Baraks naiver Traum vom Blitzkrieg

Michel Warschawski + ROSSO 03.01.2009 00:03
In einem Beitrag für die linke italienische Tageszeitung „il manifesto“ vom 2.1.2009 kommentiert Michel Warschawski vom binationalen und linksradikalen Jerusalemer Alternative Information Center (AIC) das israelische Massaker im Gaza-Streifen.
Einer schaurigen Zwischenbilanz der unabhängigen, von Dänemark und den Niederlanden geförderten, palästinensischen Nachrichtenagentur „Ma’an News Agency“ ( http://www.maannews.net/en/) vom 2.1.2009 (11 Uhr) zufolge wurden bei den israelischen Bombardements im Gaza-Streifen seit dem 27.Dezember 2008 bislang 430 Palästinenser getötet und 2.220 verwundet. Von den Verletzten befinden sich mindestens 300 in einem kritischen Zustand. In den letzten 48 Stunden war die Mehrheit der Getöteten Kinder. Auf die Bevölkerung der Bundesrepublik bezogen (82,2 Millionen gegenüber 1,5 Millionen in Gaza) entspräche das 23.400 Toten und mehr als 120.000 Verwundeten! Vor diesem Hintergrund ist die Aussage der israelischen Außenministerin und designierten Regierungschefin Tzipi Livni bei ihrem Treffen mit Sarkozy in Paris „In Gaza gibt es keine humanitäre Krise.“ nichts als reine Menschenverachtung. Wobei man von einer ehemaligen Mossad-Agentin wohl auch nichts anderes erwarten kann.

Parallel zum Massaker in Gaza bemüht sich die Besatzungsarmee im Westjordanland weiterhin nach Kräften Protestdemonstrationen durch Festnahmen im Vorfeld und brutales Vorgehen vor Ort im Keim zu ersticken. Dennoch fanden heute (am 2.1.2009) nach dem Freitagsgebet zeitgleich in den Städten Hebron, Jericho, Nablus, Bethlehem und Ramallah sowie den durch ihren gewaltfreien Widerstand gegen den Apartheidwall bekannten Dörfern Al-Ma’sara, Bil’in, Ni’lin, Jayous und Qalqiliya Demos und Kundgebungen statt. Dabei wurden nach Informationen des International Middle East Media Center (www.imemc.org) allein in Nil’in 20 der 200 Demonstranten durch Tränengas, Gummigeschosse und anderes verletzt. In Hebron wurde nach ersten Meldungen neben 5 Demonstranten auch ein Journalist der Nachrichtenagentur EPA verletzt und seine Kamera von israelischen Soldaten zerstört. Bilder waren offensichtlich unerwünscht. Bei 40 Razzien der Besatzer wurden in Bethlehem, Ramallah und anderen Orten mindestens 42 palästinensische Zivilisten gekidnappt, weil man in ihnen potentielle „Aufrührer“ sah. Unter den Betroffenen sind auch Minderjährige.

In einem Beitrag für die linke italienische Tageszeitung „il manifesto“ vom 2.1.2009 kommentiert Michel Warschawski vom binationalen und linksradikalen Jerusalemer Alternative Information Center (AIC) den Stand der Dinge.

Kommentar:

Barak träumt vom Blitzkrieg, aber die Stimmung schlägt bereits um

Michel Warschawski*


Man muss es immer wieder betonen: Das, was sich im Gaza-Streifen abspielt, ist kein Krieg, sondern ein Massaker, begangen von der drittstärksten Luftwaffe der Welt gegen eine wehrlose Bevölkerung.

Man muss es immer wieder betonen: das Abschlachten in Gaza ist kein „unverhältnismäßige“ Reaktion auf den Raketenbeschuss durch Mitglieder des Islamischen Dschihad und andere palästinensische Splittergruppen auf israelische Ortschaften in der Nähe des Gaza-Streifens, sondern eine geplante und seit langem vorbereitete Aktion, wie im übrigen der Großteil der israelischen Kommentatoren zugibt.

