Massenstreik + politische Lage in Chile

Luis Sepulveda + Gewerkschaftsforum Hannover 02.12.2008 01:10 Themen: Globalisierung Soziale Kämpfe Weltweit
18 Jahre nach ihrem formellen Ende lastet das Erbe der blutigen Pinochet-Diktatur noch immer auf dem politischen Leben Chiles, doch in letzter Zeit häufen sich die sozialen Proteste gegen die von der sozialdemokratischen Staatspräsidentin Bachelet im wesentlichen fortgesetzte neoliberale Politik. Jüngstes Beispiel dafür war der von zahlreichen Demonstrationen begleitete sechstägige Streik im Öffentlichen Dienst. Die italienische Tageszeitung „il manifesto“ berichtete am 21.11.2008 darüber und brachte am selben Tag auch ein Interview mit dem international bekannten, linken Schriftsteller Luis Sepulveda (59) zur Lage in dem lateinamerikanischen Land.
Fast zwei Jahrzehnte nach dem formellen Ende der vom 11.September 1973 bis zum 11.März 1990 dauernden reaktionären Militärdiktatur unter General Augusto Pinochet ist Chile politisch, ökonomisch und kulturell noch immer von der blutigen Repression und der neoliberalen Kahlschlagspolitik der Junta und der sie unterstützenden rechten Parteien gezeichnet. Daran hat auch die Präsidentschaft der am 15.Januar 2006 mit 53,5% der Stimmen gewählten Kandidatin des Mitte-Links-Bündnisses Concertación de Partidos por la Democracia, Michelle Bachelet, nichts geändert. (An dieser Allianz ist die radikale Linke um die chilenische KP und die Bewegung der Revolutionären Linken MIR aus gutem Grund nicht beteiligt!)

Die sog. „Sozialistin“ hat die neoliberale Politik ihrer Vorgänger weitgehend fortgeführt und immer wieder versucht, aufkommende soziale Proteste, wie Streiks und Schülerbewegungen mit Hilfe der nach alt bekannter Manier vorgehenden Polizeitruppen zu ersticken. Nicht umsonst gilt Bachelet der bürgerlichen Presse in Europa und den USA als die „Verantwortungsbewussteste“ unter den mitte-linken Staatschefs in Lateinamerika.

Möglicherweise haben Bachelet und die Concertación ihre Schuldigkeit allerdings schon bald getan, denn inzwischen muckt die arme und lohnabhängige Mehrheit der Chilenen immer öfter auf und gehen die Umfragewerte der Concertación beständig zurück. Jüngstes Beispiel für die zunehmende soziale Unruhe war der von zahlreichen Demonstrationen begleitete Streik im Öffentlichen Dienst, bei dem die Gewerkschaften nach sechstägigem Ausstand das nachgebesserte Regierungsangebot einer 10%igen Lohnerhöhung akzeptierten (anfänglich hatte die Exekutive 6,5% angeboten). Die Anhebung der Löhne und Gehälter soll vom 10.Dezember 2008 an wirksam werden („CNN“ 25.11.08;  http://edition.cnn.com/2008/WORLD/americas/11/25/chile.strike/). Die linke italienische Tageszeitung „il manifesto“ berichtete am 21.11.2008 darüber und brachte am selben Tag dazu auch ein Interview mit dem international bekannten, linken Schriftsteller Luis Sepulveda (59), das wir als Hintergrundmaterial und Stimmungsbericht sehr interessant finden, auch wenn wir durchaus nicht jede seiner Aussagen am Ende des Gesprächs teilen.

