Interview zum Anti-Roma-Pogrom in Neapel

Alex Zanotelli / ROSSO 19.06.2008 01:46 Themen: Antirassismus Weltweit
Mitte Mai 2008 wurde Italien von einer Welle rassistischer Übergriffe erschüttert, die teilweise eine mörderische Dimension hatten. So z.B. in Neapel, wo am 12. und 13.Mai Hunderte Bewohner der ehemaligen KP-Hochburg Ponticelli (dem sog. „Stalingrad des Südens“) Sinti und Roma eines benachbarten Lagers mit Knüppeln, Steinen, Eisenstangen und Molotow-Cocktails attackierten, nachdem das Gerücht aufgekommen war, ein 16-jähriges Roma-Mädchen habe versucht ein „italienisches Baby“ zu entführen. Ein Feuerwehrmann wurde beim Löschen brennender Roma-Baracken verletzt.

Zu den Hintergründen brachte die unabhängige linke Tageszeitung „il manifesto“ am 15.5.2008 das folgende Interview mit Alex Zanotelli, das angesichts der weiterhin vorhandenen rassistischen Grundstimmung leider nicht an Aktualität verloren hat.
Alex Zanotelli (69) gehört dem Missionarsorden Padri Comboniani an, die sich auf die Arbeit unter Armen und Ausgegrenzten konzentrieren und ist einer der bekanntesten italienischen Linkskatholiken. Darüber hinaus zählt er, über das von ihm mit gegründete linksalternative und gewaltfreie Lilliput-Netzwerk, auch zu den wichtigsten Köpfen der Antiglobalisierungsbewegung Italiens.

„Ohne Roma gibt es nicht mehr Sicherheit, sondern nur Faschismus“

Es spricht der Padre comboniano Alex Zanotelli, der den Verfall Ponticellis innerhalb und außerhalb des Roma-Lagers bestens kennt.

Andrea Tornago

„Die Regierung hat eine große Verantwortung für das, was derzeit in Neapel geschieht. Mit ihrem Sicherheitspaket hetzt sie die Leute zum Pogrom gegen die Roma und die Immigranten auf.“ Der Padre comboniano Alex Zanotelli ist über die Regierung empört und sagt das auch sehr deutlich.

Padre Alex, kennen Sie das Lager, in dem das Roma-Mädchen lebt, das der Entführung eines Kleinkindes beschuldigt wird?

„In dem Stadtteil, wo das passiert ist, gibt es mindestens fünf Roma-Lager. Ganz genau kann ich das nicht sagen. Man muss dieses Problem vor allem im Zusammenhang mit der Situation des Stadtteils Ponticelli diskutieren. Seit mehr als einem Jahr reden wir von dieser Spannung zwischen neapolitanischen Bürgern und den Roma dieses Viertels von Neapel – einer ganz gravierenden Situation. Die Neapolitaner sind extrem tolerant und Aggressionen wie die von gestern sind in der Stadt nicht üblich. Es gibt jedoch eine Erklärung und die lautet, dass Ponticelli ein Stadtteil ist, der leidet. Er ist eines der Quartiere am Stadtrand von Neapel, wo es sehr viel Not, sehr viel menschliches Leid gibt, das Gefahr läuft in einen regelrechten Krieg unter Armen abzugleiten. Während letzte Nacht das Lager brannte, wurden zwei Neapolitaner verhaftet, die ins Lager eingedrungen waren, um Generatoren zu stehlen. Man muss die soziale Zusammensetzung von Ponticelli berücksichtigen und die Situation mit dazurechnen, die sich angesichts der neuen rechten Regierung auftut. Wenn wir Berlusconis Politik und das von ((Lega Nord-Innenminister)) Maroni präsentierte Sicherheitspaket nicht im Zusammenhang sehen, blicken wir nicht durch. Das ist ein Klima, das dank Fernsehen und Zeitungen herrscht. Es genügt ein Streichholz und alles explodiert.“

Stimmt es, dass die Roma – wie viele sagen – ein problematisches Verhältnis zu kleinen Kindern haben, dass sie ihre Besonderheit, ihr Kindsein nicht respektieren?

