La vostra crisi non la paghiamo noi

res publica 24.10.2008 05:23 Themen: Bildung Soziale Kämpfe Weltweit
Italien ist im Unruhezustand. Der Bildungsbereich als Auslöser eines neuen 1968? Manche hoffen es, manche fürchten es. Vielleicht kommt aber alles noch besser. Denn unterm Strich war '68 eine Niederlage. Vielleicht wird es 2008ff anders? Nötig wär's

Die "Reform"

In wenigen Worten: es handelt sich im Kern um Sparmaßnahmen, die alle Bereiche des Bildungswesens, von der Grundschule zur Universität, betrifft. Das Gesetz Nr. 133, das zur Zeit im italienischen Parlament verhandelt wird, sieht die Einsparung von über 8 Mrd. Euro in den kommenden 5 Jahren vor. Erreicht werden soll das durch Nichtverlängerung von ca. 140.000 prekären Arbeitsverträgen im Schul- und Hochschulbereich sowie die Schließung zahlreicher kleiner Grundschulen in ländlichen Gegenden. Zudem ist die Kommerzialisierung der Hochschulen, der zwangsweise Verkauf von Gebäuden zur Haushaltsdeckung bis hin zur völligen Privatisierung vorgesehen.

Als besonderes Schmankerl hat die rassistische Lega Nord die Forderung nach getrennten Schulklassen für Ausländerkinder, die nciht ausreichend Italienisch können, eingebracht.

Der Protest

Der Protest entzündete sich in erster Linie am Angriff auf das öffentliche Bildungswesen. Seit September gab es Protestaktionen und Demonstration, die in den letzten zwei Wochen lawinenartig zunahmen.

Am 10. Oktober eine erste Welle von großen Demonstrationen in Dutzenden Städten mit einigen Hunderttausend Schülern, Lehrerinnen, Eltern, Schul- und Universitätspersonal. 40.000 Schüler und Studenten ziehen in Rom vor das Bildungsministerium

Am 17. Oktober landesweiter Streik der Basisgewerkschaften COBAS, RdB-Cub und SdL. Ca. 2 Millionen schließen sich dem Streik an, die höchste Beteiligung in der Geschichte der linksunabhängigen Gewerkschaften. Weite Teile des Bildungssektors sind lahmgelegt, aber auch öffentlicher Nahverkehr und Gesundheitswesen und viele Behörden sind betroffen. Auch im Bahnverkehr gibt es Streichungen; Feuerwehrleute und Flugpersonal, aber auch viele vor allem prekär Beschäftigte von Call-Centern oder Ketten wie IKEA beteiligen sich am Ausstand. Zur zentralen Demo in Rom kommen 300.000 Menschen, darunter viele Schülerinnen und Studenten aus der wachsenden Zahl von bestreikten und besetzten Schulen und Universitätsfakultäten.

Seither reißen Demonstrationen, öffentliche Versammlungen und Besetzungen von Schulen und Fakultäten nicht ab. Bis in den tiefen Süden, in kleine, verschlafene Provinzstädtchen breitet sich die Protestbewegung wie ein Steppenbrand aus. Ein guter Gradmesser dafür ist die Masse an Videos, die man auf Youtube findet, wenn man nach dem Namen der Bildungsministerin "Gelmini" sucht. Dort findet sich das mit dem Handy gemachte Kurzvideo von der kleinen Demo in den Gassen von Pitigliano neben imposanten Großdemos von 50.000 in Florenz. Vom 1. Oktober bis heute sollen laut Innenministerium 300 Demonstrationen stattgefunden haben und aktuell sollen 150 Schulen und 20 Fakultäten besetzt sein. Das scheint eher stark untertrieben. Nach Informationen der Protestbewegung sollen allein in Neapel bis heute 60 höhere Schulen besetzt worden sein, in der Region Kampanien 120.

