Bolivien: Rechte Offensive und Putschgefahr

Wladek Flakin 26.09.2008 00:18 Themen: Globalisierung Weltweit

Mit faschistischen Schlägerbanden kämpft Boliviens Oligarchie für den Erhalt ihrer Privilegien. Doch ihr Einfluss ist begrenzt. Ein Gespräch mit Javo Ferreira, Mitglied der „Arbeiterzentrale Boliviens“ (COB), des bolivianischen Gewerkschaftsdachverbandes und führender Aktivist des trotzkistischen „Revolutionären Arbeiterbundes - Vierte Internationale“ (LOR-CI).

In den letzten Wochen haben die Rechten im "Halbmond", in den Ostprovinzen Boliviens, eine Gewaltwelle vom Zaun gebrochen, die sich gegen Einrichtungen der Zentralregierung, aber auch gegen die Organisationen der Massen richtete. Wie ist die Situation in diesem Moment?

Etwa drei Wochen lang konnten wir diese reaktionäre Offensive beobachten. Die Rechten besetzten staatliche Einrichtungen und Ölförderanlagen. Schlägergruppen wie die "Jugendunion Santa Cruz" (UJC) haben Terror verbreitet: durch Angriffe auf Menschen mit Aymara- oder Ketschua-Herkunft und durch die permanente Belagerung von armen Wohnviertel wie "Plan 3000" in Santa Cruz. Diese Aktionen gipfelten am Donnerstag, den 11. September, in dem Massaker von Porvenir, einem Dorf nahe der Stadt Cobija im Departement Pando. Dort wurden mindestens 20 Menschen kaltblütig ermordet. Dutzende wurden verletzt und gefoltert und bis zum jetzigen Zeitpunkt sind etwa 50 Menschen verschwunden.

Daraufhin rief Präsident Evo Morales den Ausnahmezustand in Pando aus. Der Präfekt (Gouverneur) und zehn weitere Killer wurden festgenommen. Als Reaktion auf das Massaker haben verschiedene Bauerngemeinschaften wie Yapacani oder San Julián beschlossen, sich gegen die faschistoide Gewalt zu bewaffnen. Ihre Mobilisierung erzwang einen Dialog zwischen den Rechten und der Regierung, und das hat die Situation etwas entschärft.

Wie agieren die Banden wie die UJC?

Es gibt zwei Arten der Schlägergruppen: Auf der einen Seite solche wie die UJC, die von den Präfekturen und "Bürgerkomitees" finanziert werden. Sie agieren als regionale politische Organisationen, wie die militärirische Avantgarde der Rechten in der Region. Auf der anderen Seite gibt es professionelle Killerbanden wie in Pando, die von Oligarchen bezahlt werden und zum Teil mit dem Drogenschmuggel verbunden sind. Letztere haben das Massaker von Porvenir verübt.

Was ist die Strategie der Rechten? Wie wollen sie die Zentralregierung stürzen, ohne über nennenswerte Unterstützung im westlichen Hochland Boliviens zu verfügen?

Aus meiner Sicht war es nie das Ziel der Rechten, die Regierung mit einem auf die oppositionellen Präfekturen und "Bürgerkomitees" gestützten Staatsstreich zu stürzen, wie das die Regierung darstellt. Dazu ist ihr Einfluss regional und sozial zu begrenzt – und das wissen sie auch. Sie haben einfach versucht, Zeit zu gewinnen, um die Abstimmung über die neue Verfassung zu verzögern. Sie wollen die Mittel von der direkten Steuer auf Kohlenwasserstoffe zurückerobern und eine bessere Verhandlungsposition in der Frage des Großgrundbesitzes bekommen.

Die Regierung von Evo Morales hat nie auf die Enteignung des Kapitals in Bolivien gezielt – sie propagierte einen "Anden-Kapitalismus" mit größerer Unabhängigkeit von den USA und Begrenzungen für den Großgrundbesitz. Woher kommt also die Wut der Rechten gegen das Projekt von Evo Morales?

Die neue Verfassung stellt den Großgrundbesitz nicht infrage, sondern will nur gewisse Obergrenzen festlegen. In einem zukünftigen Referendum soll die Bevölkerung entscheiden, ob diese Obergrenze bei 5.000 oder 10.000 Hektar liegen soll. Doch es gibt heutzutage Menschen in Bolivien, die mehr als 50.000 oder 10.0000 Hektar besitzen. Außerdem schlägt die neue Verfassung eine Umverteilung des nationalen Reichtums vor, mit einer höheren Priorität für soziale Ausgaben (Straßen, Schulen, Krankenhäuser). Das läuft gegen die Interessen der regionalen Bourgeoisien, die die Gesamtheit dieser Einnahmen kontrollieren möchten.

