Italien: die fröhliche Revolte

res publica 26.10.2008 00:49 Themen: Bildung Soziale Kämpfe Weltweit
Was sich in Italien derzeit abspielt ist eine Revolte der Jugend an Schulen und Hochschulen, die in diesem Umfang vielleicht noch nie dagewesen ist. Eine friedliche, fröhliche, bunte und laute Revolte, die bis in die hintersten Winkel des Landes reicht und deren Ende nicht absehbar ist.
Das Folgende ist ein Update zu diesem Artikel: La vostra crisi non la paghiamo noi. Diesen bitte zuerst lesen, da dort einiges was hier angesprochen wird erklärt wird.

Hintergrund: Ist ein anderes Italien möglich? | Interview mit Cossiga
Update: Neofaschisten greifen italienische Studentenproteste an
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The Revolution Will Not Be Televised?

Das zuverlässigste, vielleicht sogar einzige Mittel um einen Eindruck von der Verbreitung der Revolte an italienischen Schulen und Hochschulen zu bekommen ist zur Zeit Youtube. Indymedia Italien und seine regionalen Knoten sind dagegen leider sehr unergiebig. In den Jahren 2001-2003 war Indy Italy noch die Anlaufstelle Nummer eins für alternative Nachrichten aus Protestbewegungen gewesen, heute ist das nicht mehr so. Dagegen quillt Youtube geradezu über von Filmchen, die quasi im Minutentakt einlaufen, um von Versammlungen, Schulbesetzungen, Demonstrationen im ganzen Land zu berichten. Meist sind die Videos von den Schülerinnen und Studenten selbst gemacht, in der Qualität von sehr bescheiden bis semiprofessionell, ab und zu auch Berichte von meist regionalen Fernsehsendern.

Aber hier machen wir ja keine Filmkritik. Es geht um das Phänomen einer sich mit unerhörter Dynamik ausbreitenden Protestbewegung, zu der heutige technische Mittel, angefangen vom videofähigen Handy über SMS und Internet sicher stark beitragen. Diese Möglichkeiten gab es weder 1968 noch 1977, und auch bei der "Pantera"-Bewegung Anfang der 90er steckten diese Techniken noch in den Kinderschuhen bzw. waren noch nicht einmal angedacht. Vielleicht werden spätere Generationen mal Dissertationen über dieses Thema schreiben...

Politisches Theater zum Dritten:
24. Oktober: Berlusconi spricht von "Verbrechern"

Die Protestwelle rollt weiter. Berlusconi hat die Wut mit seinen Aussagen nur angestachelt. Heute hat er wieder einmal einen draufgesetzt: Es wären Verbrecher unter den Demonstranten, nein, es seien nicht viele, aber sie seien da und sie würden von der Presse hofiert. Berlusconis Geschwätz schreckt niemanden wirklich. Wahrscheinlich wird er das morgen wieder "nie gesagt" haben.

Cossigas Interview gibt inzwischen neben viel Empörung und besorgten Erinnerungen an die G8 von Genua auch Anlass zu Spott. Auf dieser Schülerversammlung in Modena wird das Interview als Sketch vorgetragen (ab Minute 3:48). Die SchülerInnen haben sich köstlich amüsiert. Vielleicht ist das naiv. Aber wie heißt es noch so schön: Unser Lachen wird euch begraben!

Politisches Theater IV:
25. Oktober: Große Aufführung der parlamentarischen Opposition

Die politschen Bankrotteure von der PD (Demokratische Partei) wollen es heute geschafft haben, über 2 Millionen in Rom gegen die Berlusconi Regierung zu versammeln. Ob das eine gute oder schlechte Nachricht ist, lasse ich einmal dahingestellt. Wenn das ganze "Programm" nur darin besteht, gegen den "mafiösen Zwerg" zu sein, kann man sich das schenken. Zweimal hätten sie die Möglichkeit gehabt, die mediale Macht des großen Manipulators zumindest einzudämmen. Sie haben sie nicht genutzt. Ihre sonstige politische Praxis war der übliche Neoliberalismus "light". Ob es um Arbeiterrechte ging, ob um die Migrationspolitik oder die Beteiligung Italiens an den Kriegen in Afghanistan und Irak: nirgends ein essentieller Unterschied zur alten und neuen Berlusconi-Regierung. Und die "radikale" parlamentarische Linke in Form von PRC, PCdI und Grünen hat sich mit der erneuten Kollaboration mit diesen Herrschaften selbst das Grab geschaufelt. DAS haben sie immerhin erreicht, die Herren Veltroni, D'Alema, Prodi und Co. Deshalb macht es eher wütend, wenn die heute nach alledem eine Megademo zustande bringen.

