Terrorismus-Ermittlungen gegen Aktivist_innen

solidarité_sans_frontières 09.06.2008 11:18 Themen: Repression Soziale Kämpfe
In Frankreich wurden im Januar mehrere Aktivist_innen, die sich an den sozialen Kämpfen der Menschen ohne Papiere, gegen Abschiebeknäste und Jugendgefängnisse beteiligen, bei Straßenkontrollen bei Paris und Vierzon festgenommen und als "anarcho-autonome terroristische Vereinigung" in verlängerter Untersuchungshaft festgehalten (siehe  http://de.indymedia.org/2008/06/219070.shtml ). Drei von ihnen sind in der letzten Woche aus der Haft entlassen und unter richterliche Aufsicht gestellt worden (siehe  http://de.indymedia.org/2008/06/219529.shtml ). Die Ermittlungen gegen sie wegen des angeblich geplanten Versuchs, brandstiftende oder explosive Geräte herzustellen, dauern an. Eine vierte Aktivistin bleibt weiter in Haft.
Im Zuge der derzeitigen Solidaritätswoche ohne Grenzen, zu der von französischen Aktivistinnen aufgerufen wurde, veröffentlichen wir hier einen Brief von dieser in Haft verbleibenden Aktivistin und einem mittlerweile Freigelassenen.
Neuigkeiten von den beiden aus Vierzon: ein Brief von Isa* und Farid* aus den Gefängnissen von Lille-Séquedin und Meaux, Mai 2008

Zu Beginn ging alles sehr schnell. Wir waren zu zweit im Auto als wir vom Zoll in Vierzon kontrolliert wurden. Bei einer Durchsuchung wurden in einer Tasche Anleitungen zur Sabotage und zur Herstellung von explosiven Stoffen, ein Plan von einem neuen Jugendgefängnis, der auch im Internet zu haben ist, und eine kleine Menge von Natronchlorat gefunden. Die Zusammenstellung der Dinge trägt sicher erheblich zu ihrem subversiven Gehalt bei... vor allem, weil Farid* der Polizei wegen seinem politischen Engegement gegen Gefängnisse und in den Kämpfen der Menschen ohne Papiere und ohne Wohnraum bekannt war. Isa* hingegen war der Polizei eine Unbekannte.

Die Ermittlungen wurden sofort von der Antiterrorismus-Abteilung in Paris übernommen. Mehrere Hausdurchsuchungen haben nichts ergeben, außer dass mehrere Knallkörper, Flyer und politische Veröffentlichungen beschlagnahmt wurden, die angeblich die Idee eines terroristischen Projekts nachweisen sollen. Solche Kurzschlüsse können wir nur zurückweisen.

Wie kann jemand wegen einer Sache angeklagt werden, die er nicht getan hat und die nicht getan wurde? Auf Verdacht hin und auf der Grundlage von Dokumenten, die an sich nichts beweisen? Es ist einzig die politische Dimension, die hier als Bedrohung gewertet wird. Heißt das, dass jede Revolte ein Verbrechen ist, das sich jede_r Demonstrant_in, jeder freie und engagierte Mensch schuldig macht?

Unsere Ingewahrsamnahme wurde auf 96 Stunden verlängert und nach 72 Stunden konnten wir erst mit unserem Anwalt sprechen. DNA-Proben wurden gegen unseren Willen genommen und Isas* DNA soll im letzten Frühling auf einem "brandstiftenden Gerät" vor dem Polizeipräsidium des 18.Arrondissements in Paris gefunden worden sein. Bis jetzt hatten die Ermittlungen nichts ergeben. Isa* weist jede Verbindung zu diesem Fall zurück. So ist die DNA-Entnahme ein sehr umstrittenes Mittel: im Zuge solcher und ähnlicher Ermittlungen dient sie immer zur Anklage von Personen, die verdächtigt werden, und die Pseudo-Objektivität der Wissenschaftlichkeit soll jegliche Infragestellung dieses Vorgehens verhindern.

Wir gehören beide keiner politischen Gruppe an, sondern sind welche von denen, die ihr sicherlich schon auf Demonstrationen, Kundgebungen, öffentlichen Treffen, Solikonzerten, Filmvorführungen, Diskussionsbeiträgen... getroffen habt: Teil der sozialen Kämpfe und verbunden in einer kollektiven Bewegung.

Vielleicht habt ihr in der Presse von den "Anarcho-Autonomen" gelesen. Sobald sich die Unzufriedenheit und die Wut mit mehr und mehr Überzeugung auf die Straße getragen wird, verlautbart der Staat, dass es radikale, extremistische oder von Gewalt verblendete und faszinierte Gruppen sind, die den Ton angeben und manipulieren. Diese Konstruktion hat ein Ziel: sie zeigt, dass man sich in acht nehmen muss, sie zeigt die Grenze an, die nicht überschritten werden darf, die bedrohliche Illegalität, Repression, Kriminalisation... Insgesamt handelt es sich um eine Strategie, die die zum Schweigen bringen soll, die sich für ihre Ideen einsetzen, die gegen Unterdrückung und für Freiheit kämpfen... Wir wurden in diese Kategorie einsortiert, ohne dass wir sie uns ausgesucht hätten... Es handelt sich um einen unscharfen Begriff, hinter dem sich angeblich organisierte terroristische Gruppen verbergen, die "durch Einschüchterung und Terror" Schaden zufügen wollen. So sind wir zu einer furchtbaren Bedrohung für den Staat geworden... damit das glaubwürdig ist, wird die nächstbeste zur Terroristin gemacht, und zwar mit allen Mitteln der Rhetorik.

So wurden wir im Gefängnis unter besonderen Bedingungen in der Kategorie "besonders bewachter Gefangener" oder "Risiko-Gefangener" (letztere Kategorie ist nur in der Haftanstalt von Fleury-Mérogis geläufig) inhaftiert. Wir können sagen, dass uns so die Tragweite und die Folgen der Paranoia von Seite der Macht erst deutlich wurden. Wir sind einer intensivierten Überwachung ausgesetzt. Ohne dass wir verurteilt wurden, sehen wir uns einer politisch motivierten Verbissenheit gegenüber, die eine Motivation hat: durch uns soll die Existenz eines ultra gefährlichen terrorostischen Netzwerkes gezeigt werden. Ist diese Zuschreibung erstmal erfolgt, sind alle Vereinfachungen erlaubt, alles muss aus dieser Perspektive interpretiert werden, alle Elemente müssen so gelesen werden, dass sie diese Konstruktion stützen. Das ist besonders beunruhigend und irre. In den vier Monaten der Untersuchungshaft haben wir zu spüren bekommen, wie der Staat auf diejenigen, die sich nicht ruhig halten wollen, mit zerstörerischer Rache und Bestrafung reagiert; wie er seine Autorität zum Beispiel durch ständige und willkürliche Verlegung in andere, weit entfernte Haftanstalten spielen lässt und so eine wirkliche Verteidigung sehr erschwert. Vor kurzem haben wir erfahren, dass die Ermittlungen in unserem Fall mit denen von "Créteil" (die Anklage gegen Ivan und Bruno) zusammengelegt wurden: die Ermittlungen gegen die "Anarcho-Autonomen"...

Wir wollen nicht Spielball der Machtinteressen von politischen und repressiven Institutionen sein: lasst uns gemeinsam verhindern, dass der Staat uns die Orte der Auseinandersetzung nimmt!

Isa* und Farid*, aus den Gefängnissen von Lille-Séquedin und Meaux, Mai 2008

* Namen geändert
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