Schließlich war der Staatsapparat in Bolivien immer durch eine kleine Elite verwaltet, die den Zugang von indigenen Gruppen verbot. Heutzutage sucht die MAS eine Ausweitung der Bürgerrechte und eine Demokratisierung des Staates – das mag kein "Sozialismus" sein, aber es beeinträchtigt wichtige Sektoren der herrschenden Klasse.

Evo Morales gewann die Abstimmung über seine mögliche Abwahl am 10. August mit 67% der Stimmen. Trotzdem macht er nicht den Eindruck, als würde er dieses politische Kapital für eine Offensive gegen die Rechten nutzen. Er macht immer wieder Angebote für Dialoge und Verhandlungen. Warum?

Die Strategie der MAS war immer eine der Dialoge und der Verhandlungen, das ist nun mal der Charakter dieser politischen Strömung. Sein klassenübergreifender Charakter steht letztendlich im Dienste des halbkolonialen, kapitalistischen Systems in Bolivien. Das politische Kapital, das er am 10. August bekam, wird genau im Sinne dieser Strategie eingesetzt, also für einen Dialog mit den Rechten und den regionalen Bourgeoisien – mit gewissen Grenzen, denn er kann nicht in jedem Punkt nachgeben, wie die Reaktion das wünscht.

Wie hat die COB, wie haben die Bauernorganisationen auf diese Ereignisse reagiert?

Wie wir in verschiedenen öffentlichen Stellungnahmen betont haben, haben angesichts der rechten Gewalt bedeutende Schichten Widerstand geleistet, in dem sie Selbstverteidigungsgruppen gebildet und Wachen organisiert haben, die in einigen Fällen die Angriffe der rechten Schlägergruppen entscheidend zurückschlagen konnten, wie in "Plan 3000", in Tiquipaya und anderen Orten. Doch dieser Widerstand beschränkte sich auf die Avantgarde der Massen. Die Massen selbst erwarteten, dass die Regierung und ihre Institutionen wie die Polizei und die Streitkräfte für Ordnung sorgen und die Angriffe der Rechten zurückdrängen würden. Darin sehen wir die Rolle der Volksfront – das Zurückhalten der Massen –, die die MAS erfüllt.

Am 16. September hat Evo Morales ein "Vorabkommen" mit einem Vertreter der Präfekten der abtrünnigen Ostprovinzen unterschrieben, das einen Waffenstillstand und weitere Verhandlungsrunden in den nächsten Monaten vorsieht. Wer geht aus dieser Auseinandersetzung als Sieger hervor?

Im Dialog werden die Rechten letztlich immer gewinnen. Durch Verhandlungen wollen sie ihre sogenannten "Autonomie-Statute" und die neue Verfassung kompatibel gestalten. Sie fordern Zugeständnisse beim Großgrundbesitz und bei der Kontrolle über die natürlichen Ressourcen des Landes. Das ist der Grund, warum einige Sektoren der BäuerInnenschaft ihre Straßenblockaden nicht aufgeben wollen, wie es in der Ortschaft Yapacani der Fall ist. Das ist auch der Grund, warum die Führung der Arbeiterzentrale Boliviens COB erklärt hat, Evo solle sich lieber mit dem Volk als mit den Vertretern der oligarchischen Rechten treffen.

Die Gewaltorgie der Oligarchie begann fast genau 35 Jahre nach dem Militärputsch gegen Salvador Allende in Chile. Wie schätzen Sie die Möglichkeit eines Staatsstreichs in Bolivien ein?

In diesem Moment sehe ich keine Möglichkeit eines Putsches, denn es existiert ein völlig anderer internationaler Kontext. Die USA sind aufgrund ihrer Militärinterventionen in Afghanistan und Irak sehr geschwächt; aktuell machen die Nähe der Präsidentschaftswahlen und die internationale Finanzkrise eine Putschpolitik in Lateinamerika sehr viel schwieriger. Auf der anderen Seite ist die bolivianische Rechte, auf nationaler Ebene gesehen, marginal, sie hat kaum Rückhalt bei der Armee. Diese versucht selbst eine unabhängigere Rolle zu spielen - siehe etwa die Erklärungen des Oberbefehlshabers General Trigo gegen Chávez, aber auch gegen die rechten Schlägergruppen). Sie hält aber heute noch an der demokratischen Verfassungsordnung fest. Sprunghafte Vertiefungen dieser Krise wären notwendig sowie entsprechende Mobilisierungen der Massenbewegung, um Sektoren zu Bourgeoisie zu einem Putschversuch zu drängen. Solange die MAS als eine Garantie der Zurückhaltung wirkt, ist der Weg eines Putsches sehr schwierig. Trotzdem ermutigt die Politik des Dialogs und der Zurückhaltung seitens der MAS Sektoren der Bourgeoisie, um weiterzugehen, und das ernährt offen reaktionäre und verschwörerische Tendenzen, obwohl sie sich noch nicht verwirklichen konnten.