Natürlich wurde von Veltroni gefordert, das Gesetzesdekret zur "Bildungsreform" zurückzuziehen. Natürlich wurde wieder einmal so getan, als hätte man nicht vor kurzem noch regiert und nicht selbst eine "Regierung, die nur den Mächtigen nützt" geführt, wie sie es jetzt Berlusconi vorwerfen. Und ob es nun 2,5 Millionen waren, wie von der PD behauptet, oder nur 800.000, wie von der Polizei verlautbart – wer auf diese politische Kaste noch ernsthafte Hoffnungen setzt ist selber schuld. Aber die wirkliche Musik spielte auch heute wieder woanders...

"1968-2008 - La lotta continua"

So war es heute auf einem Transparent der Demonstration von Tausenden in Lecco zu lesen, die in einem schönen Video zu sehen ist. Lecco haben die meisten vielleicht noch nie gehört, muss man auch nicht. Man muss auch kein Italienisch verstehen, um sich an der Stimmung, die solche Bilder erzeugen, einfach nur zu erfreuen. Lecco, eine Stadt von knapp 50.000 Einwohnern am Comer See, Lombardei, mittem im Herzen des Berlusconismus und der Lega Nord, heute, am 25. Oktober 2008.

In Triest waren heute über 10.000 auf den Straßen. Auf einem Transparent eine Anspielung auf den italienischen Bankenriesen Unicredit: "UniCredite oder Universität? Wir werden die Krise nicht bezahlen". Auch nicht schlecht die 20.000 in Pisa am 23. Oktober.

Putignano, eine Kleinstadt in der Provinz Bari, Apulien, am 23.10. Catanzaro, Kalabrien, 24.10. Verdammt laut ist es da. Stadionatmosphäre.

Battipaglia, Provinz Salerno, Kampanien. Cosenza, Reggio Calabria am 25.10, Tausende und Abertausende auf den Straßen. Überall. Vor allem der sonst so apathische Süden scheint geradezu zu explodieren. Sizilien, scheinbar fest in der Hand Berlusconis, ebenfalls. Palermo, Catania, Siracusa, aber auch kleine Nester im Landesinnern, Provinz Enna berichten von Demos und besetzten Schulen. Ähnlich auch Sardinien. Das ist ein Flächenbrand.

OK, genug Videos. Wer Zeit und Lust hat, sucht selbst. Stichwort "Gelmini" auf Youtube.

Metropole und Peripherie - die Allgegenwart der Bewegung

Interessant ist zu beobachten, wie sich in den großen Städten, vor allem Rom und Neapel die Proteste zunehmend in die Stadtviertel und die Peripherie verlagern. Ausgehend von Schulversammlungen zieht man im eigenen Viertel los, stößt auf Demos von benachbarten Schulen und schnell sind wieder ein paar Tausend irgendwohin unterwegs. Mit zentralen, "organisierten" Demos hat das alles längst nichts mehr zu tun. Da können schon mal ein halbes Dutzend Demos gleichzeitig in verschiedenen Stadtvierteln unterwegs sein. Die Wege sind wild und unergründlich. Die Polizei kann nicht mehr tun als irgendwie den Verkehr zu regeln.

So wie die Demos in die Stadtviertel der Großstädte gehen und nicht in die üblichen zentralen Plätze organisierter Demos, so durchziehen sie immer mehr das platte Land. Durch die Allgegenwart dieser Demonstrationen und Protestaktionen wird die Hetze gegen die Bewegung natürlich immer schwerer. Die Leute im Stadtviertel oder im Städtchen kennen ihre "ragazzi", die zudem noch oft ihre eigenen Kinder sind. Wie soll das funktionieren, Kriminelle und Terroristen aus ihnen zu machen? Die Friedlichkeit und Heiterkeit der Bewegung ist ungebrochen, aber auch die Entschlossenheit, keine Ruhe zu geben. Natürlich mögen viele der Jüngsten nicht wirklich kapieren, worum es geht und mehr der Gaudi halber dabei sein. Aber von Fernsehsendern interviewte Schüler geben immer wieder sehr informierte und sehr eloquente Antworten. Nein, das ist kein Haufen Kids, der nur mal eben Rabatz machen will. Das ist eine Generation, die durchaus ahnt, dass die heraufziehende Weltwirtschaftskrise schwer auf ihrer Zukunft lasten wird.

