Tübinger Schulstreik: Klassenkampf mal anders

TueInfo (Bearbeitung: FSO Tübingen/AK Medien) 14.06.2008 14:31 Themen: Bildung Soziale Kämpfe
… nämlich außerhalb der Klassenräume und nicht Klasse gegen Klasse, sondern alle Schulklassen geeint. Am Donnerstag, den 12. Juni streikten in Tübingen 1.500 SchülerInnen. Aber nicht nur hier gingen SchülerInnen für ihre Rechte und Forderungen auf die Straße. Streiks und Aktionen fanden im ganzen Bundesgebiet statt.
Uninformierte mochten sich am Mittwoch gefragt haben, warum all die SchülerInnen, die sich 8.30 Uhr am Holzmarkt einfanden, nicht in der Schule waren „wie es sich gehört“.
Immerhin 1.500 SchülerInnen hatten sich am Ende eingefunden, um trotz gewisser Drohgebärden von Behörden und SchulleiterInnen, für ihre Belange und Ziele einzustehen. Sie nahmen damit einen unentschuldigten Fehltag und - bei verpassten Klassenarbeiten oder Tests - eine 6 in Kauf. Teils wurden Arbeiten sogar gezielt auf den 12. Juni gelegt und es kam zu Drohungen mit "roten Briefen" (Verweisen).
Der Hauptteil der 1.500 protestierenden SchülerInnen stammte aus Tübingen. Aber auch aus Reutlingen, Mössingen, Karlsruhe oder Ulm war Unterstützung herbeigeeilt.
Bereits vor offiziellem Beginn kam es deshalb zu einer Spontan-Demo von etwa 150 SchülerInnen vom Bahnhof zum Platz der Auftaktkundgebung.Leider schlossen sich nicht alle, die an diesem Tag nicht in der Schule auftauchten, dem Protest-Zug an, einige blieben wohl auch zu Hause. Sie praktizierten damit eine Art von „Individualstreik“.
Aus der „älteren“ linken Szene schafften es bedauerlicherweise nur wenige solidarisch an dem Protest teilzunehmen. Seltsam, mussten diese Leute doch vor nicht allzu langer Zeit selbst die Schulbank drücken und waren mit den Auswirkungen des hiesigen Bildungssystems konfrontiert. Aber auch solidarische LehrerInnen oder Eltern schienen Mangelware zu sein.
Viele der anwesenden SchülerInnen gehörten augenscheinlich auch den unteren Klassen an.
Einer dieser Jüngeren war Max (Name geändert, aber der Redaktion bekannt) aus der 5. Klasse, er hat ein kleines Schild mit dem Hinweis „Was ist schon ein Fehltag, gegen den ganzen Stundenausfall“ (sinngemäß zitiert). Auf Nachfrage gab er an sogar heute einen Lateintest zu verpassen, aber ihm sei es wichtiger hier zu sein. Sein Kumpel bestätigt das. Max ist jedenfalls hier, weil ihn der Stundenausfall stört und weil er für kleinere Klassen ist. Auf die Frage, ob er sich vorstellen könnte sich an seiner Schule weitergehend politisch zu engagieren, antwortet er ehrlich: „Nö, glaub ich eher nicht.“
Das ist einer der Erfolge der Demo, innerhalb der anwesenden SchülerInnenschaft sind alle vertreten: Politische und Unpolitische, Ältere, Jüngere, Hauptschüler, Gymnasiasten oder Realschüler.Und: Es wird klar, dass SchülerInnen hier ihre eigene Stimme erheben, statt sich alles vorsetzen zu lassen. Etwas was nicht ganz in die Köpfe bestimmter Erwachsener passen wollte, die sich besorgt erkundigten, ob hier eine Instrumentalisierung oder Fernsteuerung der Jugend stattfände. Etwas finanzielle Unterstützung gab es zwar von den Gewerkschaften GEW, ver.di und Heike Hänsel (Linkspartei-Bundestagsabgeordnete), aber Idee und Ausführung entstammt alleine den Köpfen von SchülerInnen!

Von den Transparenten und Schildern her war vor allem das G8-System ein Kritikpunkt. Die OrganisatorInnen sahen ihre Hauptforderungen in:

  • der Demokratisierung der Schulen
  • der Abschaffung des dreigliedrigen Schulsystems
  • der Durchsetzung einer tatsächlichen Lehrmittelfreiheit
  • der Durchsetzung eines höheren Lehrniveaus (kleinere Klassen, individuellere Förderung, mehr LehrerInnen)



 
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Mit einer halben Stunde Verspätung setzte sich der Demo-Zug in Bewegung. Es ging vom Holplatz hinab zum Neckar, die Mühl-Straße hinauf. Über das Lustenauer Tor hinweg am Stadtgraben entlang und dann durch die Altstadt zurück zum Marktplatz, wo die Abschlusskundgebung stattfand.
Die Stimmung war ausgelassen und locker, der Lautsprecherwagen samt DJ sorgte für gute Musik, die zwischendurch von Redebeiträgen unterbrochen wurden. Etwas unangenehm fiel dabei ein kabarettistischer Beitrag aus der Reihe der (auch für die OrganisatorInnen überraschend) mit einem populistischen „Wir sind das Volk!“ beendet wurde. Sollte es sich dabei um Ironie gehandelt haben, so ist das einem Großteil des Publikums vermutlich entgangen. In den Zeiten von EM und nationalen Ausschweifungen laufen solche Appelle auch als Witz ins Leere.