Ds Klima ändert sich. Als am Morgen des 21. Oktober das besetzte Sozialzentrum "Horus" in Rom geräumt wird und der neofaschistische Bürgermeister Alemanno dies zum Anfang einer Reihe von Räumungen erklärt, wird dies zum Auslöser eines weiteren Brennpunkts des Protests. Bis zum Abend versammeln sich 5.000, eine ungewöhnlich große Zahl, normalerweise wären es wohl deutlich weniger gewesen. Die Leute vom Sozialzentrum wurden heute auf der Demonstration, die zum Senat zog, von den Studenten herzlich begrüßt; allerdings haben sie sich überzeugen lassen müssen, die Helme abzulegen, als eine Konfrontation mit der Polizei drohte. Hier gibt es also noch kulturelle Defizite ;-)

Politisches Theater I:  22. Oktober: Berlusconi droht

In einer Pressekonferenz zusammen mit Ministerin Gelmini verkündet Berlusconi, dass die Besetzungen von Schulen und Unversitäten beendet werden müssten. Er werde noch am Abend mit Innenminister Maroni das Einschreiten der Ordnungskräfte detailliert besprechen. Die Presse wird von Berlusconi aufgefordert, die "Wahrheit" zu schreiben, im Übrigen müssten sie sich daran gewöhnen, dass er noch weitere viereinhalb Jahre Premierminister sein werde. Die Aufzeichnung ist alsbald dutzendfach auf youtube zu sehen und zieht tausend wütende Kommentare an. "Diktatur" und "du wirst enden wie Mussolini" ist der Tenor

Politisches Theater II:  23. Oktober: Cossiga provoziert und Berlusconi macht sich lächerlich

In einem Zeitungsinterview des "Quotidiano Nazionale" meldet sich der 80-jährige Senator auf Lebenszeit, Ex-Minister- und Staatspräsident Francesco Cossiga zu Wort; es liest sich wie eine ungeheuerliche Provokation, aber für solches steht der Name Cossiga wie kein zweiter in Italien. Cossiga, der als Innenminister die Unruhen des Jahres 1977 niederschlagen ließ - wobei es in Bologna und Rom Tote gab - gilt als einer der Architekten der "Strategie der Spannung" jener Jahre, und er hat wohl nichts verlernt: er schlägt vor, Provokateure in die Bewegung einzuschleußen, die ein paar für Tage Chaos und Verwüstung sorgen, um dann mit eiserner Hand zuzuschlagen. Von Festnahmen hält er wenig, da man die ja dann doch gleich wieder freilassen würde, stattdessen empfiehlt er die Demonstranten krankenhausreif zu schlagen. Für ihn ist sowieso klar, dass es auch wieder zu Terror kommen wird, denn die Roten Brigaden seien auch nicht in den Fabriken, sondern in den Universitäten entstanden. Soweit der "Onorevole" Cossiga, dessen Auftritte in den letzten Jahren immer wieder für Wirbel gesorgt haben, den er sichtlich zu genießen scheint. Ist es grenzenloser Zynismus oder macht er sich nur einen Scherz mit Berlusconi, den er verachtet? In seiner aktiven Zeit hat er jedenfalls nicht seine Rezepte im Voraus verraten.

Plötzlich scheint es sich Berlusconi anders überlegt zu haben: aus Peking, wo er gerade zu Gast ist, lässt er verlautbaren, er habe nie den Einsatz der Polizei in den Schulen erwogen. Das sei ein Missverständnis der Presse, die ihn immer falsch verstehen wolle. Komischerweise war am Morgen noch in einem seiner eigenen Blätter, "Il Giornale", beifällig von des Meisters Entscheidung berichtet worden (im Web wurde das dann schnell wieder wegkorrigiert). Komischerweise ist die Videoaufzeichnung vom Vortag aber kein Missverständnis, sondern real, muss also wohl ein Klon gewesen sein, der da gesprochen hat. In der Sache bleibt Berlusconi dabei, dass die Besetzungen aufhören sollen, man müsse die Schüler und Studenten aber davon "überzeugen" aufzugeben. Wie dies geschehen soll? Er wisse schon wie, aber er wolle keine Schlagzeilen produzieren.

Nebenbei meldet sich dann auch noch der Verteidigungsminister zu Wort, der durch die Blumen zu verstehen gibt, dass es gar nicht gut gewesen wäre, wenn Berlusconi so etwas gesagt hätte und dass er doch besser dazu nichts mehr sagen sollte. Kurz, Berlusconi macht eine schöne "figura di merda", wie man in Italien sagt.

Spaß beiseite: Ein neues '68?