Die nächsten Wochen werden zeigen, was wird. Das Berlusconi-Regime hätte nichts lieber als Gewalt. Manche verstehen Cossigas Worte durchaus auch als versteckte Botschaft, als "freundschaftliche" Warnung vor diesen Absichten. Nun mag man einem Cossiga wahrlich keine Sympathie für eine neue Jugendbewegung dieses Ausmaßes unterstellen, aber diese Lesart hat ihre Berechtigung. Immer vorausgesetzt, dass die Jugendlichen nicht den Kern des Systems antasten. Die Frage ist ob das so bleiben wird.

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Ergänzungen

Danke

AntifaschistIn 28.10.2008 - 14:55
Ein riesiges Dankeschön an den/die VerfasserIn oder die VerfasserInnen für diesen wahnsinnig guten und vor allem informativen Artikel. Wir haben uns gleich mal erlaubt den/die Artikel noch weiter zu verbreiten:  http://brigate-autonome.blogspot.com/

Demonstrationen heute

-- 30.10.2008 - 14:17
Erste Zahlen der Großdemonstrationen, die gerade stattfinden:
"800.000 a Roma, 150.000 a Torino, 50.000 a Palermo, Bologna sono 40.000. Ma la protesta tocca tutte le città, da Nord a Sud."
Ausserdem überall Versammlungen, Blockaden und weitere Besetzungen.
 http://www.infoaut.org/articolo/30-ottobre-oltre-un-milione-in-piazza
 http://www.repubblica.it/

heute: fascho-angriffe in rom abgewehrt

mario 30.10.2008 - 15:13
...

Video und TV Berichte zur Revolte

Mario 30.10.2008 - 15:14
PISA:
 http://uk.youtube.com/watch?v=zOjyVoK9OJ4
 http://uk.youtube.com/watch?v=i_UTJLSgBx0&feature=related
 http://uk.youtube.com/watch?v=L9atLexVxds&feature=related

MILANo
 http://uk.youtube.com/watch?v=BmzCmBQTNuc
 http://uk.youtube.com/watch?v=eE6OYF2Ubp8&feature=related
 http://uk.youtube.com/watch?v=lFzSFI_kXpM&feature=related
 http://uk.youtube.com/watch?v=HTr9YxV4tEk&feature=related

ROMa
 http://uk.youtube.com/watch?v=5F6AZ_kL6l8&feature=related (lesson outside the Parliament)
 http://uk.youtube.com/watch?v=95qwE4XLIhg
 http://uk.youtube.com/watch?v=V_AEnya7oYY (Rage Against the Machine)
 http://uk.youtube.com/watch?v=zoAfMj0fXdY&feature=related
 http://uk.youtube.com/watch?v=9eHjZM2fZf4 (Roma Film Festival)

SKY TV
 http://uk.youtube.com/watch?v=zAB00aRW01I&feature=related (the News crew was attacked after accusing the students of forcing the police barriers)

Firenze
 http://uk.youtube.com/watch?v=6YLY_5dyBVg (death of education)
 http://uk.youtube.com/watch?v=ZHRRZY96xyM&feature=related (brain hunt)
 http://it.youtube.com/watch?v=ofjCoFYVycA&feature=related (D&B off the Duomo)
 http://uk.youtube.com/watch?v=vJTZnYlS5uo&feature=related
 http://uk.youtube.com/watch?v=NajWUGuBJ-0&NR=1
 http://uk.youtube.com/watch?v=Rc75X8JBOnU&feature=related
 http://uk.youtube.com/watch?v=Detmsdks9bM&feature=related

PALERMO
 http://uk.youtube.com/watch?v=T8jf6NRS6LE&feature=related
 http://uk.youtube.com/watch?v=hjUK0zH8CTE&feature=related
 http://uk.youtube.com/watch?v=o9JiZ-Tqkuw&feature=related

TRIESTE
 http://it.youtube.com/watch?v=70hU2Mjc7kk


 http://www.beppegrillo.it/

Korrektur mario

Korrektor 30.10.2008 - 15:59
Die Angriffe der Faschisten waren gestern gewesen.

200.000 in Milano

wgkkl 30.10.2008 - 18:47
Ergänzung zu weiter oben genannten Zahlen: In Milano sind es heute 200.000 gewesen, in Brescia: 8.000, in Verona 5.000, selbst in Kleinstädten waren jeweils mehrere Tausend auf den Straßen. Aus den meisten Städten sind (zumindest auf anhieb) noch keine Zahlen zu finden, landesweit sind es aber auf jeden Fall mehrere Millionen gewesen. 90% aller Schulen sind bestreikt oder besetzt usw. In fast jeder größeren Stadt werden die Hauptbahnhöfe und Straßen blockiert. Man sieht auch immer wieder Bilder von Polizeiübergriffen. Wäre schön, wenn die Flashnews o.ä. von jemanden übersetzt werden könnten, mein Italienisch ist nicht ausreichend.

