Interview zur Lage im Libanon

Gilbert Achcar / ROSSO 09.06.2008 16:03 Themen: Globalisierung Weltweit
Im Rahmen einer kleinen Reihe von Interviews zur Lage im Libanon nach den heftigen bewaffneten Auseinandersetzungen vor allem zwischen der Hisbollah und den paramilitärischen Einheiten des pro-imperialistischen und pro-saudischen (sunnitischen) Hariri-Klans, der von Dschumblatt geführten Drusen-Milizen und der rechtsradikalen christlichen Falangisten um Geagea, die letztere klar verloren, brachte die linke italienische Tageszeitung „il manifesto“ am 29.5.2008 auch das folgende Interview mit dem bekannten libanesisch-französischen, trotzkistischen Intellektuellen Gilbert Achcar.
Der 1951 im Senegal geborene Achcar lebte bis zu seiner Übersiedlung nach Frankreich 1983 im Libanon und verfügt weiterhin über enge politische Bindungen in das Zedernland. Bis 2003 lehrte er als Professor für Politik und internationale Beziehungen an der Universität Paris VIII (Saint Denis). Dann wechselte er zum Marc-Bloch-Centre in Berlin und arbeitet seit 2007 als Professor an der School of Oriental and African Studies der Universität London. Er ist regelmäßiger Mitarbeiter der Zeitschriften „Inprecor“ und „Le Monde diplomatique“ und stark durch das Denken Ernest Mandels beeinflusst. Achcar ist Autor zahlreicher Bücher. Auf Deutsch erschienen von ihm: „Der Schock der Barbarei – Der 11. September und die ‚neue Weltordnung’“ (Köln: Neuer ISP Verlag, 2002). Und gemeinsam mit Michael Warschawski: "Der 33-Tage-Krieg. Israels Krieg gegen die Hisbollah im Libanon und seine Folgen", (Edition-Nautilus, Hamburg 2007). Zuletzt veröffentlichte er zusammen mit Noam Chomsky „Perilous Power. The Middle East and U.S. Foreign Policy“ (2007 / 2008).


Achcar: „Die Krise in Beirut ist nicht beendet. Nötig ist Dialog, auch mit Damaskus“

Verblüffung. Unter dem neuen Wahlgesetz wird der Konfessionalismus stärker. Bewaffneter israelischer Angriff kurzfristig unwahrscheinlich.

Cinzia Nachira

Für Gilbert Achcar ist die politische Krise in Beirut alles andere als beendet. Der libanesische Intellektuelle und Dozent an der School of Oriental and African Studies (SOAS) in London Achcar ist einer der fähigsten Analysten der Geschehnisse im Mittleren Osten. Wir interviewten ihn per Telefon und fragten ihn nach seiner Meinung zu den letzten Entwicklungen.

Es wurde gesagt, dass die Art wie der Libanon aus der Krise herausgekommen ist, einen Sieg für die von der Hisbollah geführte Opposition darstellt. Was meinen Sie dazu?

„Das Abkommen von Doha ist keine Wunder-Lösung. Sie kann allerdings eine provisorische Periode einleiten, während derer die beiden involvierten Lager die Auseinandersetzung mit anderen Mitteln fortsetzen. Die Alternative ist, dass die neue Bürgerkriegsdynamik, die begonnen hat, im Ansatz durch regionale und internationale Verhandlungen zunichte gemacht wird. Die Möglichkeit einer Änderung der Washingtoner Politik in Sachen Mittlerer Osten im Gefolge der kommenden Wahlen in Amerika ist übrigens einer der wichtigsten Faktoren, die zu der in Doha erreichten Waffenruhe geführt haben. Das neu-alte Wahlgesetz ist, aufgrund seiner Rückkehr zu einer kleinteiligeren Unterteilung der Wahlkreise, derart, dass es die konfessionelle Dynamik, die in den letzten Jahren im Libanon einen neuen Impuls erlebt hat, weiter verstärkt. Die mit Washington und Riad verbündete parlamentarische Mehrheit hat die wichtigste Forderung der Opposition (das Vetorecht innerhalb der Regierung) akzeptiert, nachdem die Opposition dieses Vetorecht vor Ort mit Waffengewalt durchgesetzt hat, weil es ihrer seit Ende 2006 andauernden friedlichen Mobilisierung nicht gelungen war, dies zu erreichen. Die parlamentarische Mehrheit schätzte die Lage so ein, dass eine provisorische Konsens-Regierung, angesichts der Tatsache, dass nicht mehr als ein Jahr bis zu den nächsten Parlamentswahlen bleibt, im Austausch für die Garantie der Wahl eines ihr genehmen Staatspräsidenten für sechs Jahre durch das aktuelle Parlament, eine akzeptable Sache ist. Dabei handelt es sich um den libanesischen Generalstabschef Michel Suleiman.“

Welche Rolle kann die libanesische Armee in dieser Situation spielen?