Es gibt durchaus sowohl Befürchtungen als auf Hoffnungen in dieser Hinsicht, je nach Standpunkt. Die Regierung zumindest scheint dies zu befürchten, denn die Aufregung und Verwirrung, die die Ereignisse verursachen, ist vielsagend. Es werden die Polizeibehörden zu besonderer Wachsamkeit gegenüber den Vorbereitungen zu den geplanten Großdemonstrationen am 30. Oktober und 14. November aufgerufen.

Es wird vieles davon abhängen, ob die Schüler und Studentinnen alleine bleiben. Manches spricht dafür, dass das nicht so ist. Lehrerinnen und Eltern sind schon jetzt stark einbezogen, und die Masse der prekär Beschäftigten in Forschung und Lehre auch.</>

.... oder gar die erste europäische Revolte im Zeichen der Weltwirtschaftskrise?

Auch diese Frage lässt sich nicht eindeutig beantworten. Tatsache ist: Die zentrale Parole, von Mailand bis Palermo - in grammatikalischen Varianten - ist "Vostra crisi non la pagheremo noi" - Eure Krise werden wir nicht bezahlen. Die Krise - obwohl sie noch nicht im Kontext der "Reform" einbezogen war - spielt im Bewusstsein der gegenwärtigen Protestbewegung eine Rolle. Noch sind die Proteste friedlich. Es gab nur wenige Auseinandersetzungen mit der Polizei, die teilweise selbst nicht recht zu wissen scheint, wie sie mit den zahlreichen "Verstößen" durch an allen Ecken und Enden ausbrechenden "wilden" Demonstrationen, Besetzungen von Schulen, Fakultäten, Verkehrsblockaden und Bahnhofsbesetzungen umgehen soll. In Mailand gab es am 21. Oktober einen Knüppeleinsatz gegen 2.000 Studenten, die den Bahnhof Cadorna besetzen wollten, aber dies war auch der einzige bemerkenswerte Zwischenfall bisher.

Gefahren? Ja. Chancen? auch

Ja, zweifellos gibt es Gefahren. Zunächst zu den inneren Gefahren. An verschiedenen Orten hat die neonazistische Forza Nuova Versuche zur Querfrontbildung unternomen oder sich gar zum Protagonisten der Bewegung gemacht (neonazistisch und nicht neofaschistisch nenne ich sie, weil sie mit einem frappanten Antisemitismus mehr der NSDAP als dem klassischen italienischen Faschismus nahestehen und gut Freund mit der NPD sind). Diese Herrschaften haben einseitig den Burgfrieden mit der Linken verkündet, was auch nichts Neues ist, denn das haben "staatsfeindliche" Rechtsextremisten schon in den 80ern versucht. Neu ist nur, dass inzwischen die von ihnen als Verräter angesehenen Postfaschisten der Alleanza Nazionale mit Berlusconi regieren. Eine schwierige Situation, der sich die "Bewegung ohne Parteifahnen" gewachsen zeigen muss.

Diese Gefahren gibt es vor allem, weil sich der "Kommunismus" (in Parteiform) in Italien von der größten KP der westlichen Welt in einen traurigen Trümmerhaufen verwandelt hat. Unmittelbar nach dem Fall der Mauer hatte die PCI nichts Eiligeres zu tun, als sich umzubenennen (bezeichnenderweise in PDS). Der Kommunismus war in Italien durchaus eine Macht gewesen - bei den Arbeitern und "kleinen Leuten", die daran glaubten, die mit Stolz und zu Zehntausenden mit roten Fahnen samt Hammer und Sichel "in piazza" gingen. Dieses Gefühl des "rosso nel cuore", im Herzen rot, war eine widersprüchliche Mischung aus Reformismus, mit Spuren von Stalinismus und mittelmeerischem Anarchismus. Der Kommunismus der Funktionäre hatte jahrzehntelang den roten Traum genährt und gleichzeitig betrogen. Als Togliatti 1944 aus dem sowjetischen Exil zurückkam und den Partisanen, die für den Sozialismus kämpften, die sowjetische Linie der antifaschistischen Einheitsfront mit den bürgerlichen Kräften verordnete; als Berlinguer mit seinem Eurokommunismus einerseits die Emanzipation von Moskau, anderererseits auch mit der Linie des "Historischen Kompromisses" auch den Wunsch nach Regierungsfähigkeit mit der Komplizenschaft bei der Niederschlagung der radikalen Linken 1977 bekräftigte... Der größere Rest der alten PCI ist als solcher nicht mehr vorhanden; Kommunismus ist zum Universalschimpfwort der vom Berlusconismus verblödeten Massen geworden, die inzwischen selbst einen Prodi für einen "Kommunisten" halten. Dazu haben die Mehrheitsrestkommunisten selbst beigetragen, die mit ihrem Versuch, sich auf der Blair-Schröder-Linie zu sozialdemokratisieren, gründlich gescheitert sind. Die kommunistische Minderheit, die noch Hammer und Sichel in der roten Fahne spazierenträgt, PRC und PCdI, haben bei den letzten Wahlen im Regenbogenbündnis gemeinsam mit den Grünen mit gerade einmal 3% ihr Waterloo erlebt.