Deutschland: Schüler wollen auch streiken

http://www.newsclick.de 01.11.2008 - 01:00
Ministerium warnt vor Demonstration am 12. November – "Rechtslage eindeutig"

BRAUNSCHWEIG. Vor den am 12. November bundesweit geplanten Schülerdemonstrationen – darunter in Braunschweig – für kleinere Klassen und mehr Unterricht hat das Kultusministerium gewarnt.

"Grundsätzlich rechtfertigt die Teilnahme an Demonstrationen nicht das Fernbleiben vom Unterricht, so lange das mit der Demonstration verfolgte Anliegen nicht weniger nachhaltig auch außerhalb der Unterrichtszeit verfolgt werden kann", sagte ein Sprecher. Ministerin Elisabeth Heister-Neumann (CDU) sei stets offen für Gespräche.

Das "Aktionsbündnis gegliedertes Schulwesen" – darunter der Philologenverband – betonte, tatsächliche Missstände an den Schulen lieferten nur einen Vorwand, um das Zerschlagen des gegliederten Schulwesens durchzusetzen.

"Wenn Schüler auf die Straße gehen, um für ihr Recht auf Bildung zu demonstrieren, werden wir das unterstützen", sagte die SPD-Landtagsabgeordnete Frauke Heiligenstadt.

Die Leiter einiger Braunschweiger Gymnasien erklärten, dass sie die Aktion nicht unterstützen werden. "Die Rechtslage ist eindeutig. Wer am Streik teilnimmt, verletzt die Schulpflicht und fehlt unentschuldigt.", sagte Wolfgang Froben vom Lessing-Gymnasium.

Er hält es wie einige seiner Kollegen für widersprüchlich, während der Unterrichtszeit gegen Stundenausfall zu protestieren. An der Ricarda-Huch-Schule und der Raabeschule werden mit Rücksicht auf den Streik am 12. November keine Klassenarbeiten geschrieben.

Berlusconi macht Rückzieher

http://www.nzz.ch 06.11.2008 - 15:52
Dekret wird nicht verabschiedet - Dialog mit Opposition gesucht

Die Regierung in Rom macht vor den angekündigten massiven Studentenprotesten einen Rückzieher. Ministerpräsident Silvio Berlusconi kündigte an, vorerst nicht wie geplant ein umstrittenes Dekret zur Reform der Universitäten zu verabschieden.

Stattdessen werde er die Reform in ein Gesetzprojekt zusammenbündeln, das dem Parlament in den nächsten Tagen vorgelegt werden soll.

Damit will der Premierminister offenbar den Dialog mit der Opposition fördern. Die Universitätsreform wird dadurch nicht, wie von der Regierung geplant, schon Anfang 2009 in Kraft treten können.

Napolitano übt auf Berlusconi Druck aus

Berlusconi handelt unter dem Druck von Staatspräsidenten Giorgio Napolitano, der nach dem Generalstreik gegen die Bildungsreform am vorigen Freitag die Regierung aufgerufen hatte, sich mit den Forderungen der Protestierenden auseinanderzusetzen.

Die Reform sieht beträchtliche Einsparungen im Universitätsbereich vor. Mit der Hochschulreform will die Mitte- Rechts-Regierung Berlusconi die Zahl der Professoren pro Student reduzieren. Die Kosten der veralterten italienischen Universitäten sind nach Ansicht von Bildungsministerin Mariastella Gelmini zu hoch.
Arroganz der Regierung

«Unter dem Druck der Studenten muss Berlusconi auf das Dekret verzichten, mit dem die Universitätsreform sofort in Kraft getreten wäre. Das ist ein grosser Erfolg für die Studentenbewegung, die vor der Arroganz der Regierung Berlusconi nicht haltmacht», kommentierte Oppositionschef Walter Veltroni von der Demokratischen Partei (PD) die Ereignisse.

Zufrieden mit dem Rückzieher der Regierung zeigte sich auch der Chef der christdemokratischen UDC, Pier Ferdinando Casini. «Die italienische Schule und die Universität brauchen eine tiefgreifende Erneuerung. Man darf diesen Modernisierungsprozess jedoch nicht auf Kosten der Qualität durchführen», sagte Casini.

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Ja, so bunt! — mobster

Antwort und Ergängung — res publica

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Leider nicht 69 — Miki aus Italien