Zur Person: Sepulveda zählte zu denjenigen Linken, die nach dem Putsch der Pinochet-Junta verhaftet wurden. Er verbrachte zweieinhalb Jahre im Knast. Nach einer Kampagne von Amnesty International wurde er unter Hausarrest gestellt. Von dort flüchtete er, lebte ein Jahr lang im Untergrund und beteiligte sich am Widerstand. Nach seiner erneuten Festnahme wurde er wegen „Verrat und Subversion“ zunächst zu Lebenslänglich, später dann zu 28 Jahren Gefängnis verurteilt. Als Folge einer weiteren Solidaritätskampagne wurde das Urteil in 8 Jahre Exil umgewandelt und er 1977 aus Chile ausgewiesen. Nach Zwischenstationen in mehreren lateinamerikanischen Ländern (zuletzt 1979 in Nicaragua unmittelbar nach der sandinistischen Revolution) erhielt er 1980 in der BRD politisches Asyl und lebte mehrere Jahre in Hamburg. Ursprünglich Marxist-Leninist, näherte sich Sepulveda ab 1982 stärker der links-ökologischen Bewegung an und war längere Zeit auch als Koordinator bei Greenpeace aktiv.

Sein bekanntester Roman „Der Alte, der Liebesromane las“ erschien 1989 und wurde in 46 Sprachen übersetzt. In Deutsch erschien 1999 beim Hanser-Verlag auch der sarkastische Politkrimi „Tagebuch eines sentimentalen Killers“.



Bachelet in Schwierigkeiten:

400.000 bleiben zu Hause, um höhere Löhne durchzusetzen. Viele davon Mitglieder der Concertación

Den vierten Tag in Folge haben die Beschäftigten des Öffentlichen Dienstes in Chile die Arbeit niedergelegt. Laut einem Sprecher der wichtigsten Gewerkschaft des Öffentlichen Dienstes ANEF handelt es sich um „den größten Streik der letzten vierzig Jahre“. Nach einer Drosselung der Exporte sowie der Schließung von Häfen und Zollämtern demonstrierten gestern zehntausende Arbeiter vor dem Parlament in Valparaiso. Sie fordern, angesichts einer Inflation, die mit 9,9% im Jahr so hoch ist wie seit fünfzehn Jahren nicht mehr, Lohnerhöhungen von 14,5%. Den Zahlen zufolge sollen sich 400.000 Beschäftigte im Streik befinden. ((Das wäre eine Streikbeteiligung von 90%!)) Zu den Beschäftigten der Schulen, Ministerien und Lokalbehörden kamen gestern noch die der Gerichte und Krankenhäuser hinzu.

Die von Michelle Bachelet geführte Mitte-Linke, die 10% verteilt über mehrere Jahre anbietet, steckt in der Krise. Im Senat ist die Concertación in der Minderheit und in der Abgeordnetenkammer haben mehrere Parlamentarier bereits ihren Austritt aus dem Parteienbündnis angekündigt. Bis zu den Präsidentschaftswahlen ist es noch ein Jahr und unter denjenigen, die heute mit gegen die Regierung gerichteten Spruchbändern auf die Straße gehen, sind viele von jenen, die im Jahr 2000 Lagos und 2006 Bachelet unterstützt haben. Einigen Umfragen zufolge würde die Rechte die Concertación heute schlagen.



Santiago: Vierter Tag der Demonstrationen…
Interview mit dem chilenischen Schriftsteller

Ein Streik legt Chile lahm. Sepulveda: „Ungerechtes Land“

Geraldina Colotti

„Chile ist nach wie vor eine überwachte Demokratie“, sagt der Schriftsteller Luis Sepulveda gegenüber „il manifesto“. Sepulveda – der sich derzeit in Italien aufhält, um seine letzte, unter dem Titel „Aladins Lampe“ in Italien bei Guanda erschienene Sammlung von Erzählungen vorzustellen. Ein Buch, in dem es um Geschichte, Engagement und starke Gefühle geht – spricht mit uns über sein Land und über die heikle Phase, die es innerhalb eines in Bewegung geratenen Lateinamerikas durchmacht.

Bei den Kommunalwahlen hat die Rechte die Mehrheit der Bürgermeister errungen und versucht nun den Protest gegen die Regierung zu steuern. Was wird bis zu den Mitte Dezember 2009 stattfindenden Präsidentschaftswahlen passieren, zu denen die Amtsinhaberin Michelle Bachelet nicht mehr antreten kann?