Welche Strategie schlägt die LOR-CI vor?

Wir haben dafür gekämpft, eine unabhängige Strategie zu entwickeln, unabhängig sowohl von den Unternehmern wie von der Regierung. Wir glauben, dass die Rechten nicht in Verhandlungen oder bei Wahlen geschlagen werden können, wie in der letzten Krise zu sehen war, sondern nur durch die unabhängige Aktion der ArbeiterInnen von Land und Stadt. Die Bildung von Selbstverteidigungskomitees, die in Form von ArbeiterInnen- und BäuerInnenmilizen zentralisiert und koordiniert werden, ist ein Schlüssel, nicht nur um Massaker wie in Porvenir zu verhindern, sondern um zukünftige reaktionäre Putschpläne ein für allemal auszuradieren. Die Einheit zwischen den verschiedenen sozialen Schichten, also zwischen den ArbeiterInnen der Stadt und den BäuerInnen- und Volksorganisationen ist von zentraler Bedeutung, um eine Mobilisierung zu garantieren, die die Vernichtung der Rechten ermöglicht. Die allgemeine Besetzung von Ländereien, zusammen mit der Besetzung von Betrieben, die Einführung der kollektiven ArbeiterInnenkontrolle und die Verstaatlichung von 100% der natürlichen Ressourcen und Unternehmen, die heute in den Händen multinationaler Konzerne sind, sind die Schlüssel, um den Rechten ihre wirtschaftliche Macht zu entziehen.

Langversion des Interviews aus der jungen Welt vom 22.9.08

Interview: Wladek Flakin, unabhängige Jugendorganisation REVOLUTION
Bearbeitung: Eric Wegner, Revolutionär Sozialistische Organisation (RSO)

Siehe auch: die Homepage des revolutionären Arbeiterbundes (auf Spanisch)

Siehe auch: Redebeitrag von REVOLUTION auf der Bolivien-Kundgebung

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Ergänzungen

Kennt Ihr die Geschichte von Santa Cruz?

ACS 01.10.2008 - 21:17
Das andere Gesicht Boliviens
(Die Geschichte von Santa Cruz de la Sierra ab 1950)



Immer wenn man Bolivien hört, denkt man sofort an nostalgische Andenlandschaften mit Lamas und buntgekleidete Indios des Hochlands.

Für viele Menschen ist es bisher wenig bekannt, dass Bolivien ein anderes Gesicht hat. 2/3 der Landesfläche gehören zum Amazonasgebiet, eine ganz andere Welt mit eigenem Charakter, wo die Landwirtschaft, die Industrie und neue politische Ideale blühen.
Das Departamento (Bundesland, state) Santa Cruz ist ungefähr so groß wie Deutschland und grenzt nordöstlich an Brasilien und südlich an Argentinien und Paraguay.
Nur 2,5 Millionen Menschen besiedeln heutzutage dieses riesige Gebiet, von denen 1,5 Millionen in der Hauptstadt Santa Cruz de la Sierra wohnen; die heutige Tieflandmetropole.
Wenn man sie besucht, kann man sich nicht vorstellen wie das Leben hier vor 50 Jahren aussah, eine kleine Stadt mit ca. 50.000 Einwohnern, einer dörflichen Atmosphäre, Sandstraßen, ohne Abwasserkanalisation, Trinkwasser und Telefonnetz.
Die Gesellschaft bestand aus einer Mischung von Spanischstämmigen, Mestizen, Tieflandseingeborenen und arabischen, deutschen, italienischen und jugoslawischen Einwanderern.

Die Großeltern, die damals jung waren, beschreiben das Leben als ruhig, freundlich und ganz familiär. Ein Grund war vielleicht die Entfernung zu La Paz. Weder Verbindungsstraßen, noch Eisenbahnlinien gab es zwischen den lebendigen und aktiven Bergbauzentren im Hochland und dem vergessenen Amazonasgebiet.
Für die bolivianische Gesellschaft des Hochlands in den 50er Jahren, war das Tiefland einfach ein Gebiet voller Moskitos mit großen Erdgas- und Erdölreserven.