So kommt es, dass die jetzige Massenbewegung an Schulen und Universitäten als "führungslos" erscheinen mag. Und die (scheinbar) führungslose Masse läuft in Gefahr, entweder Wölfen zum Opfer zu fallen oder vom Schäfer wieder in den Stall geführt zu werden. Von den Wölfen hatten wir es schon. Der Schäfer in Form der zur Unkenntlichkeit verkommenen "Linken" bereitet sich allmählich vor, das Kommando zu übernehmen. Interessant wird es werden, ob die staatsfrommen Großorganisationen (die Triade CGIL-CISL-UIL auf Gewerkschaftsseite und UdS/UdU auf Schüler und Studentenseite) mit ihrem Eingreifen beim landesweiten Streiktag am 30.10. die Hegemonie über die bisher weitgehend autonome Bewegung übernehmen können und/oder ob die Faschisten als Wölfe im Schafspelz sich festsetzen können.

Die dritte Möglichkeit wäre die beste: wirkliche Autonomie der Bewegung. Dann könnte es noch spannend werden.

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Ergänzungen

Berlusconi und Prpaganda Due (P2)

aka 24.10.2008 - 13:43

Der Hinweis auf die "Strategie der Spannung" durch Cossiga sollte sehr viel mehr erschrecken. Mit der, neben Nazis, Gheimdiensten und Parteien, maßgeblich beteiligten Loge "Propaganda Due" (P2)gab es damals eine machtvolle konspirativ informelle Gruppierung, die durch fingierte blutige Anschläge und die Radikalisierung den Protest von den Massen trennte und vor allem die Rechtfertigung für massive Repression lieferte. Der Übergriff auf besetzte Projekte könnte ein Hinweis darauf sein, daß dies auch heute wieder versucht wird. Mit "Forza Nuova" und "Fiamma Tricolore" existieren ebenfalls wieder faschistische Strukturen, die mehrfach auch zu Bomben griffen. Willfährige Helfer für eine 3. Strategie der Spannung - nach Genua - sind vorhanden. Im Übrigen ist Berlusconi Mitglied von P2. Es wird zwar behauptet, daß die Loge aufgelöst sei, jedoch kann davon ausgegangen werden, daß sie bis heute operiert.

"Linke hinter Demonstrationen"

http://derstandard.at 24.10.2008 - 16:38
Ministerpräsident beharrt auf umstrittener Schulreform - "Keinen Dialog mit denjenigen, die mich Diktator nennen"

Trotz heftiger Proteste von Studenten und Schülern gegen seine umstrittene Schulreform beharrt der italienische Ministerpräsident Silvio Berlusconi auf seinem harten Kurs. Der Premierminister warf der Linken vor, aus politischen Gründen den Protest der Studenten und Schüler anzufachen, die in den letzten Tagen mehrere Schulen und Universitäten besetzt hatten. In mehreren italienischen Städten kam es zu Großkundgebungen gegen die Schulreform, die beträchtliche Einsparungen vorsieht.

"Die Linke hat niemals vernünftige Vorschläge vorgelegt. Ich arbeite weiter für die Umsetzung meines Programms. Mit dieser Linken gibt es keine Dialogmöglichkeit. Es kann mit Personen, die mich als Diktator bezeichnen, keinen Dialog geben", sagte Berlusconi nach Angaben italienischer Medien vom Freitag.