„Ich glaube nicht, dass die Rechte sehr stark ist. Vielmehr hat bei den Kommunalwahlen eine Linke, die viele Jahre lang nicht mehr am politischen Spiel teilnehmen konnte, gezeigt, dass sie eine enorme Bedeutung besitzt. Während der Diktatur blieb ein Drittel der Bevölkerung außerhalb des politischen Spiels. Es hatte kein Recht, Kandidaten ins Parlament zu entsenden, während dieser Teil jetzt über 30 Prozent der Gewählten verfügt. Und wenn Du berücksichtigst, dass nur 52 Prozent der gesamten chilenischen Bevölkerung zur Wahl gegangen sind, bedeutet das, dass nur eine Minderheit mit dem stattfindenden Wandel nicht einverstanden ist. Die Wahrheit ist, dass die chilenische Demokratie nach wie vor eine überwachte Demokratie ist. Sie wird nicht von den Militärs kontrolliert, sondern von einer Verfassung, die sie von der Diktatur geerbt hat. In diesen 18 Jahren besaß niemand den Mut, sie mit Hilfe eines Referendums zu ändern, so wie die Bürger es wollten und wie es notwendig gewesen wäre, um endlich das vollenden zu können, was sich Übergang in eine volle Demokratie nennt. Nun wissen alle, dass es diese politische Kraft der Rechten und der Recycelten ist, die mit der Diktatur das Ende der diktatorischen Regierung Pinochet unter der Bedingung ausgehandelt hat, dass das auf absoluter Ungerechtigkeit beruhende chilenische Modell nicht verändert wird. Chile ist ein Land, das kein öffentliches Bildungswesen besitzt, weil die Schulen genauso privatisiert wurden wie das Gesundheitswesen. Wenn Du Geld hast, behandeln sie Dich, andernfalls stirbst Du. Die Inflation steigt, aber Chile ist noch kein Land, das sich in der Krise befindet. Das Wirtschaftswachstum ist jedoch nur einem Teil der Bevölkerung zugute gekommen und wirtschaftlich sind wir weiterhin ein abhängiges Land.“

Auch die Politik gegenüber den Indigenas, den Mapuches, wurde auf der Grundlage der von Pinochet erlassenen Notstandsgesetze betrieben und erst jetzt scheint es einige Öffnungsgesten vonseiten der Regierung Bachelets zu geben.

„Ich habe eine große Sympathie für die Mapuche-Bewegung, die für die Verteidigung des natürlichen Rechts auf den Boden eintritt, auch wenn klar ist, dass an dem Punkt, an dem wir uns befinden, die Dinge nicht zu der Situation vor der Invasion der Kolonialherren zurückkehren können. Ich denke aber, dass die Anerkennung einiger kultureller und politischer Forderungen der Mapuche ein guter Ausgangspunkt wäre, um die Dinge zu verändern. In dieser Hinsicht hat die traditionelle Linke noch einen beträchtlichen Weg zurückzulegen, um die Entfremdung von der institutionellen Politik zu bekämpfen, die von einem großen Teil der Bewegungen zum Ausdruck gebracht wird und um die positiven Anstöße aufzunehmen, die von den Bewegungen kommen. Sehr viel von all dem, was an Positivem in Chile seit dem Ende der Diktatur geschehen ist, ist die Frucht der im Chilenischen Sozialforum zusammengeschlossenen globalisierungskritischen Bewegung, die die politische Kultur eines Teils der Gesellschaft bewahrt und den Dialog mit der indigenen Bewegung am Leben gehalten hat. Darüber hinaus hat sie Hinweise auf die Kämpfe für die Rechte der Frauen und der Schwulen gegeben und kämpft heute gegen die konservative Offensive der katholischen Kirche.“

Am kommenden Sonntag ((den 23.November 2008)) werden in Venezuela Kommunalwahlen stattfinden. Wie bewertest Du das „bolivarianische“ Experiment von Hugo Chavez, an dem sich auch der indigene Eco Morales beteiligt?