Am Ende, am Holzmarkt, verlief sich die Demo etwas. Offensichtlich waren längere und inhaltsschwere Reden besonders für jüngere SchülerInnen nicht so sehr fesselnd.
Auf ein Ende hin wirkte auch der Chef des Ordnungsamtes Tübingen, Rainer Kaltenmark, der die Verantwortlichen mehrmals auf die Auflagen hinwies.
Da half auch nicht der ungefragte Auftritt eines Vertreters aus Ulm, der im Stile eines TV-Predigers versuchte die SchülerInnen zu motivieren und am Ende auch noch ein Lied anstimmte. Schon entspannender als solche Klänge waren die Rhymes des Münchner Hip-Hoppers Lea-Won, der aus Solidarität extra nach Tübingen gekommen war.

Später lauschten noch 40-50 Interessierte im Epplehaus einer „Einführung in die Schulkritik“, wo sich die Beschäftigung mit dem Bildungssystem mit einer grundlegenden Gesellschaftskritik verband. Das Thema war sachkundig aufbereitet und führte immer wieder zu Diskussionen und dem Anbringen eigener Erfahrungen.

Abends wurde mit einer Soli-Party im Hausprojekt LU15 die Streikkasse aufgebessert.


 

*** Bundesweit? ***
 

Der Streik war angekündigt als bundesweite Initiative. Tatsächlich fanden bundesweit punktuell Aktionen statt. Auf die Straßen gingen die SchülerInnen in in Tübingen (1.500), Bad Doberan bei Heiligendamm (500), Kassel (4.000), Oldenburg (7.000), Frankfurt/Main (500), Delmenhorst (500), Bad Hersfeld (500), Freiberg (50) und Bad Krotzingen. Ulm folgte am gestrigen Freitag.Weitere Aktivitäten fanden in Berlin (Kundgebung mit 80 Leuten), Nürnberg, Stuttgart und St. Blasien (Kundgebung mit 30 Leuten) statt.Andernorts wurde durch die Werbung für den Streik die Gründung von unabhängigen SchülerInnen-Organisationen angestoßen.Insgesamt waren es wohl zwischen 15 und 20.000 SchülerInnen, die sich beteiligten.Vorausgegangen waren größere Schülerstreiks in Berlin (8.000 Beteiligte) und Lüneburg (3.000 TeilnehmerInnen).


 

*** Wie geht’s nun weiter? ***
 
Zitat aus dem Interview von einem der OrganisatorInnen mit der „Jungen Welt“:
>>> Wir sind jetzt schon dabei, Vernetzungen für den nächsten bundesweiten Streik zu schaffen. Ins Auge gefaßt haben wir dafür den Beginn des nächsten Schuljahres, das wäre also im Oktober/November. Mit einer Vorbereitungszeit von mindestens vier Monaten und Auftaktstreiks im Mai und Juni stehen die Chancen so gut wie nie, etwas richtig Großes auf die Beine zu stellen. Deswegen wollen wir gleich am Anfang des Schuljahrs, im September, ein bundesweites Treffen organisieren. Die Strukturen der bisherigen Streiks sind noch vorhanden, neue entstehen und die bundesweite Kooperation läuft auf Hochtouren. In den Schulen wird es einen heißen Herbst geben! <<<<

ACHTUNG: Bitte Berichte von Repressalien über den Eintrag eines Fehltages hinaus an die lokalen Strukturen (in Tübingen die FSO: fso-tuebingen -at- riseup.net) mailen.
 

*** Mediensammlung ***
 
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Ergänzungen

Redebeitrag von ['solid]

['solid] Tübingen 14.06.2008 - 17:23

Bilder aus Oldenburg

Paul Pistorius 15.06.2008 - 13:41
Wir, das Organisations-Team aus Oldenburg, wollen ein paar Eindrücke von unserer Riesen-Demo in unserer Provinzstadt loswerden.

Mehr Bilder aus Tübingen

Unterstützer 16.06.2008 - 14:26
Weitere Bilder des Schulstreiks aus Tübingen!

Beiträge die keine inhaltliche Ergänzung darstellen

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@## — Hans