehlung der Stimmen den Transport der Urnen und ausgezaehlten Stimmzettel nicht begleiten.

İn der Zentrale der Wahlbehörde von Bingöl konnte unsere Delegation einen sehr laxen Umgang mit den Stimmzetteln feststellen. Die meisten Saecke mit Stimmzetteln waren nicht versiegelt und für jeden zugaenglich. Zahlreiche Saecke lagen unbeaufsichtigt auf dem Fussboden. Mitglieder unserer Delegation konnten beobachten, wie Personen darin herumwühlten. Auf eine Dokumentation ihres Vorgehens reagierten sie aggressiv und konnten ihr Tun nicht legitimieren.
Vor dem Gebauede waren zahlreiche Soldaten mit Sturmgewehren und Schuetzenpanzern postiert.

Die Regierungspartei AKP gewann die Wahl für den Bürgermeisterposten von Bingöl schliesslich mit 2.000 Stimmen Vorsprung.

Am Abend des 29. Maerz griffen Anhaenger der AKP auf den Strassen jugendliche DTP-Unterstützer an. Mindestens einer der Angegriffenen liegt verletzt im Krankenhaus. Die Polizei setzte Traenen-gasgranaten und Schlagstöcke ein.

Unsere Delegation konnte in anderen Staedten bereits im Vorfeld der Wahl Hinweise auf teils illegale Wahlbeeinflussung gewinnen:
Der DTP-Vorsitzende der Grosstadt Van, Selim Ertas berichtete uns, dass Provinzgouverneur und Militaer sich offen auf die Seite der AKP stellen würden. Soziale Unterstützung für Bedürftige würde als Wahlgeschenke der AKP deklariert. Die AKP verteile zudem Schecks in Moscheen und Kohle.

Laut Ertas richtete die AKP Verkaufsstellen für Kühlschraenke und Waschmaschinen ein, in denen die Geraete aber in Wahrheit verschenkt worden seien.

Der DTP-Kandidat für das Amt des Bürgermeisters, Bekir Kaya, kritisierte, dass die Wahlvorstaende nur aus AKP-Gefolgsleuten und Beamten bestuenden. Staatsangestellte in der Region saehen sich in
erster Linie als AKP-Vertreter. Die Behoerden wuerden bevorzugt mit der religioesen Bewegung von Abdullah Gülen zusammenarbeiten, die in der Region zahlreiche Schulen unterhaelt.

İn der Provinz Hakkari berichteten uns Dorfbewohner von Erpressungen der örtlichen Aghas (Clanführer), die in Zusammenarbeit mit dem örtlichen Militaerkommandanten die Bevoelkerung zur Stimmabgabe für die AKP zwingen wollten. Konkret wurden die Menschen mit dem Entzug von Weiderechten, dem Zugang zu Trinkwasser und der Kündigung ihrer Arbeitsverhaeltnisse bedroht.

Ausserdem erfuhren wir, dass der Provinzgouverneur und AKP-Vertreter vor der Wahl Familien zuhause besucht und ihnen 500 türkische Lira angeboten haetten, wenn sie ihre Stimmen der AKP geben. Um die Stimmabgabe zu garantieren, sollten die Familien auf den Koran schwören.

İn der von der DTP regierten Stadt Yüksekova wurde uns berichtet, Einwohner seien telefonisch von AKP-Funktioniaeren bedroht worden, sie würden ihre Grüne Karte verlieren – für die verarmte Bevoelkerung oft der einzige Zugang zur Gesundheitsversorgung. Laut Aussage eines ehemaligen İHD-Mitarbeiter bekaemen Einwohner diese Drohung auch bei Behoerdengaengen zu hoeren: Wer nicht AKP waehle, dessen Grüne Karte würde nicht mehr verlaengert. Ein anwesendes DTP-Mitglied habe das selbst erlebt: >> Als ich meine Grüne Karte verlaengern wollte, sagte mir der Beamte >Du bist Stadtrats-Kandidat der DTP, deswegen bekommst du keine Verlaengerung> Diejenigen Staedte, die nicht AKP waehlen, werden keine Kanalisation, keinen Strassenbau und keine Gesundheitsversorgung mehr zu erwarten haben.<< Und auch der oertliche Agha, Mustafa Zeydan, bedrohe die Familien in der Region. Sollten sie nicht seinen Sohn, der für die AKP kandidiert, waehlen, entziehe er ihnen die Gehaelter als Dorfschützer.

Aus unseren Beobachtungen und der grossen Zahl übereinstimmender Berichte von Repressionen und Bestechungsversuchen schliessen wir, dass die Kommunalwahlen zumindest in weiten Teilen der türkischen Kurdengebiete nicht demokratischen Massstaeben entsprachen.

Die Tuerkei muss endlich freie und demokratische Wahlen gewaehrleisten. Die Angriffe von Sicherheitskraeften und die Verfolgung von kurdischen Oppositionellen – insbesondere von Repraesentanten und Anhaengern der Demokratischen Gesellschaftspartei DTP – muessen ein Ende haben. Die kurdische İdentitaet muss in der Verfassung der Türkei mit allen demokratischen und kulturellen Rechten verankert werden.
Die tuerkische Regierung muss endlich alle Einschraenkungen für den Gebrauch der kurdischen Wort- und Schriftsprache aufheben, die Versammlungsfreiheit sowie die Freiheit der Presse und Berichterstattung garantieren – und damit endlich der Umsetzung der Kopenhagener Kriterien nachkommen.
Da es Politik der türkischen Regierung ist, DTP-regierten Kommunen die zur Erfüllung ihrer Aufgaben erforderlichen Budgets zu reduzieren, teilweise sogar willkuerlich zu entziehen, kann nur die schnellstmoegliche Einführung kommunaler Selbstverwaltung zur ökonomischen Entwicklung der kurdischen Regionen führen.
Die tuerkische Regierung muss endlich ablassen von ihrem Kriegskurs gegen die kurdische Freiheitsbewegung und die Friedensangebote der Kurdischen Arbeiterpartei (PKK) annehmen. Nur ein konsequenter und ehrlicher Friedensprozess, verbunden mit einer Amnestie für alle PKK-Mitglieder – auf den Bergen und in den Gefaengnissen – kann eine friedliche und demokratische Entwicklung ermöglichen.
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delegation 01.04.2009 - 19:09
Liebe Leute, wir haben bewusst als wir denn artikel dsas letzte mal gepostet haben, die namen der teilnehmerInnen weggelassen. bitte mods löscht die namen am ende. Danke :)

wozu die namen löschen?

sie sind bekannt 01.04.2009 - 23:44
und stehen auf anderen infoseiten im netz.
die leute wissen denke ich selbst was sie tun. nur weil einige leute arg paranoid sind müssens ja nich alle sein. gesicht zeigen kann die aktion verstärken. nicht immer aber manchmal.