„Evo scheint mir eine achtbare Figur zu sein, ein indigener Führer und Kokabauer, der auf demokratische Weise von 70 Prozent der Bevölkerung seines Landes gewählt wurde, aber ich glaube nicht an das so genannte bolivarianische Projekt. Aber hast Du das Gründungsdokument gelesen? Das ist eine grobe Vereinfachung der Geschichte Lateinamerikas. Das ist Negation der Komplexität der Geschichte und der Realität und wenn man die Komplexität der Dinge negiert, geht das immer schlecht aus. Und dann glaube ich, dass diese Idee eines bolivarianischen Sozialismus für die städtische Bevölkerung von Caracas sehr viel interessanter ist als für eine Bevölkerung am Amazonas, die in einer Art primitivem Kommunismus lebt.“

In der bolivarianischen Verfassung wird der Frage der Indigenas eine große Aufmerksamkeit zuteil.

„Es tut mir leid, aber mir erscheint das wie ein Handbuch für Pfadfinder. Die ernsthaften Verfassungen sind die von Andres Vejo, dem Vater aller Verfassungen: in Chile, Argentinien… 1.200 Seiten und nicht so ein mageres Büchlein.“

Aber diese Verfassungen sind oftmals bloßes Papier geblieben. Jetzt hingegen sieht man Fakten: die Verstaatlichungen, die Rückkehr der Volkssouveränität, die Beteiligung…

„… und Chavez’ Demagogie. Der ecuadorianische Präsident Correa lief aufgrund von Chavez’ Einmischung Gefahr die Wahlen zu verlieren und musste ihn bremsen. Und der Präsident von Paraguay, Lugo, hat eine Eildelegation entsandt, um Chavez mitzuteilen: Ich bitte Dich, Paraguay nicht zu erwähnen, damit wir die Chance haben, wirklich zu gewinnen. Chavez ist eine komplexe Figur, in Ordnung, aber ich kann nicht vergessen, dass er ein Militär ist und ich habe keinerlei Sympathie für irgendeinen lateinamerikanischen Militär.“

Aber die Geschichte der Armee in Venezuela verlief nicht über die Ausbildung in den Folterschulen der USA…

„Das stimmt, aber ich ziehe es vor, an ein Lateinamerika zu denken, das an seiner Andersartigkeit festhält und in jedem Land eigene, autonome Wege entwickelt.“



((Vorbemerkung, Übersetzung und Einfügungen in doppelten Klammern: Gewerkschaftsforum Hannover))
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Ergänzungen

Das Ganze klingt vll voll aufregend...

Exil-Berliner 02.12.2008 - 14:40
Aber, mensch hat von dem Ganzen wirklich kaum was mitbekommen. In den Nachrichten wurde zwar teilweise darüber berichtet und mensch konnte auch Plakate an den Municipales sehen und wusste "Grenze is erstmal dicht, da kein Zoll und Krankenhäuser sind genauso dicht", aber die restliche Bevölkerung hat das völlig gelassen aufgenommen und es war auch bei weitem nicht so wirksam wie es hier dargestellt wird, leider!

Im August gabs auch wieder die alljährlichen Streiks an den Unis, aber auch die nimmt hier noch kaum wer wahr. Chile ist recht streikwillig, jedoch fehlt der Schritt zur Militanz, wie in Bolivien, Argentinien etc., da ist Chile verdammt gemäßigt und das weiß die Regierung und speist mit 10% ab (bei einer Inflationsrate von knapp 10% ein echter Witz!) und die Streikenden gehn zufrieden nach Hause und lassen sich vom TV verblöden (Das muss mensch sich hier wirklich mal antun, da kommt einen die Galle hoch! Ist wirklich noch schlimmer als in Dtl)

Viele Gesetze der dunklen Zeit Pinochets gelten noch immer und machen den Menschen hier das Leben schwer (alleine das Bildungssystem ist schwer betroffen und vollkommen für'n Po), aber es gibt noch immer Chilenen, die Pinochet verehren und seine Taten für richtig halten (das muss mensch sich mal vorstellen!)

Kurz gesagt, ist Chile in Südamerika das bei weitem ruhigste Land und die Menschen sind hier nicht mal ansatzweise so protestlustig/-willig wie im Rest des Kontinents und dies nutzt die Regierung natürlich gut aus.

Bachelet selbst wird die Wahlen 2009 jedoch sicherlich nicht gewinnen, da sind sich hier alle einig*g*

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Andres Vejo? — asdf