Interview zum Ende des Gaza-Krieges

Yossi Sarid + ROSSO 01.02.2009 18:13 Themen: Militarismus Weltweit
In einem Interview für das ehemalige PCI- und heutige mitte-linke PD-Parteiorgan „l’Unità“ zog der Kolumnist der israelischen Tageszeitung „Haaretz“ und einstige Mitbegründer, Vorsitzende und langjährige Knessetabgeordnete der linkssozialdemokratischen und linkszionistischen Meretz-Partei Yossi Sarid (68) ein interessantes Resummee des dreiwöchigen blutigen Gaza-Feldzugs der Großen Koalition in Tel Aviv. Sarid trat 2006 aus dem Meretz aus, weil er aufgrund ihrer Degeneration für die Partei keine Existenzberechtigung mehr sah und ihr die Fusion mit der in der sog. „Neuen Mitte“ angesiedelten Arbeitspartei (Avoda) von Kriegsminister Barak empfahl.
Eines der Resultate des dreiwöchigen israelischen Gemetzels im Gaza-Streifen ist ohne Frage eine veränderte Sichtweise des Staates Israel in der deutschen Linken. Ein Opferverhältnis von 100 zu 1, der umfangreiche Einsatz geächteter Waffen wie Phosphorgranaten, Nagelbomben und anderem sowie ein Bombardement, bei dem 15% aller Gebäude zerstört oder beschädigt und (erfolgreich) auf alles geschossen wurde, was sich bewegte (inklusive Ambulanzen, Journalisten und UNO-Hilfskonvois) war den Meisten dann doch etwas zuviel.

Zwar erreicht diese Veränderung nicht annähernd das Ausmaß des innerlinken Erkenntnisprozesses nach dem Sechs-Tage-Krieg 1967 als den alten und neuen Aktivisten abrupt klar wurde, dass es sich bei Israel nicht um ein „quasi-sozialistisches“ (Kibbuz-System) „Befreiungsprojekt“, sondern um einen schlichten Fall von Kolonialismus handelte. Natürlich darf man nicht vergessen, dass dieser Bewusstseinssprung vor dem Hintergrund eines weltweiten linken, sozialrevolutionären und antiimperialistischen Aufbruchs stattfand, der in den Metropolen allerdings den Charakter einer Revolte der neuen Mittelschicht sowie nachholender Reformforderungen der Arbeiterklasse nach über zwanzigjähriger Wiederaufbauarbeit nach den Verwüstungen des 2.Weltkriegs hatte und auch deshalb aufseiten der Neuen Linken von manchen Blütenträumen, voluntaristischen Übertreibungen und Karikaturen begleitet war (siehe z.B. die Selbsterklärung zum „revolutionären Subjekt“, zur „Kommunistischen Partei“, „sozialistischen Avantgarde“ etc. und allem, was damit an Holzwegen und Unsinn verbunden ist). Dennoch wäre einiges vom damaligen, in recht kurzer Zeit angeeigneten historischen Wissen, theoretischer Substanz und Klarheit zentraler politischer Kategorien heute höchst notwendig und förderlich.

Beschäftigt man sich als Linker auch nur ein wenig mit dem Thema Israel / Palästina dann sticht ins Auge, wie ungleich klarer, schärfer und radikaler die Analyse und Positionierung vieler israelischer Linker ihrem „eigenen“ Kolonialstaat gegenüber ausfällt und zwar auch dann, wenn es sich „nur“ um Linksliberale oder linke Sozialdemokraten handelt. Der Grund dafür ist denkbar einfach: Unter den Bedingungen einer jahrzehntelangen Besatzung mit diversen Kriegen und Zehn-, wenn nicht Hunderttausenden Todesopfern unter den Palästinensern zu diesen Verhältnissen zu schweigen oder – mit ein bisschen Krittelei hier oder da – das Lied des zionistischen Establishments zu singen, hieße Heuchelei bis zur Selbstverleugnung zu betreiben und damit das eigene politische Ende als Linke (egal welcher Couleur) zu besiegeln.