Man muss es immer wieder betonen: Jene Raketen sind nicht, wie gewisse europäische Diplomaten glauben machen wollen, „nicht zu rechtfertigende Provokationen“, sondern nebenbei bemerkt ziemlich unbedeutende Reaktionen auf ein von Israel seit eineinhalb Jahren verhängtes, wildes Embargo gegen 1,5 Millionen Einwohner des Gaza-Streifens (Frauen, Kinder und alte Leute inklusive). Das Ganze mit der kriminellen Komplizenschaft der Vereinigten Staaten, aber auch Europas.

Man muss es immer wieder betonen: Wir erleben hier nicht, wie man es immer wieder all jenen zu erklären versucht, die ein kurzes oder selektives Gedächtniis haben, einen lange hinausgezögerten Akt der Selbstverteidigung gegen eine absolut nicht zu rechtfertigende palästinensische Aggression. Ehud Barak räumt das in aller Ruhe ein. Seit Monaten bereitet die israelische Armee sich darauf vor das Gaza genannte „terroristische Gebilde“ anzugreifen. Wie der UNO-Sonderberichterstatter für die Menschenrechte in den Besetzten Gebieten Richard Falk richtigerweise erklärte, begibt man sich dann, wenn man eine von 1,5 Millionen menschlichen Wesen bevölkerte Zone als „terroristisches Gebilde“ bezeichnet, in eine Genozidlogik.

Die israelische Aggression in Gaza ist, genau wie der Angriff auf den Libanon im Jahr 2006 Teil des permanenten, präventiven und globalen Krieges der in Tel Aviv und noch für einen Monat im Weißen Haus amtierenden neokonservativen Strategen. Wie der Name schon sagt, ist diese Strategie präventiv. Sie braucht keine unmittelbaren und fassbaren Vorwände. Der demokratische Westen werde von einem globalen Feind bedroht, der zuerst „internationaler Terrorismus“ und dann „islamischer Terrorismus“ genannt wurde, um schließlich einfach zum Islam zu werden. Huntingtons „Clash der Kulturen“ ist keine Beschreibung der außenpolitischen Realität, sondern der ideologische Rahmen der Offensivstrategie der amerikanischen und israelischen Neokonservativen, so wie er seit der zweiten Hälfte der 80er Jahre im gemeinsamen Einverständnis ausgearbeitet wurde. In dieser Kriegsstrategie hat die islamische Bedrohung den Platz der kommunistischen Gefahr während des Kalten Krieges eingenommen. In beiden Fällen handelt es sich um einen globalen Feind, der einen globalen Krieg rechtfertigt.

Wenn die verbrecherische Bombardierung Gazas in Israel eine breite Unterstützung genießt, wenn die institutionelle Linke und insbesondere die ((linkssozialdemokratische)) Partei Meretz sich dem von ((Arbeitsparteichef und Kriegsminister)) Ehud Barak dirigierten Kriegschor angeschlossen hat, dann gerade weil sie diese Sicht der Welt teilt, die aus dem Islam eine existenzielle Bedrohung macht, die man pflichtgemäß neutralisieren muss, bevor es zu spät ist.

Zum Entsetzen über dieses Verbrechen gesellt sich das Entsetzen über die Niederträchtigkeit seiner situationsbedingten Begründungen. In weniger als zwei Monaten finden in Israel allgemeine Wahlen statt und die palästinensischen Opfer sind auch Wahlkampfargumente. Die Märtyrer des israelischen Angriffs auf Gaza sind Objekt eines Medienwettstreits zwischen Ehud Barak, Tzipi Livni und Ehud Olmert um die Frage, wer der Brutalste und Entschlossenste ist. Der Kriegsverbrecher, der die Arbeitspartei leitet oder besser gesagt das, was von ihr übrig ist, hat sich gestern Morgen gerühmt, dass er in den Umfragen vier Prozentpunkte zugelegt hat.

Über den grenzenlosen Zynismus hinaus 350 unschuldige palästinensische Opfer gegen einige zehntausend Wählerstimmen einzutauschen, zeigt Barak einmal mehr seine politische Kurzsichtigkeit. Im Crescendo der Bestialität und des Blödsinns wird es ihm – allen Anstrengungen zum Trotz – niemals gelingen, ((Likud-Chef)) Benjamin Netanyahu zu übertreffen. Die Wähler ziehen immer das Original der Kopie vor. Umso mehr als der Kriegstreiber heute vor demselben Problem steht, das den Libanon-Krieg in ein israelisches Fiasko verwandelte. Ein Problem, das all jenen, die Kolonialkriege begonnen haben, bestens bekannt ist: Wie beendet man sie?