Drohung mit Polizeieinsatz

Berlusconi hatte diese Woche mit dem Einsatz der Polizei gedroht, sollten die Demonstranten weiterhin Schulen und Universitäten belagern. "Der Staat muss das Recht der Jugendlichen verteidigen, Schulen und Universitäten zu besuchen", bekräftigte der Ministerpräsident seine Ansicht, die in der Opposition eine Welle des Protests ausgelöst hatte.

Unterrichtsministerin Mariastella Gelmini, Verfasserin der umstrittenen Reform, die die Streichung von 133.000 Jobs im Schulwesen vorsieht, erklärte, sie wolle die Vertreter der Studentenverbände treffen, um ihnen den Inhalt der Reform vorzustellen. "Ich will den Dialog nur unter der Bedingung fördern, dass man über Fakten diskutiert", sagte die Ministerin.

Die Reform sieht die Streichung von 87.000 Lehrerstellen und 44.500 Jobs im administrativen Schulbereich innerhalb der nächsten drei Jahre vor, was dem Staat Einsparungen im Wert von sieben Prozent der jährlichen Ausgaben für die Schulen bescheren wird. Berlusconi will unter anderem das Budget der Universitäten kürzen. Zudem können Schülern künftig wegen schlechten Benehmens Konsequenzen drohen. Volksschüler sollen fünf Jahre vom gleichen Lehrer unterrichtet werden und Schuluniformen tragen müssen.

Für den 30. Oktober kündigten die großen italienischen Gewerkschaften einen Generalstreik und weitere Kundgebungen gegen die Schulreform an. Auch für Samstag ist eine Großdemonstration der oppositionellen Demokratischen Partei gegen die Regierung geplant.

Demonstrationen im ganzen Land

http://www.nzz.ch 24.10.2008 - 16:39
Die Protestwelle gegen die Schulreform der italienischen Regierung ist am Donnerstag weiter angestiegen. Ministerpräsident Berlusconi hatte zuvor mit Polizeieinsätzen für den Fall gedroht, dass die Manifestanten mit Besetzungsaktionen den Lehrbetrieb lahmlegen sollten.

In Italien haben am Donnerstag erneut landesweit Kundgebungen von Zehntausenden von Studenten und Dozenten gegen die Schulreform der Regierung stattgefunden. An einigen Hochschulen wurden gar Hörsäle besetzt. Die Protestwelle schien erst recht weiter anzuschwellen, als der Regierungschef Berlusconi am Vortag während einer Pressekonferenz bereits mit Polizeieinsätzen für den Fall gedroht hatte, dass Manifestanten mit Besetzungsaktionen den Lehrbetrieb lahmlegen und das Recht ihrer Kommilitonen auf Ausbildung beschneiden sollten.

«Terroristische Kampagne»

Berlusconis Äusserungen lösten prompt heftige Proteste der Oppositionsparteien aus, die den zunehmend autoritären Stil des Ministerpräsidenten beklagten und ihm vorwarfen, selbst die von der Verfassung garantierte Autonomie der Hochschulen beschneiden zu wollen. Sogar im Regierungslager weckten die Drohungen des Ministerpräsidenten gemischte Gefühle; und auch viele Kommentatoren der hiesigen bürgerlichen Presse bekundeten die Befürchtung, dass Berlusconi nur Öl ins Feuer einer bereits stark angeheizten Kontroverse gegossen und unnötig der Demokratischen Partei zugedient habe, die am Samstag ihre erste Grossdemonstration seit der schweren Niederlage in den Parlamentswahlen durchführen will.

Der Regierungschef behauptete am Donnerstag, dass er gar nie an einen Polizeieinsatz in den Schulen gedacht habe. Er sei erneut ein Opfer der Desinformationskampagne eines Grossteils der Medien geworden, die auch den Inhalt der Schulreform nicht wahrheitsgetreu und sachlich behandelten. Die Erziehungsministerin Gelmini beklagte gleichentags im Senat, dass sie ständig persönliche Beleidigungen erdulden müsse. Vor dem Senat sei gar eine «terroristische Kampagne» lanciert worden, mit der Fehlinformationen zur Verängstigung der Familien verbreitet würden. Gelmini beteuerte sodann, dass sie zu einem offenen Dialog bereit sei. Schon am Freitag wolle sie alle Organisationen der Studenten, Dozenten und Eltern zu einer sachlichen Diskussion einladen.