Das ist der Grund, warum wir hier immer wieder Interviews und Kommentare israelischer Linker bringen, auch wenn wir in manchen Punkten – als revolutionäre Linke – zuweilen andere und weitergehende Positionen vertreten. Doch das, was Leute wie Gideon Levy, Amira Hass, Uri Avnery, Michael Warschawski, Ilan Pappe, Zvi Schuldiner, Yossi Sarid und viele andere zu sagen haben, bedeutet in der sich selbst als links, alternativ und / oder autonom verstehenden Szene der BRD mit ihrem von jeder Erkenntnis befreiten, unsäglichen, spießbürgerlich-moralistischen und überaus deutschen, oberlehrerhaften Kollektivschuld-, „Opferstaat“- oder Äquidistanz-Gequatsche eine echte geistige Erfrischung.

In diesem Sinne hier das Interview, das der Kolumnist der linksliberalen israelischen Tageszeitung „Haaretz“ und einstige Mitbegründer, Vorsitzende und langjährige Knessetabgeordnete der linkssozialdemokratischen und linkszionistischen Meretz-Partei Yossi Sarid (68) dem ehemaligen PCI- und heutigen mitte-linken PD-Parteiorgan „l’Unità“ gab. Es erschien am 19.1.2009. Sarid zog sich 2006 aus dem Meretz zurück, weil er aufgrund ihrer Degeneration für die Partei keine Existenzberechtigung mehr sah und ihr die Fusion mit der in der sog. „Neuen Mitte“ angesiedelten Arbeitspartei (Avoda) von Kriegsminister Barak empfahl.

Interview:

„Olmert hat sich geirrt. Sein Krieg war nicht gerecht!“

Von Umberto De Giovannangeli

Er ist zu seinen überfüllten Universitätskursen zurückgekehrt. Jene zivilgesellschaftliche Leidenschaft und jene intellektuelle Courage, die ihn viele Jahre lang zum anerkannten Führer der pazifistischen israelischen Linken machte, hat er allerdings nicht eingebüßt. Wir sprechen von Yossi Sarid, dem Gründer des Meretz, der in den von der Arbeitspartei geführten Regierungen mehrmals Minister war. Heute ist Yossi Sarid eine Stimme außerhalb des Chors. Die Stimme des Israels, das nicht an den „gerechten Krieg“ in Gaza glaubt. „Nein“ – erklärt Sarid entschieden – „das, was in Gaza veranstaltet wurde, war kein gerechter Krieg. Es ist allenfalls ein therapeutischer Krieg, der von moralischen Hemmungen befreit. Ein Krieg, der geführt wurde, um mit den Augen zu rollen. Das macht ihn noch gefährlicher.“

Professor Sarid, mitten im Gaza-Krieg haben die israelischen Autoritäten hart auf ein von Kardinal Martino benutzten Bild reagiert, mit dem er die Situation Gazas und seiner Bewohner beschreiben wollte: Gaza, behauptete der Kardinal, sei ein großes Konzentrationslager. Ist das eine Verzerrung der Realität?

„Nein, das ist keine Verzerrung. In Gaza leben 1,5 Millionen menschliche Wesen (der größte Teil davon niedergeschlagene und verzweifelte Flüchtlinge) unter den Bedingungen eines gigantischen Gefängnisses – ein fruchtbarer Boden für eine weitere Runde von Blutbädern. Ein Boden, auf dem Jugendliche, die keine Zukunft haben, leicht auf ihre Zukunft verzichten, weil die nirgendwo am Horizont zu erkennen ist. Die Tatsache, dass die Hamas mit ihren Raketen zu weit gegangen sein könnte, ist keine Rechtfertigung für die israelische Politik der letzten Jahrzehnte, für das es gerechterweise einen irakischen Schuh ins Gesicht verdient hat.“

Eine sehr harte Aussage. Man könnte darauf antworten, dass sich Israel im Sommer 2005 einseitig aus Gaza zurückgezogen hat.