„Die Militärs können in dem Konflikt eine ‚interventionistische’ Rolle spielen. Sie können nur als ‚Pufferkraft’ agieren. Man könnte sie mit den Blauhelmen der UNO vergleichen. Das deshalb, weil es sich um eine Armee handelt, die die Zusammensetzung der Bevölkerung des Landes widerspiegelt und die, falls sie in dieser Auseinandersetzung auf der einen oder anderen Seite aktiv Partei ergreifen sollte, eine Spaltung erleben und damit ein im Libanon unbekanntes Phänomen hervorrufen würde: die Explosion der Armee.“

Viele haben die Aktion der Hisbollah als einen Staatsstreich beschrieben und zogen einen Vergleich mit der Aktion der Hamas in Gaza im Juni 2007. Einige Beobachter behaupten, dass es das Ziel der Hisbollah gewesen sei, im Libanon eine Islamische Republik zu errichten.

„Gaza ist ein sehr viel kleineres Territorium als der Libanon und geographisch von seiner Umgebung isoliert. Beirut ist die Hauptstadt des Libanon und vom Rest des Landes keineswegs isoliert. Zweitens verfügt Gaza auf konfessioneller Ebene über eine homogene Bevölkerung. Daher war die Machtübernahme in Gaza eine Möglichkeit und Hamas hat sie genutzt. Im Libanon weiß die Hisbollah sehr genau, dass sie nicht die Macht ergreifen kann. Sie hat das seit ihrer Gründung offen gesagt und dabei klargestellt, dass im Libanon (einem multi-religiösen und multi-konfessionellen Land) die Bedingungen für die Verwirklichung einer Islamischen Republik nicht existieren. Die Hisbollah ist vor allem mit der Kontrolle der eigenen religiösen Gemeinschaft beschäftigt. Das, was in den letzten Tagen in Beirut passiert ist, ist keine Machtübernahme durch die Hisbollah, sondern eine militärische Aktion der Hisbollah gegen das gegnerische Lager, ein ‚Landgewinn’ seitens der Hisbollah und ihre Verbündeten, bei denen es sich zum größten Teil um eng mit Syrien verbundene Kräfte handelt. Auch die Hisbollah ist mit Syrien verbunden, vor allem aber mit dem Iran.“

Kann Israel die Gelegenheit ergreifen, um zu intervenieren?

„Ich glaube, dass Israel, auch angesichts seiner internen Krise, nicht in der Lage ist, sich erneut in eine umfangreiche Aktion wie die von 2006 im Libanon zu stürzen. Nicht aufgrund der Anwesenheit der UNIFIL, sondern aufgrund der Stärke des Widerstandes, auf den es damals gestoßen ist. Bereits im Jahr 2000 musste es sich aus dem letzten Teil des Südlibanon zurückziehen, den es 1982 besetzt hatte. Übrigens wünscht sich niemand eine Intervention Israels in den libanesischen Konflikt, nicht einmal Washington, weil dies seine Verbündeten in große Verlegenheit bringen würde. Auch die Regierungsmehrheit will die Intervention Israels nicht. Deshalb sind das, was die Israelis meines Erachtens prüfen, um sich für die Niederlage von 2006 zu rächen, gezielte Angriffe. Die Ermordung des Militärchefs der Hisbollah, Mughniyeh, wurde von der Hisbollah als Signal betrachtet.“

Und die Rolle Syriens?

„Syrien fürchtet, dass sich der libanesische Konfessionskrieg auf sein eigenes Territorium ausdehnt. Im Nordlibanon ist es bereits zu Zusammenstößen zwischen der libanesischen alewitischen Minderheit und Sunniten gekommen. Das ist ein Risikofaktor für das syrische Regime, weil es selbst von den Alewiten beherrscht wird, die in Syrien eine Minderheit bilden, wo die Mehrheit sunnitisch ist. Vorläufig hat das Regime alles unter Kontrolle. Es genügt jedoch die vielen Kommentare in der israelischen Presse zu lesen, die sagen: Wir sind – genau wie Washington – nicht in der Lage das Hisbollah-Problem anzugehen und zu lösen. Also ist die einzige Lösung mit Damaskus zu sprechen. Syrien ist sich seiner Rolle bewusst und verlangt: a) dass die Drohungen aufhören, die vor allem aufgrund des Internationalen Tribunals wegen der Ermordung Rafiq Hariris auf ihm lasten und b) eine Änderung der Einstellung ihm gegenüber sowie die Anerkennung seiner Schutzmachtrolle im Libanon.“




Vorbemerkung + Übersetzung: * Rosso

Der Name * Rosso steht für ein Mitglied des Gewerkschaftsforums Hannover und der ehemaligen Antifa-AG der Uni Hannover, die sich nach mehr als 17jähriger Arbeit Ende Oktober 2006 aufgelöst hat (siehe:  http://www.freewebtown.com/antifauni/ Rubrik „Aktuelles“ bzw. die regelmäßig erneuerten Artikel, Übersetzungen und Interviews dort).
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Niederlage Israels — Moshe Dayan

danke! — tagmata

@ Moshe Dayan — tutnichtszursache