Im Urteil der meisten Fachleute besteht im italienischen Schulsystem zweifellos ein erheblicher Reformbedarf. Im internationalen Vergleich gibt es zu viele Lehrer. Rationalisierungen sind deshalb unumgänglich. Die von der Regierung angestrebte Abschaffung von Lehrerteams und die Wiedereinführung des in den meisten anderen EU-Ländern üblichen Klassenlehrers in der Primarschule dürften aber auch pädagogische Vorteile haben.
Arrogantes Vorgehen der Regierung

Allerdings muss sich die Regierung von der Opposition den Vorwurf gefallen lassen, dass sie eine solch komplexe und erfahrungsgemäss mit vielen Emotionen verbundene Reform ohne grosse Erklärungs- sowie Überzeugungsarbeit im Schnellverfahren durchs Parlament zu peitschen versucht und so erst recht habe den Eindruck erwecken müssen, dass es ihr nur um rücksichtsloses Geldsparen gehe. Dazu führte die Regierung, der die anhaltende Popularität immer mehr in den Kopf zu steigen scheint, nicht nur wiederholt Vertrauensabstimmungen durch. Sie verpackte die Reformelemente auch noch in Gesetzesdekrete, die von ihr verabschiedet werden, sofort in Kraft treten und erst 60 Tage später vom Parlament gutgeheissen werden müssen. Gesetzesdekrete sind aber laut der Verfassung nur in ausserordentlichen Dringlichkeitsfällen statthaft.

Berlusconi bekommt Widerstand zu spüren

http://www.dolomiten.it 25.10.2008 - 11:48
Seine Popularität bei der Gesamtbevölkerung ist auf einem Rekordhoch, auch die Arbeit seines Kabinetts wird laut Umfragen von der großen Mehrheit im Land geschätzt, doch die Flitterwochen von Premierminister Silvio Berlusconi mit den Italienern sind vorbei. Sechs Monate nach seinem Amtsantritt bekommt der strahlende Medienzar ersten Widerstand im Land zu spüren.

Zu schaffen machen Berlusconi Schüler und Studenten, die gegen seine umstrittene Reform auf die Barrikaden gehen.

Viele Studenten haben aus Protest gegen Berlusconis Pläne seit Wochen den Unterricht boykottiert und vereinzelt auch Gebäude besetzt. Täglich finden in Rom, Mailand und Bologna Demonstrationen gegen die Schulreform statt, die dem Bildungswesen acht Milliarden Euro entziehen soll.

Die Reform sieht die Streichung von 87.000 Lehrerstellen und 44.500 Jobs im administrativen Schulbereich innerhalb der nächsten drei Jahre vor, was dem Staat Einsparungen im Wert von sieben Prozent der jährlichen Ausgaben für die Schulen bescheren wird.

Berlusconi will unter anderem das Budget der Universitäten kürzen. Zudem können Schülern künftig wegen schlechten Benehmens Konsequenzen drohen. Volksschüler sollen fünf Jahre vom gleichen Lehrer unterrichtet werden und Schuluniformen tragen müssen.

„Premierminister Berlusconi will mit seiner skandalösen Reform das öffentliche Schulsystem zugunsten des privaten Bildungswesens verarmen“, so ein Studentensprecher.

Polizei an Schulen und Universitäten

Zu Krawallen kam es diese Woche in Mailand zwischen der Polizei und jungen Demonstranten. Berlusconi will jedoch nicht nachgeben und lässt die Muskeln spielen. Er will die Polizei zur Räumung der Schulen und Universitäten einsetzen, die besetzt worden sind.

„Ordnung muss garantiert werden“, meinte der Premierminister. Er beschuldigte die oppositionelle Linke, die Proteste in den Schulen und in den Universitäten anzustacheln, um eine politische Kampagne gegen das Mitte-Rechts-Kabinett zu führen.

Berlusconi versicherte, er habe als Schüler und Student niemals protestiert. „Ich war stets ein musterhafter Schüler. Ich habe niemals demonstriert und habe immer beispielhafte Lehrer gehabt“, erklärte der Ministerpräsident.