„Der entscheidende Begriff dabei lautet immer: einseitig. Auf diese Art hat Israel alle wichtigen Entscheidungen getroffen: den Rückzug aus Gaza, die Trassenführung für die Barriere im Westjordanland, den Bau der Siedlungen sowie das ständige Stop-and-Go bei den Verhandlungen. Und nun den Waffenstillstand im Gaza-Streifen. Das ist so als ob die Gegenseite gar nicht existieren würde oder dabei nichts mitzureden hätte. Das hat dazu geführt, dass jeder Gegenüber delegitimiert wurde. Und aus der Delegitimierung des Anderen entsteht kein Verhandlungsprozess.“

Ich insistiere darauf: Israel behauptet, dass es die Hamas gewesen sei, die die Waffenruhe verletzt habe, indem sie Raketen auf den Süden Israels feuerte.

„Es geht nicht darum die Hamas zu rechtfertigen – etwas, das ich mitnichten tun werde. Es geht darum, dass man 1,5 Millionen Menschen schwerlich glauben machen kann, es bestehe eine Waffenruhe, wenn diese weiterhin in einem gigantischen Gefängnis leben müssen. Was erwarten wir von denen? Dass sie zu den Waffen greifen und sich gegen die Hamas erheben? Es ist eine Tatsache, dass die Blindheit / die Verblendung unserer Politik in den letzten Jahren die Hamas und die radikalen Gruppen gestärkt hat. Und um Ihnen diese Überzeugung zu erläutern, will ich Ihnen eine Geschichte erzählen…“

Was für eine Geschichte, Professor Sarid?

„Vergangene Wochen habe ich im Rahmen eines Kurses über die Nationale Sicherheit mit meinen Studenten über den Krieg in Gaza gesprochen. Es entwickelte sich eine leidenschaftliche Diskussion und ein Student, der sich als ‚sehr konservativ’ bezeichnete, sagte mir: ‚Wenn ich ein palästinensischer Jugendlicher gewesen wäre, hätte ich die Juden scharf bekämpft, bis hin zum Terrorismus. Jeder, der Dir etwas anderes erzählt, lügt.’ Diese Worte haben mich tief erschüttert. Seine Überlegungen klingen sehr vertraut. Ich habe sie bereits in der Vergangenheit gehört. Plötzlich erinnere ich mich. Vor ungefähr zehn Jahren hatte sie unser Verteidigungsminister Ehud Barak geäußert. Der ‚Haaretz’-Journalist Gideon Levy fragte ihn damals als Kandidat für den Posten des Ministerpräsidenten, was er tun würde, wenn er als Palästinenser geboren worden wäre, und Barak antwortete offen und ehrlich: ‚Ich würde mich einer Terrororganisation anschließen.’ Und damit schließt er den Kreis…“

In welchem Sinne schließt er sich?

„Ich habe alle Terrorismen auf der Welt gehasst, was auch immer das Ziel ihrer Kämpfe war. Ich unterstütze jedoch jede aktive, zivile Revolte gegen jede Besatzung und Israel gehört zu den verwerflichsten Besatzern. Und solange das gilt, was jener Student gesagt hat (‚Wenn ich Palästinenser wäre, würde ich die Juden bekämpfen.’) und was Barak eingeräumt hat (‚Ich würde mich einer Terrororganisation anschließen.’) wird es niemals Platz für den Frieden geben, sondern nur für neue verheerende ‚therapeutische Kriege’ oder für Waffenruhen, die zum Scheitern verurteilt sind, wenn sie so bleiben, wie sie sind und nicht – wie es notwendig wäre – zur Voraussetzung für eine wirkliche Strategie des Dialogs.“



((Vorbemerkung + Übersetzung: * Rosso))

Der Name * Rosso steht für ein Mitglied des Gewerkschaftsforums Hannover und der ehemaligen Antifa-AG der Uni Hannover, die sich nach mehr als 17jähriger Arbeit Ende Oktober 2006 aufgelöst hat.
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