Lange Zeit durfte die Welt nur das Andenbild von Bolivien sehen. Ab 1950, nach der bolivianischen Revolution begann eine neue Ära in der Geschichte von Santa Cruz.
Wichtige Ereignisse waren der Verbindungsstraßenbau nach Cochabamba, so wie die bürgerlichen Kämpfe der cruceños (Ortszugehörigkeitsname von Santa Cruz) für die regionale Entwicklung.
Santa Cruz, mit großen Erdöl und Erdgas Vorkommen, sollte damals auf die Wohltat seiner Bodenschätze verzichten und alle Einkommen und Steuern an die Zentralregierung abgeben.

1950 wurde der bürgerliche Komitee von Santa Cruz gegründet. Vertreter der wichtigsten regionalen Institutionen (die staatliche Universität, berühmte Akademiker und die Frauengemeinschaft zum Beispiel) verstanden, dass nur gemeinsam konnten sie für ihre Rechte und Entwicklung kämpfen.
Die Reaktion der Zentralregierung war ungerecht und agressiv und der Komitee wurde separatist gennant. Der Präsident Hernan Siles Zuazo (1956 – 1960) bietete die damalige 50.000 Einwohner der Stadt, 50.000 Reisepässe um das Land so schnell wie möglich zu verlassen.

Am Ende konnten nicht nur Santa Cruz, sondern auch alle anderen Förderdepartamentos durch Erdöl und Erdgas Vorkommen, 11% des Bruttoeinkommens für sich behalten (11% zwischen den Fördern; Santa Cruz, Cochabamba, Chuquisaca und Tarija. Andere Departamentos wie Beni und Pando bekommen 1% als Solidaritätsbonus).
Andere spätere erfolgreiche Gewinne der cruceños sind direkt mit dem Vormarsch der Demokratie in Bolivien verbunden:
Präfekt (Bundesland Gouverneur / ab 2005) und Bürgermeisterwahlen (ab 1985) durch Volksabstimmung. Früher wurden beide Behörden direkt von dem Präsident ernnant, das heißt mehr als 300 Bürgermeister und 9 Präfekte aus dem ganzen Land!

Während der 60er Jahre, gründeten Bürgerinitiativen verschiedenen Genossenschaften für Telefon, Trinkwasser und Stromversorgung (später wurde dieses System in dem ganzen Land eingeführt).

Die Verbindungsstraße mit dem Hochland und die Eisenbahnlinie nach Argentinien und Brasilien brachten die Möglichkeit viele Landwirtschaftsprodukte wie Zucker, Speiseöl, Reis, Soja und Fleisch in anderen Regionen zu transportieren.
Jetzt, 50 Jahre später, steht Santa Cruz als das hochentwickelte Departament Boliviens da und, die Hauptstadt Santa Cruz de la Sierra ist die größte Stadt und das Wirtschaftszentrum des Landes geworden.
Jedes Jahr bekommt die Stadt ca. 65.000 neue Bürger aus allen anderen Departamentos, Nachbarnländern, Europa, Asien und Nordamerika.

Obwohl die Armut heutzutage noch ein großes Problem in Santa Cruz ist, sind die multikulturelle Gesellschaft und die traditionelle Privatinitiative die wichtigsten Komponenten des Wachstumserfolgs und auch, dass was diese Region so attraktiv macht.

Wichtige Fakten über Santa Cruz (2006):

Fläche: 370.621 km² (33,74% der Landesfläche)
Einwohner: 2,5 Millionen (25% der Landesbevölkerung)
Hauptstadt: Santa Cruz de la Sierra (1,5 Millionen)
Einkommen pro Einwohner: Santa Cruz 1.207 U$ (La Paz 777 U$)
Export 2007: 1.300 Millionen U$ (La Paz 363 Millionen U$)

Wichtige Anteile in Prozent:

Nationales Bruttoeinkommen Boliviens: Santa Cruz Teilnahme 32% (La Paz 27,5%)
Erdgas und Erdöl: 42.1%
Landwirtschaft: 42,5%
Handel: 36,2%
Industrie: 35%
Bankfinanzen: 40%
Steuern: 47,5%
Ausländische Investition: 47,5%
Transport: 30%
Export: 50% (67% ohne Bergbaufakten)
Wichtigste Produkte: Erdgas, Erdöl, Zucker, Kafe, Holz, Soja, Speiseöl, Baumwolle, Reis, Rindfleisch und Molkereiprodukte.

Quellen:
 http://es.wikipedia.org/wiki/Departamento_de_Santa_Cruz
 http://www.elnuevodia.com/versiones/20080224_007377/nota_268_553312.htm
 http://www.comiteprosantacruz.org.bo/luch.html
 http://www.bolivia-riberalta.com/leer.php?id=318

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