Berlusconi: „Schulreform dringend notwendig“

Die Schulreform sei in Italien dringend notwendig. „Das italienische Schulsystem muss von der Volksschule bis zur Universität erneuert werden. Wir geben jährlich 39 Mrd. Euro für das Bildungswesen aus. 96 Prozent davon gehen für das Personal drauf. Wir geben 7,4 Prozent des Bruttoinlandsprodukts (BIP) für die Schule aus, in Deutschland sind es nur 6,3 Prozent. In Europa gibt es einen Lehrer pro 13 Schüler. In Italien haben wir einen Lehrer pro neun Schüler. Wir wollen die Gehälter der Lehrer verbessern. Mit der Schulreform werden 40 Prozent der fleißigeren Lehrer 7.000 Euro mehr pro Jahr verdienen“, sagte Berlusconi.

Die Opposition protestierte heftig. „Berlusconi will gegen die Studenten faschistische Methoden anwenden. Er vergiftet das politische Klima in Italien“, betonte Antonio Di Pietro, Chef der Oppositionspartei „Italien der Werte“. Unter Berlusconi werde Italien immer mehr zu einem Polizeistaat. Oppositionschef Walter Veltroni bezeichnete Berlusconi als Provokateur.

Trotz Berlusconis Warnungen demonstrierten Studenten am Mittwoch in mehreren Städten. Zu Spannungen kam es in Mailand wegen einer nicht autorisierten Kundgebung, an der sich circa 700 Menschen beteiligten.

Für den 30. Oktober haben die großen italienischen Gewerkschaften einen Generalstreik und weitere Kundgebungen gegen die Schulreform angekündigt. Auch am Samstag ist eine Großdemonstration der oppositionellen Demokratischen Partei gegen die Regierung geplant.

Fast eine Million...

Giselle 25.10.2008 - 22:25
...Menschen haben in Rom demonstriert hat die Tagesschau heute Abend berichtet.

 http://www.tagesschau.de/multimedia/video/video397146.html

Silvio: Cavaliere, Dictatore, ... Mafiosi!

Commentatore 01.11.2008 - 14:52
'Ministerpräsident beharrt auf umstrittener Schulreform - "Keinen Dialog mit denjenigen, die mich Diktator nennen"'
Il Standard da Vienna ....

Beiträge die keine inhaltliche Ergänzung darstellen

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Danke

anarcho 24.10.2008 - 10:39
Danke für diesen informativen Artikel, so macht indylesen Spaß!

minkia

d´Cazzo 24.10.2008 - 11:34
schön, endlich mal wieder ein guter informativer artikel auf indy....
das sollten sich inige mal ne scheibe von abschneiden...

Provokateure

Ananda 24.10.2008 - 23:58
Hallo res publika,

guter Beitrag.

Da Du schreibst, dass die Proteste noch "friedlich" sind, will ich ganz ohne pazifistische Sentimentalität sagen, dass das auch gut so ist.

Dass Gewalttätigkeiten bei sozialen Protesten nicht immer sinnvoll sind, genauer gesagt, dass sie häufig der Anfang vom Ende, und nicht etwa der Anfang von Größerem sind, das wissen auch die Chefs der diversen Truppen der Innenministerien, die daher nichts unversucht lassen, auch mit Hilfe von Provokateuren, Gewalttätigkeiten zu beginnen.

Ein wirklich sehr interessanter Beitrag aus Kanada dazu ist bei youtube zu sehen.

Es sollte reichen dies bei youtube einzugeben: "Stop SPP Protest - Union Leader stops provocateurs”

 http://de.youtube.com/watch?v=St1-WTc1kow&eurl=http://class-warfare.blogspot.com/2008/03/masked-cops-try-to-provoke-violent-riot_9176.html


Ananda

Danke

AntifaschistIn 28.10.2008 - 15:54
Ein riesiges Dankeschön an den/die VerfasserIn oder die VerfasserInnen für diesen wahnsinnig guten und vor allem informativen Artikel. Wir haben uns gleich mal erlaubt den/die Artikel noch weiter zu verbreiten:  http://brigate-autonome.blogspot.com/

es

heiasst 30.10.2008 - 18:58
es heisst: "Noi la crisi non la paghiamo" ...... noi la crisi ce la fumiamo !!!