Bolivien im Cambio

www.interbrigadas.org 01.02.2009 16:50 Themen: Soziale Kämpfe Weltweit
Am Sonntag hat sich das bolivianische Volk in einem Referendum mit 64% für die neue Verfassung entschieden und damit den Reformkurs von Präsident Morales zu einem andinen Sozialismus zugestimmt. Die neue Verfassung wurde von 2006 bis 2008 von einer verfassungsgebenden Nationalversammlung entworfen und verspricht besonders der mehrheitlich indigenen Bevölkerung Boliviens mehr Rechte.
Die Verfassung ist sicherlich eine der fortschrittlichsten weltweit, sie verspricht mehr sozialen Ausgleich zwischen den Bevölkerungsgruppen und grössere Teilhabe an den Reichtümern Boliviens, vor allem dem Erdgas. Die neue Verfassung versteht Bolivien als plurinationale Gesellschaft, welche die indigene Kultur einschliesslich der Cocapflanze, den Sprachen Aymara und Quechua als Teil der nationalen Identität betrachtet. Ein beachtlicher Katalog an Grundrechten, wie auf Wasserversorgung, Bildung, Ernährung, Streikrecht, kulturelle Partizipation oder auf eine intakte Umwelt werden verankert. Demokratisierungsprozesse, wie die Direktwahl der obersten Richter, werden eingeleitet und erstmals eine allgemeine “Rente der Würde” eingeführt. Zusammen mit der neuen Verfassung wurde auch über eine Agrarreform abgestimmt, wonach der Grundbesitz auf 5000 Hektar pro Person beschränkt wird.


El Pueblo Unido ?

Der Fokus der neuen Verfassung liegt in der Verbesserung der Situation der weitgehend bäuerlichen und indigenen Bevölkerung Boliviens. Dies spiegelt sich natürlich auch in der Unterstützung der amtierenden MAS (Movimiento al Socialismo) wieder. Die westlichen, andinen Regionen und ländliche Gebiete, vor allem um die Hauptstadt La Paz, stimmten mit überwältigender Mehrheit für die neue Verfassung. Wogegen die östlichen Bezirke im sog. Halbmond, um die Provinz Santa Cruz, überwiegend mit “Nein” stimmten und jetzt damit drohen, die Verfassung nicht anzuerkennen. Es ergibt sich ein nicht zu verleugnendes Land-Stadt und Ost-West Gefälle in der Unterstützung der neuen Verfassung, der MAS und Evo Morales.

Der eigentliche Wahltag verlief auch in den gemischten Wahlbezirken sehr friedlich ab, zumindest in Cochabamba kann man nicht von einer Eskalierung oder gar einem nahenden Bürgerkrieg oder gewalttätigen Autonomiebestrebungen sprechen.


Die Reaktion und Medien

Die fast ausschliesslich oppositionellen Medien versuchen mitsamt den reaktionären Präfekten der östlichen Provinzen diese Stimmverteilung zu Gunsten der konservativen und rassistischen Reaktion auszuschlachten. Die Medienlandschaft ist dem “Cambio”, der progressiven Politik der MAS und Morales mehrheitlich feindlich gesinnt und verbreitet Lügen, etwa mit falschen Prozentangaben oder der Eskalierung dieses fingierten Ost-West Konfliktes.

Dabei steht das Ergebnis eindeutig fest! Das bolivianische Volk hat sich mit knapp 2/3 Mehrheit für eine neue Verfassung entschiedend. Relevant ist dabei nicht der Wahlausgang in den einzelnen Provinzen, auch wenn die Opposition dies so deuten will.


Tiempo de Cambio in Cochabamba

Das Referendum hat die Stimmung in Bolivien ziemlich angeheizt. An vielen Häuserwänden sieht man Parolen, die zum Si! oder No! aufrufen. Auf dem Plaza Mayor in Cochabamba diskutiert tagtäglich eine Menschenmasse und informiert sich mit Literatur und öffentlichem Politikunterricht. Mit dem Aufstieg der MAS und dem Cambio, der die neue Verfassung verheisst, wurde auch die “Wiphala”, die internationale Flagge der andinen Indigenen, wieder präsenter. Auf sämtlichen Demonstrationen, Stickern, Postern und Veranstaltung der UnterstützerInnen des Cambio sieht man die bunt karierte Flagge.

Gleichzeitig wurden viele Flugblätter der Opposition verteilt, die mit alten Verunglimpfungen über Linke aufwarteten, wie etwa “vorher Ordnung, nachher Chaos” oder “Morales wird euch eure Kinder wegnehmen” oder “es wird kein Gas zum kochen mehr geben.” Selbst die Kirche mischte mit: “Wähle Gott! Wähle Nein!”

Wie tief Rassismus und Diskriminierung im Denken der Mittelschicht verankert sind bestätigten auch Interviews am Wahltag in einem Stadtteil der Mittelschicht in Cochabamba. Aussagen wie: “Die Verfassung begünstigt nur Arme und repräsentiert nicht das ganze Volk. ” oder “Die Verfassung wurde doch nur von Bauern entworfen und nicht von intelligenten Menschen.” Sprechen diesbezüglich eine deutliche Sprache. Verbreitet ist auch die Behauptung, die Indigenen würden quasi automatisch und willenslos Evo Morales wählen, nur weil er auch Indigener ist.


Ist das noch Demokratie?



In diesen Kanon reihen sich deutsche PolitikwissenschaftlerInnen der Tagesthemen, die scharf analysieren, dass eine solche “positive Diskriminierung” der Indigenen nichts ändern wird und es stattdessen auf eine Zusammenführung der beiden Parteien ankäme. Diese wahrhaft demokratische Meinung unterschlägt die brutale Realität der Armut, deren Gründe sowie die jahrhundertlange Geschichte von Rassismus und Diskriminierung. Sie basiert auf der Ideologie, sämtliche Interessen aller Bevölkerungsschichten im Parlament zu einem einzigen Volkswillen zu vereinigen und zum Wohle aller ausführen zu können. Vergessen wird dabei anscheinend, dass sich die Interessen der Reichen und die der Armen schon immer ausgeschlossen haben und dass eine Befreiung der Einen nur mit der Entmachtung der Anderen einhergehen kann. Was Bolivien gerade durchmacht ist eine Art Klassenkampf der Wahlurne - nicht blutig, sondern demokratisch - eine schrittweise und sanfte Revolution: den “Cambio”, den Wechsel. Auch wenn es der Mittel- und Oberschicht Boliviens und gewissen internationalen Interesen wehtut: Bolivien hat einen mutigen Schritt nach vorne getan!
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Ergänzungen