„Wir werden damit aufhören, wenn die Arbeit beendet ist“, hat er mit der Arroganz der Gernegroße erklärt. Wann aber wird „die Arbeit“ beendet sein? Wenn die Bevölkerung von Gaza und dem Westjordanland die Kapitulation vor den Kolonialträumen der führenden israelischen Politiker akzeptiert und ihre nationalen Bestrebungen auf einen „palästinensischen Staat“ beschränkt, der nur noch aus einem Dutzend isolierter Reservate besteht, die jeweils von einer Mauer umgeben sind?

Wenn das die „Arbeit“ ist, die Barak zu verwirklichen hofft, dann muss das israelische Volk zu einem Krieg bereit sein, der nicht nur extrem lange dauern, sondern auch nicht zu beenden sein wird. Und auch wenn der jüdische Staat für die Blitzkriege bestens gerüstet ist (vor allem, wenn diese von der Luftwaffe geführt werden), gerät er ganz schnell in die Krise, wenn es sich um eine Probe der Widerstandskraft handelt, in der die Palästinenser Meister sind – genau wie alle anderen Völker, die Opfer kolonialer Unterdrückung sind..

Dies erklärt, warum weniger als eine Woche nach dem Beginn und trotz der triumphalistischen Erklärungen von Politikern und Militärs die Stimmung in Israel umzuschlagen beginnt. Am vergangenen Samstag waren wir, einige Stunden nach dem Bombardement von Gaza wenig mehr als tausend Leute, die spontan unsere Wut und unsere Scham manifestierten. Am kommenden Samstagabend aber werden wir sehr viel mehr sein, um internationale Sanktionen gegen Israel zu verlangen und zu fordern, dass Ehud Barak & Co. vor einen internationalen Gerichtshof gestellt werden. Davon bin ich überzeugt.

*Sprecher des Alternative Information Center in Jerusalem und Autor des Buches „Israel–Palästina – eine binationale Herausforderung“ (italienisch bei Edizioni Sapere, 2000)

((Vorbemerkung, Übersetzung und Einfügungen in doppelten Klammern: * Rosso))

Der Name * Rosso steht für ein Mitglied des Gewerkschaftsforums Hannover und der ehemaligen Antifa-AG der Uni Hannover
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Ergänzungen

Ergänzung

anne 03.01.2009 - 01:12
Eine karte zur Ergänzung, die auch die Auswirkungen auf Israel zeigt:
 http://maps.google.de/maps/ms?msa=0&msid=108646965961360150108.00045f58405d46ac9d1c1

Ein Artikel zum Hintergrund von zivilen Opfern der israelischen Angriffe:
 http://www.haaretz.com/hasen/spages/1052260.html

Eine kleine Ergänzung ...

Kontroverso 03.01.2009 - 16:40
Tut mir leid, aber die Raketen der Hamas können keine Antwort auf das von Israel verhängte Embargo sein. Das Embargo gibt es seit anderthalb Jahren, die Raketen vermehrt seit 2005 mit dem Rückzug der israelischen Armee aus Gaza. Aber auch davor kam es immer wieder zu massiven Raketenschlägen der Hamas. Das diese meist nicht so viele Todesopfer fordern, liegt an der Ungenauigkeit jener Raketen.

Was ich an der Sache nicht verstehe, ist, warum die Hamas, nachdem sich die israelische Armee 2005 zurückgezogen hatte, sie anfing, wie wild Raketen abzufeuern. Hatten sie doch vorerst die faktische Kontrolle über den Gazastreifen. Die Fatahkonkurenten (Konkurentinnen gibt es ja nicht) um die Macht - und ich meine hier nicht nur irgendwelche Wortführer, sondern alle mutmaßlichen FatahanhängInnen nebst Familien, wurden ja alsbald kaltblütig von der Hamas erledigt. Vielleicht erinnert sich ja noch wer daran. Muss so vor einem Jahr gewesen sein.

Man kann ja die israelischen Luftschläge beurteilen wie man will (Als Massaker ist es aber nun wirklich quatsch!), aber die Raketen der Hamas als eine Reaktion auf das Embargo darzustellen, trifft nun wirklich nicht zu.

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