„Hier befinden wir uns in der Fabelwelt, in der die Kommunisten kleine Kinder fressen. Es stimmt, dass das Volk der Roma kulturelle Seiten besitzt, die uns sonderbar erscheinen. Ich sage, dass wir alle kulturellen Unterschiede respektieren sollten, sofern die Grundrechte der Kinder geschützt werden. Viele Behauptungen zu diesem Thema haben sich allerdings als nicht wahr erwiesen. Gleichwohl haben die Zeitungen sie nicht richtig gestellt. Es ist klar, dass arme Leute sehr leicht der Versuchung ausgesetzt sind, ein Kind zu benutzen, es zu prostituieren. Ich kann das nachvollziehen. Ich habe diese Dinge gesehen. Man muss aber auch sagen, dass es ihnen nicht gelingt, Arbeit zu finden. Ich habe nirgendwo eine so brutale Situation erlebt, wie bei den Roma in Neapel. Ich erinnere mich, dass ich, als sie die Roma (im November 2005; Anm.d.Red.) aus Casoria verjagt haben, zum Präfekten von Neapel gesagt habe: ‚Solche Situationen habe ich nur in Korogocho gesehen, bei der Zerstörung der Elendsviertel. Ich hätte nie erwartet, solche Szenen auch in Italien zu erleben.’“

Sie sprachen von der Schwierigkeit, Arbeit zu finden. An welchem Punkt kommt da die Camorra ins Spiel?

„Man muss sich darüber im Klaren sein, dass die Camorra präsent ist. Selbst was das Betteln und das Scheibenwischen anbelangt, so brauchen sie dafür die Erlaubnis der Camorra. Weil es unter den Roma in Neapel nur wenige Nomaden gibt, handelt es sich hier um Leute, die arbeiten wollen, die sich integrieren wollen, die einen würdigen Platz haben wollen, wo sie bleiben können.“

Ponticelli ist ein linkes und ein Arbeiterviertel. Wie ist es zu erklären, dass da die Camorra ihre Finger im Spiel hat? Wie lassen sich die Sprechchöre „Der Kampf ist hart und macht uns keine Angst!“ erklären, während man daran geht, die Baracken anzuzünden?

„Das ist dasselbe, was bei den Arbeiterstimmen für die ((rechtspopulistische und rassistische)) Lega Nord und für Berlusconi passiert ist. In einer Nation wie Italien, die reich geworden ist, ist das, was zuallererst gefordert wird, die Sicherheit, die Sicherheit um jeden Preis. Die Sicherheit für die Besitzenden. Bei dieser Suche nach Sicherheit kehrt man zur Suche nach einem Sündenbock zurück: den Roma und den Einwanderern. Maronis Sicherheitspaket ist extrem gravierend. Wenn es etwas gibt, vor dem die Regierungen heute Angst haben, dann ist es, dass die Leute irgendwo anders hinziehen. Weil sie sie nicht kontrollieren können. Die Regierung muss allerdings ganz gehörig aufpassen, weil sie Gefahr läuft, ein Pogrom gegen die Roma auszulösen, weil die im Augenblick für die großen Verbrecher gehalten werden. Die Logik lautet: Wenn wir die rausschmeißen, werden wir in Frieden leben und sicher sein. Erinnern wir uns daran, dass in den Nazilagern nicht nur die Juden gestorben sind, sondern auch sehr viele Roma und Sinti. Sie gehören zu dieser ganzen Welt, die vertrieben werden soll. Das ist ganz gravierend. Morgen werde ich das der Regierung auch ins Gesicht sagen.“



((Vorbemerkung, Übersetzung und Einfügungen in doppelten Klammern: * Rosso))

Der Name * Rosso steht für ein Mitglied des Gewerkschaftsforums Hannover und der ehemaligen Antifa-AG der Uni Hannover, die sich nach mehr als 17jähriger Arbeit Ende Oktober 2006 aufgelöst hat (siehe:  http://www.freewebtown.com/antifauni/ Rubrik „Aktuelles“ bzw. die regelmäßig erneuerten Artikel, Übersetzungen und Interviews dort).
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